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Meister und Mission

| Roman Scheiber |

Das Bildrausch Filmfest Basel feiert das Autorenkino und ist definitiv eine Reise wert.

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Samstag, 1. Juni, auf der lauschigen Piazza vor dem Stadtkino Basel. Während die schwachmotorisierten Skulpturen im Tinguely-Brunnen auf dem Theaterplatz unbeirrt ihrer Wasserspielverpflichtung nachkommen, prasselt plötzlich ein Sperrfeuerwerk vom nahe gelegenen Barfüsserplatz über die Stadt. Bengalische Feuer tauchen den kühlen Abend in rötlichen
Nebel. Was hier gefeiert wird, wissen viele Gäste und Besucher des Bildrausch-Festivals nicht, aber sie ahnen: Der explodierende Himmel gilt weder dem jungen Autorenfilmfest, noch den Siegern des Basler Filmpreises, die gerade nebenan im Schauspielhaus im Rahmen der Zoom Filmnacht gekürt wurden. Zum vierten Mal in Folge ist der FC Basel Schweizer Fußballmeister geworden – das Bildrausch Filmfest Basel hingegen erlebt gerade erst seine dritte Auflage.

Der doppelte Bildrausch-Ring

Am nächsten Tag ist das Party-Schlachtfeld in der Innenstadt geräumt, das Wetter endlich wieder einmal freundlich und die Rheinpromenade von sonnengierigen Menschen übervölkert. Abends steht dann eine Feier der leiseren Freude an. Vor dem Stadtkino bekommt der 29-jährige kasachische Filmemacher Emir Baigazin von Festivaldirektorin Nicole Reinhard einen maßgefertigten „Bildrausch-Ring der Filmkunst“ angesteckt – als Auszeichnung für seinen schon im Wettbewerb der Berlinale viel beachteten Langfilm-Erstling Harmony Lessons, der in eindrücklichem Kontrast aus ästhetisierter Form und brutalem Inhalt die Armuts-Gewalt-Spirale einer vernachlässigten Jugend in einem entlegenen Dorf vorführt. (Für die Kameraarbeit von Aziz Zhambakiyev wurde der Film bereits bei der Berlinale prämiert.) Zur weiteren – gleichwertigen – Gewinnerin des Bildrausch-Rings erklärte die Jury unter dem Vorsitz des griechischen Regisseurs Yannis Economides (Matchbox, Knifer) die Niederländerin Nanouk Leopold. Den mit 3000 Franken dotierten Preis erhielt die extra zur Preisverleihung eingeflogene Autorenfilmerin (Guernsey, Brownian Movement), regelmäßigen Besuchern des Linzer Crossing Europe Festivals wohlbekannt, für ihren neuen Film It‘s All So Quiet: eine subtil komponierte, einfühlsame Studie über Liebe, Einsamkeit und Tod.

Super-Super-8

Lobend von der Jury erwähnt wurde die aus der Ukraine stammende Publizistin und Lehrbeauftragte Lyubov Arkus für ihr Filmdebüt Anton‘s Right Here, das sozial engagierte Porträt eines als autistisch geltenden St. Petersburger Teenagers und seiner krebskranken Mutter. Weitere „dokumentarische“ Beispiele aus dem fast durchgehend sehenswerten Programm: Schauspielerin und Regisseurin Sarah Polleys (Take This Waltz) gewitzte Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte und genetischen Herkunft in Stories We Tell (durch ein Filmwunder war die Super-8-Kamera stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort!) und in Our Nixon die ausgeklügelte, vergnüglich flotte Montage von Interviews, Tonbandaufzeichnungen und Ausschnitten aus 500 Rollen herrlich erhaltenen Super-8-Materials, welche sich der Homemovie-Begeisterung der (später verurteilten) Entourage des Watergate-Präsidenten Richard Nixon, vor allem des damaligen Stabschefs H.R. Haldeman, verdanken. Statt Regisseurin Penny Lane (kein Künstlername!) war der junge Ko-Produzent, Filmpublizist, Experimentalfilmemacher, Hobby-Bierbrauer und Rechtsprofessor Brian Frye aus Kentucky nach Basel gekommen, um das Publikum mit Hintergründen zu dem – Privates und Politik kongenial verklammernden – Kunststück zu entertainen.

