ray Filmmagazin » Themen » Leben im Ausnahmezustand

Brokeback Mountain – Leben im Ausnahmezustand

Leben im Ausnahmezustand

| Michael Pekler |

Trotz der Verschiedenheit von Zeiten und Schauplätzen erweist in den Amerika-Filmen Ang Lees die Familie als zentrale Kategorie – und als Institution für das Dilemma des Individuums.

Werbung

Sobald sich im Gefolge von 9/11 die Verzweiflung, die Trauer und die Anteilnahme wieder gelegt hatten, tauchten die ersten Fragen nach der Verteilung globaler Machtstrukturen und der zukünftigen Rolle der Vereinigten Staaten in der Welt auf. In der populären Kultur begannen Angst und Wut ineinander zu greifen, und im Kino sollten alsbald dunkle Mächte die Leinwand erobern, diverse von Menschenhand durch die Jahrhunderte errichtete Bollwerke gestürmt werden und wenig überraschend die Erinnerung an einen Film auftauchen, in dem ein Riesenaffe in New Yorkmenschliche – und das heißt hier immer: amerikanische – Phantasien auslebt.

Irgendwann schien man dabei zu bemerken, dass der Feind in Wahrheit nicht dort zu finden war, wo man ihn vermutete. Während sich in Afghanistan US-Einheiten auf Terroristenjagd begaben und sich andere Regisseure an Drehbücher über einen Krieg der Welten machten, entdeckte Ang Lee den wahren Feind einmal mehr woanders: in der eigenen Familie und da-mit der amerikanischen Gesellschaft selbst. Das grüne Monster, das als Hulk (2003) Panzer durch die Wüste schleuderte, Raketensprengköpfe mit den Zähnen abbiss und die neuesten Hubschraubermodelle durcheinander wirbelte, war nicht nur der bislang breitenwirksamste Kommentar des Wahlamerikaners zur jüngsten amerikanischen Kriegsgeschichte, sondern ein Wesen, dem die Vergangenheit mehr zu schaffen machte als die Gegenwart: Das Trauma einer verdrängten Geschichte der 60er Jahre, gespeist aus Kubakrise und Atomangst, bildete hier nur den Hintergrund für eine Familiengeschichte, die von tiefen Rissen zwischen den Generationen erzählte.

Rückkehr in Nichts

„Das Dilemma der ,Fantastischen Vier‘ ist, dass sie wie eine Familie waren. Je mehr Macht sie besaßen, desto mehr Leid konnten sie einander zufügen. Die Botschaft lautet also, dass eine Familie so was wie die Anti-Materie von einem selbst ist;
eine Familie ist das Nichts, aus dem du kommst und der Ort, an den du zurückkehrst, wenn du stirbst.“ Mit diesen Sätzen beginnt Lees The Ice Storm (1997), gesprochen vom 16-jährigen Paul (Tobey Maguire), der mit dem fantastischen Familien-Comic die Nacht in einem Zugabteil auf offener Strecke verbringt. Ein Eissturm hat die Zuggarnitur und symbolisch die Familienverhältnisse im bürgerlichen New Canaan, Connecticut, lahm gelegt. Festgefrorene, erstarrte Fronten zwischen Männern und Frauen,Eltern und Kindern, Fernsehnachrichten und gelebtem Alltag. Man schreibt das Jahr 1973: Nixon versucht gerade sich aus Watergate herauszulügen, während die Eltern längst aufgehört haben sich für Politik zu interessieren und sich stattdessen zu Schlüsselpartys treffen. Die heranwachsenden Sprösslinge machen erste sexuelle Erfahrungen, lesen Dostojewskis Idiotund leben ihr eigenes Leben in einem Paralleluniversum, in das die Eltern keinen Zutritt haben. Jeder lebt hier seine eigene Welt, und womit sich alle am besten auskennen, ist die Einsamkeit. Die Amerikaner in den Filmen Ang Lees sind einsame Amerikaner, egal wann, wo und wie sie leben.

Diese Abschottung nach außen, die Unfähigkeit zu kommunizieren, gibt es in allen Amerika-Filmen Lees und ist nur die logische Folge einer emotionalen (und damit einher gehenden räumlichen) Trennung von der Familie oder zumindest von jenem Verband, der gemeinhin als solche bezeichnet wird. In Hulk glaubt Bruce Banner die längste Zeit, seine Eltern frühzeitig verloren zu haben, die Erinnerungen an sie hat er aus seinem Gedächtnis gelöscht. Auch er kommt aus dem Nichts, und wenn er sich nach dem finalen, körperlichen und gleichzeitig spirituellen Kampf mit dem Vater (Nick Nolte) im Epilog des Films in einem südamerikanischen Dschungel wieder findet, ist er genau dort wieder angelangt. Die Familie inThe Ice Storm erlebt nach dem Unglückstod des Nachbarjungen, der von der Schönheit des Eissturms überwältigt wurde, keine Läuterung, aber auch keine Scheidungstragödie. Wie hingepflanzt steht sie am Ende am Bahnhof, um Paul am nächsten Morgen abzuholen. Sie hat einzig die Erfahrung gemacht, dass die Normalität, in der sie lebt, längst zum unerträglichen Ausnahmezustand geworden ist.

Flucht nach vorne

Dieser politisch, gesellschaftlich und sozial zu definierende Ausnahmezustand ist es, den Ang Lee in all seinen bisherigen Amerika-Filmen beschreibt: quer durch die Schichten und Zeiten des Landes, egal ob in Wyoming 1963 (Brokeback Mountain), San Francisco in den 90er Jahren (Hulk), Neuengland in den frühen 70er Jahren (The Ice Storm) oder an der Grenze zwischen Kansas und Missouri 1862, mitten im amerikanischen Bürgerkrieg (Ride with the Devil, 1999). Lee interessiert sich dabei nicht für Wendepunkte in der Geschichte des Landes, sondern für Wendepunkte in der Geschichte der Menschen vor einem sozialpolitischen Hintergrund und dafür, wie diese Menschen mit den Ausnahmezuständen umgehen. Allekommen sie stets aus dem Nichts, treten die Flucht nach vorne an und können das Glück dort, wo sie es vermuten, nicht finden – so wie den inneren Feind.

Das Bürgerkriegsdrama Ride with the Devil, wie Brokeback Mouintain mit der falschen Etikettierung eines Western behaftet, interessiert sich nicht für die Geburt der amerikanischen Nation, nicht für Schlachten, Gewinner und Verlierer, sondern dafür, welche Auswirkungen der Ausnahmezustand des Krieges auf das Individuum zeitigt. Der junge Jacob (Tobey Maguire in seiner zweiten Zusammenarbeit mit Lee), Sohn deutscher Einwanderer, schließt sich gegen den Willen seines Vaters, der die Union unterstützt, einer Guerilla-Truppe der Südstaatler an: Die Bushwhackers leben in den Wäldern, reiten Attacken gegen kleine Verbände des Feindes und bringen alle ihre Vorurteile und Animositäten, die sie untereinander hegen, in die Truppe. Der gemeinsame Feind, den es hier an der Grenze und zwischen den Nachbarn nicht gibt, funktioniert noch weniger im bunt zusammen gewürfelten Haufen, und es ist eine Illusion zu glauben, dass der Kampf Schulter an Schulter Einheit stiftet. Hier kämpft jeder Mann im Grunde nur für sich selbst (auch der Schwarze, der sich die längste Zeit selbst zu überreden versucht, ein dankbarer Diener seines Herrn zu sein). Und nicht umsonst interessiert sich Lee für den„schmutzigen Guerilla-Krieg (und noch mehr für die längeren Pausen und Zeiten zwischen den Kämpfen), weil auch er innerhalb eines militärischen Kodex die Ausnahme darstellt und Angst und Wut potenziert. Bei Ang Lee geht es deshalb immer auch um Grenzerfahrungen, die sich räumlich manifestieren (das Innen / das Außen), aber auch um Erfahrungen der eigenen Grenze: Wie lange kann man das, wogegen man in sich selbst kämpft, unterdrücken? Wie lange dauert es, bis man zum Mörder in einer irregulären Truppe wird? Bis man grün vor Wut wird oder das Begehren nicht mehr unterdrücken kann? Die Versuche von außen, diesen Kampf im Zaum zu halten, scheitern jedenfalls gnadenlos (eines der schönsten Bilder in Hulk ist der Moment, in dem Bruce Banner in einer überdimensionalen, sargähnlichen Kiste in die Wüste geflogen wird, um „lebendig begraben“ zu werden). Und der innere Kampf kann nur dann gewonnen werden, wenn man diesen als solchen akzeptiert: „Was mir am meisten Angst macht, ist, dass es mir gefällt“, meint Banner vor seiner Verwandlung zum wütenden Ungetüm.

Das Nichts, aus dem Ennis und Jack in Brokeback Mountain kommen, wird bestimmt von gesellschaftlichen Normen und aufgefüllt mit Sehnsüchten und Vorstellungen. Die Momente des Glücks können – denn das ist dem Glück immanent – jedoch nur von kurzer Dauer sein. Und sie bleiben, was sie von Anfang an sind: eine Ausnahme.