Wort und Bild

Auch zwei Österreicher waren im „Cutting Edge“ genannten Wettbewerb vertreten und stellten sich dem Publikum: Gustav Deutsch mit seiner kühnen Annäherung an die Bildwelten Edward Hoppers, Shirley – Visons of Reality (ein Interview mit Deutsch findet sich in ray 04/13), und Peter Schreiner mit seiner aktuellen Arbeit Fata Morgana, die das Sein und die Zeit und das Dasein im Jetzt erforscht. In der Sahara von Libyen, leeren Häusern in der Lausitz und in den Gesichtern von Christian Schmidt (einst „Müller‘s Büroleiter“ bei Niki List) und Giuliana Pachner findet Schreiner sagenhaft meditative Landschaftsbilder, die in klarem Schwarzweiß und sorgsamster Kadrage, im Verein mit spärlichen, philosophisch-psychohygienischen Bestandsaufnahmen aus den Mündern der Darsteller, einen riesigen Assoziationsraum öffnen, der wahlweise zur gedanklichen Abschweifung, Reflexion oder emotionalen Einkehr einlädt. Ein radikal entschleunigtes Werk, ein Innehalten im Bilderrauschen. Im Gegensatz dazu leiden die Hauptfiguren der heiteren Coming-of-Age-Dramödie The Unspeakable Act nachgerade an Sprechdurchfall: Der titelgebende Akt fällt am Ende aus, bis dahin hat die vife 17-jährige New Yorkerin Jackie (Tallie Medel) freilich eine wahre Gefühls-Odyssee hinter sich zu bringen, denn sie liebt ihren noch viferen, älteren Bruder Matthew (Sky Hirschkron) mehr, als man einen Bruder lieben darf. Indie-Regisseur Dan Sallitt wurde schon „Amerikas Antwort auf Eric Rohmer“ genannt – durchaus passend angesichts der Neigung seiner Charaktere, Emotionen im Gespräch zu katalysieren.

Filmreife Serienkunst

Erfreulich aufgeschlossen zeigt Bildrausch sich in Sachen serieller Filmkunst. Dass immer mehr TV-Serien ob ihrer Gediegenheit einen Platz auf der großen Leinwand verdienen, bewies das Festival mit dem französischen Achtteiler Les Revenants, erdacht und inszeniert von Fabrice Gobert (Simon Werner a disparu), mitgeschrieben von dem vielfach ausgezeichneten Schriftsteller und Produzenten Emmanuel Carrère, mitinszeniert vom Schweizer Frédéric Mermoud (Complices). Schon in der genialen Titelsequenz macht die Serie ihre kreative Ambition sichtbar, die sie dann bis zur hochauflösenden Schluss-Pointe durchzuhalten versteht. Ausgangssituation: Die Bewohner einer am Rand eines Stausees gelegenen Kleinstadt in den französischen Alpen sehen sich plötzlich mit der Rückkehr ihrer verlorenen Liebsten aus dem Reich der Toten konfrontiert. Schwankungen des Seewasserpegels, rituelle Frauenmordversuche und aufbrechende Wunden an den Körpern der Wiederauferstandenen und der Lebenden sorgen für Verwirrung; narrative Überlappungen und Flashbacks, eine artifiziell überhöhte Ästhetik auf sinistrer Grundierung und nicht zuletzt der kongeniale Score der schottischen Formation Mogwai tun ein Übriges zum funktionierenden Spannungsaufbau. Les Revenants, im Auftrag von Canal+ entstanden, basiert auf dem Film They Came Back (2004) von Robin Campillo, erinnert mitunter aber eher an David Lynchs Twin Peaks. Anders als beim bevorstehenden Filmfest München, wo in Kooperation mit Sky jeweils nur die Piloten oder die ersten zwei Episoden acht neuer Titel bzw. neuer Seasons gezeigt werden, konnte man Les Revenants bei Bildrausch in zwei Blöcken komplett sehen. Voraussichtlich Anfang August wird das Festival – ebenfalls en bloc – mit Jane Campions nicht minder ansprechender Mystery-Serie Top of the Lake nachwassern (mit Holly Hunter und Mad Men-Hauptdarstellerin Elisabeth Moss in Hauptrollen).

Retro-Energie

Die Organisatoren von Bildrausch lassen also nichts unversucht, der theatersüchtigen Stadt Wege zum Laufbild zu erschließen. Trotz Minimalbudget erweiterte das Team um Nicole Reinhard und Beat Schneider das Festival mit dem kult.kino atelier um eine zweite Spielstätte und realisierte zwei hochkarätige Retrospektiven: Sowohl der legendäre, aus Tiflis stammende Regie-Auteur, Schauspieler und Pädagoge Marlen Chuciev, mittlerweile 87 Jahre alt, als auch der Ende der achtziger Jahre in die USA emigrierte, autodidakte Iraner Amir Naderi (berühmt durch seine autobiografische Suchbewegung The Runner, 1986) bereicherten mit ihren Filmen und durch ihre Anwesenheit das Festival. Wie der stark vom italienischen Neorealismus beeinflusste „russische Antonioni“ Chuciev seine Schauspieler in das lebendige Stadtbild Moskaus der sechziger Jahre integrierte, lohnt allein schon die Betrachtung von July Rain (1967), der Fortsetzung seines – damals als erster Tauwetter-Film des Sowjetkinos verbotenen – Meisterwerks Ilyich‘s Gate (1962) über das Leben und die Sinnsuche junger Moskauer. Naderis „Kino der Exzesse“ wiederum fand in den Auftritten des 66-jährigen Energiebündels seine filmreife Entsprechung: Wie um sich selbst das Wort abzuschneiden, beendete der Film-Enthusiast und Showman seine Exkurse vor dem Publikum stets mit dem Ausruf „Cut“. Zum Dank für das Auffinden der einzig verbliebenen Kopie seines Films The Search (1981), des erschütternden, singulären Dokuments über die Folgen des Massakers von Teheran im September 1978, ließ Naderi es sich denn auch nicht nehmen, Direktorin Reinhard öffentlich abzubusseln.

Festival der Festivals

Dem künstlerisch-innovativen Langfilm in Basel ein Forum zu schaffen, ist die lobenswerte Mission von Bildrausch. Als „Festival der Festivals“ ist es konzipiert, führt dem Basler Publikum Perlen aus dem internationalen Filmcircuit vor Augen und bietet die seltene Gelegenheit zur Begegnung mit deren Urhebern. Neben der bestechenden Programmauswahl punktet das Filmfest mit entspannter Atmosphäre und sympathischem Personal – vom ausgezeichneten „Zmorge“ mit Gipfeli, Weggli, Charcuterie und Gruyère für die geladenen Gäste im Hotel Krafft am Rhein mal ganz abgesehen. Kontinuierliche und ausreichende finanzielle Unterstützung vorausgesetzt, könnte Basel neben den renommierten Festival von Locarno und Nyon, dem rasant wachsenden, weil sich dem Starprinzip ergebenden Zurich Film Festival und den nationalen Solothurner Filmtagen einen Fixplatz auf der Schweizer Festivalkulturlandkarte erobern. Und sollte irgendwann einmal die Monokultur im Schweizer Fußball überwunden sein, böte es sich geradezu an, statt der verheerenden Kicker-Anbetung am Barfüsserplatz ein Feuerwerk der bescheideneren Art über dem Tinguely-Brunnen am Theaterplatz abbrennen zu lassen: als Feier des lustvollen Eigenwillens, der multiperspektivischen Vielstimmigkeit und nicht zuletzt des sozialen Engagements, das der Filmkunst innewohnt. Um mit Thomas Morus, Gustav Mahler oder Gustav Deutsch zu sprechen: Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche.