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Phil Jutzi – Jedes Bild ein Argument

Jedes Bild ein Argument

| Thomas Tode |

Das Filmarchiv Austria würdigt die kommunistische Berliner Filmfirma Prometheus und mit Phil Jutzi einen Pionier des sozialen Dokumentarfilms.

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Phil Jutzi, 1896 in der Pfalz geboren, zunächst Kinoplakatmaler und dann Kameramann, arbeitet seit 1926 bei Prometheus. Er fertigt die deutschen Versionen von Sowjetfilmimporten, das heißt, er ist für deutsche Zwischentitel und gegebenenfalls für Kürzungen in Rücksichtnahme auf die Zensur zuständig. In der von Jutzi gefertigten Version lernt die Welt z. B.Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1925) kennen, denn die sowjetische Produktionsfirma schafft das originale Kameranegativ nach Berlin und lässt es dort in der von der deutschen Zensur genehmigten „Jutzi-Fassung“ nachschneiden. Für die Prometheus dreht Jutzi gelegentlich auch kleine Kulturfilme, die die Firma braucht, um die lukrativen Sowjetfilme einführen zu dürfen. Nach der Kontingentverordnung der Reichsregierung dürfen ausländische Filme nur von Firmen eingeführt werden, die auch in Deutschland Filme produzieren, und zwar im Verhältnis 1 zu 1. So dreht Jutzi einige unbedeutende Arbeiten, an denen er aber sein Handwerk erlernt:Kladd und Datsch, die Pechvögel (1926), Die Machnower Schleuse(1926/27), Kindertragödie (1927), Fröhliche Pfalz (1928) und Weltstadt im Grünen (F 1928). Bald schon wird er auch mit politischen Sujets beauftragt, und mit diesen Werken wird er zu einem der Pioniere des sozialen Dokumentarfilms in Deutschland.

Die Rote Front marschiert (1927), sein Film über das dritte Reichstreffen des paramilitärischen kommunistischen Frontkämpferbundes, stellt das Ereignis chronologisch dar, allerdings mit 144 (!)

Zwischentiteln ausführlich kommentiert. „Der Film fängt sehr hoffnungsvoll an, mit Granattrichtern, Minenexplosionen, Gevatter Tod im Stahlhelm, interessantem statistischen Material, aber er wird sehr bald das, was der Titel verspricht: Der Fontkämpferbund marschiert. Er marschiert und marschiert.“ 1

Daneben bringt er auch zwei kurze, verstiegen humorige Inszenierungen über Quartiersuche und ängstliche Großbürger. Nur selten gibt es Blicke auf den Rand der Kundgebung, wie etwa die Ausgabe von Erfrischungsgetränken oder das abendliche Volksfest mit tanzenden Arbeiterpärchen und akrobatischen Bühnendarbietungen. Die klassischen operativen Filme der KPD halten eine scharfe Trennung zwischen Politischem und Privatem aufrecht.

Auf Intervention des Auswärtigen Amts werden alle Bilder verboten, die geschlossene Formationen des Frontkämpferbundes in militärischer Aufmachung zeigen, so dass der Film von 1.719 auf 1.017 Meter schrumpft. Man befürchtet Reaktionen der Weltkriegsalliierten, die staatlich sanktionierte Bilder von Aufmärschen einer paramilitärischen Organisation als Verstoß gegen die Abrüstungsvereinbarungen ansehen könnten. Verboten wird auch eine längere Passage, die sich mit dem national-konservativen Wehrverband des „Stahlhelms“ auseinandersetzt.2 Sie stammt aus der kurz zuvor anstandslos genehmigten Produktion Der Stahlhelm in Berlin (1927) und zeigt, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wurde. Dass die Prüfstelle auch späterhin auf dem rechten Auge weniger scharf hinsah als auf dem linken, bezeugt auch die Lizenzierung militärischer Aufmärsche in Der Stahlhelm am Rhein (Zensur: 18. 12. 1930) und in dem NS-Film Kampf um Berlin (Zensur: 27. 3. 1929). Letzterer konnte ein Jahr lang ungestört ausgewertet werden; erst nach Ausschreitungen in einem Kino mussten die uniformierten Formationen entfernt werden.

Der Mensch als Knecht der Technik

Um‘s tägliche Brot (Hunger in Waldenburg, 1929) von Phil Jutzi (Regie) und Leo Lania (Buch, Gesamtleitung) schildert die unwürdigen Arbeits- und Wohnbedingungen im schlesischen Kohlerevier in Waldenburg – unendlich traurige Bilder des Elends: Großfamilien schlafen in einem einzigen Raum, Kinder aus Möbelmangel in Margarinekisten, katastrophale Gesundheitsverhältnisse, und dazu permanenter Hunger: Neun Zehntel der Bevölkerung leiden an Unterernährung. Solche statistischen Informationen werden als Schriftzug in die Bilder einkopiert und die lange Tradition als Hungergebiet mit urkundlichen Dokumenten belegt. Bereits der Anfangstitel des Filmberichts betont die Selbstverpflichtung zur Sachlichkeit: „Er gibt die Wirklichkeit und nichts anderes. Er verschweigt nichts, setzt nichts hinzu.“ Hier wird die Schule von Erwin Piscator deutlich, bei dem Lania als Dramaturg wirkte. Der beklagenswerten Wohnsituation werden bigotte Sprüche auf Wandbehängen gegenübergestellt, den maroden Mietskasernen das weitläufige Schloss der Fürsten von Pleß. Dann fährt die Kamera mit den Kumpels in den Schacht ein: neunstündige, härteste, schlecht bezahlte Zechenarbeit. Man hat treffend bemerkt, dass der Mensch „hier nicht wie in den sogenannten ‚Russenfilmen‘, als Beherrscher der Technik dargestellt [ist]. Er ist der Knecht im Dunkel, dem die Maschine über Tage im lichten Gebäude ihren Rhythmus aufzwingt.“3 Die Technikkritik entspricht der aus Lanias Kurzfilm Im Schatten der Maschine (1928), aus dem auch die unter Tage gefilmten Zechenbilder entnommen wurden, die aber letztlich aus Dziga Vertovs Odinnadzaty (Das Elfte Jahr, 1928) stammen.

Nach der nüchtern dokumentarischen Bestandsaufnahme im ersten Drittel des Films folgt eine Spielhandlung, die an realen Schauplätzen in Waldenburg mit Laiendarstellern (der Protagonist ausgenommen) gedreht wurde: Ein hungernder Obdach- und Arbeitsloser findet bei einer Witwe mit drei Kindern Aufnahme, nähert sich ihr an und stürzt, als er sie bei einem Handgemenge mit dem Miete eintreibenden Hausbesitzer verteidigt, zu Tode. Die leicht sentimentale Fabel des Films erntet den Spott rigoroser Kommunisten wie Willi Bredel: „Er hat keine Handlung, sondern eine jämmerliche, dazu absurde Darstellung einiger proletarischer Waschlappen. […] Leo Lania und die maßgebenden Leiter im Volksfilmverband haben nichts vom Russenfilm gelernt. Bei ihnen ist Jammer und Klagen und Wehgeheul – und kein Ausweg, so als gäbe es keinen.“4 Die Kritiker werfen dem linksbürgerlichen Autor Lania vor allem vor, dass er den entwurzelten Protagonisten nicht durch das organisierte Proletariat auffangen lässt.

Allerdings wollten Lania und Jutzi gar nicht die kraftvolle, mitreißende Dynamik der Russenfilme erzeugen, getreu ihrer Überzeugung, dass „die Tendenz nicht zu dick aufgetragen sein“5 darf. Es ging ihnen um Anklage und Protest – und mithin auch um konkrete Hilfe, denn die Einnahmen des Films wurden teilweise den Waldenburger Arbeitern zugeleitet. Für eine echte Tragödie fehlt der Spielhandlung aber die dramaturgische Versiertheit, und so bleibt der reportagehafte, mit Statistiken argumentierende Dokumentarteil die weitaus interessantere Passage. Hier beginnt deutlich eine neue Richtung im dokumentarischen Verfahren: Ein Bild ist ein Argument.

Operativer Medieneinsatz

Diese Richtung nimmt auch Jutzis 1. Mai – Weltfeiertag der Arbeiterklasse(1929), der mit gleicher Filmlänge im Verleihkatalog von Weltfilm unter dem Titel Blutmai 1929 geführt wird, einen damaligen Zeitungsslogan aufgreifend. Zunächst wird mit Archivbildern kurz an die Tradition der Mai-Kundgebungen erinnert und dann die weitgehend friedlichen Mai-Aufmärsche des Jahres aus Leipzig, Hamburg und München gezeigt. Das Zentrum des Films besteht aus einen brutalen Polizeieinsatz in Berlin, der das dort erlassene Demonstrationsverbot zum 1. Mai durchsetzt. Motorisierte Einsatzkommandos und berittene Polizei treiben die Demonstranten vor der KPD-Zentrale am Bülow- (heute: Rosa-Luxemburg-) Platz auseinander. Nahaufnahmen zeigen den Einsatz von Gummiknüppeln und die Jagd auf einzelne Demonstranten. In tumultartigen Szenen sehen wir immer wieder flüchtende Demonstranten, schließlich Verhaftungen und von Arbeitern errichtete Barrikaden. Der dritte Teil zeigt die Lage am 2. Mai: Die bürgerliche Presse empört sich über die 19 toten Demonstranten, deren Zahl noch auf 31 steigt. Pressefotografien zeigen Schützenpanzer und Schupos mit Gewehren, die Filmkamera schwenkt an Häuserfassaden mit Einschüssen entlang. Im Barrikadenviertel patrouilliert überall Polizei und nimmt Ausweiskontrollen vor. Die Reportage schließt mit dem feierlichen Begräbnis der Toten und einer flammenden Rede von Ernst Thälmann.

Mit der großangelegten Trauerkundgebung wird ein – für das Medium Film geeignetes – dramaturgisches Modell vorgestellt, die faktische Niederlage in einen politischen Sieg umzumünzen. Bemerkenswert ist, dass eine ganze Schar kommunistischer (Amateur-) Kameramänner auf die Tumulte vorbereitet war und die Ereignisse aus zahlreichen Blickwinkeln, vor allem von den Dächern aus, mit Handkameras gefilmt hat. Die Artikel der Printmedien und die Anschaulichkeit des Films führen zur Gründung eines überparteilichen Untersuchungsausschusses. Blutmai 1929 kann daher als eines der gelungensten Beispiele für operativen, der Bewegung nützlichen Medieneinsatz gelten. Interessanterweise wird der Film auch im Zuge einer späteren Gerichtsverhandlung vorgeführt, offenbar als Zeugnis, das den Charakter eines Dokuments besitzt: „Jedes Bild ist eine erschütternde Anklage.“6 Da die Polizei von dem Sozialdemokraten Zörgiebel geleitetet wurde, veranschaulichte der Film für viele Kommunisten die Bereitschaft der SPD zu Bündnissen gegen die Arbeiterschaft und vertiefte die Spaltung der Arbeiterparteien. Die spektakulären Aufnahmen werden in der Folgezeit immer wieder zitiert, so in einer Sonderausgabe der sowjetischen Wochenschau Sojuskinojournal Nr. 33 mit dem Titel Perwoje maja w Berline(SU 1929), in Wladimir Jerofejews kritischem Deutschlandportät K stschastliwoi gawani (Zum glücklichen Hafen, SU 1930) und in Ivor Montagu’s Free Thaelmann (GB 1935). Aber auch in nationalsozialistischen Filmen erscheinen sie, und zwar als Zeichen für die Instabilität der Weimarer Republik, so in Johannes Häußlers Blutendes Deutschland(1932/33) und Hans Weidemanns und Carl Junghans’ Jahre der Entscheidung (1937–39).

Jutzi realisiert 1930 noch ein drittes Beispiel eines sozialkritischen Dokumentarfilms: Die Todeszeche. Im schlesischen Neurode, nicht weit von Waldenburg, hatte ein Kohlesäuregasausbruch am 9. Juli 1930 102 Bergarbeiter getötet. Jutzi zeigt zunächst die harte Grubenarbeit unter Tage und simuliert vor der Kamera mit herabfallender Erde einen Grubeneinsturz. In den Zwischentiteln tritt eine technikfeindliche Tendenz hervor: „Maschinen … machen Tausende brotlos und tragen zur Vermehrung der Arbeitsunfälle bei.“ Der gefahrvolle Einsatz von schnell arbeitenden Schrämmmaschinen hatte zum Unglück geführt.7 Nun wird (quasi beispielhaft) die Katastrophe von Neurode kurz rekonstruiert und in aller Ausführlichkeit die feierliche Beisetzung und Anteilnahme der Bevölkerung gezeigt. Die trauernden Gesichter werden zur Anklage gegen fahrlässige Arbeitsbedingungen. Bereits zehn Tage nach dem Ereignis liegt der Film fertig vor.

Eine simple Vorstellung von Realismus

Eine gelungene Einarbeitung dokumentarischer Bilder wird auch Jutzis Spielfilm Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929) bescheinigt. Die Handlung rankt sich um die Enge der Mietskasernen und die daraus sich ergebenden sozialen Folgen. Die Einleitungssequenz zeigt in dokumentarischen Aufnahmen Berliner Hinterhoftristesse im Arbeiterbezirk Wedding: Kinder leben im Schatten von Brandmauern und Häuserschluchten, ein verbrauchtes Arbeitspferd bricht auf der Straße zusammen, und alte Menschen fristen auf Parkbänken ihr Leben. Im verwahrlosten Niemandsland der Industrieflächen spielen Kinder, und auf einem Schuttabladplatz liegen lallende Betrunkene herum. Mit Bildern eines Berliner Leierkastenmanns gleitet die Kamera in den Hinterhof zurück, wo nun mit einer Fahrt auf ein Fenster die Spielhandlung beginnt. Ein weiteres dokumentarisches Einsprengsel zeigt eine wunderbar beobachtete Gruppe von Teerarbeitern, die den schwarz triefenden, dampfenden Belag aufbringen und manuell feststampfen.

Jutzi drehte Mutter Krausens Fahrt ins Glück an Originalschauplätzen (ausgenommen die Proletarierstube) und setzte neben wenigen Berufsschauspielern vor allem Laiendarsteller ein: „So wurde auch die im Film gezeigte Demonstration von über 1.000 Mitgliedern des damals verbotenen Roten Frontkämpfer-Bundes dargestellt. Und wie artig hatte die ZörgiebelPolizei dabei die Absperrungsdienste geleistet, als in der neuen Hochstraße die Aufnahmen der Demonstration gedreht wurden!“8 Ein proletarisches Gartenfest wird im Filmatelier inszeniert, die Komparserie besteht aber aus wirklichen Berliner Erwerbslosen. Polit-, Sozial- und Filmarbeit vermischen sich hier und lassen Demonstrations- und Festszenen entstehen, die sich nur wenig von dokumentarisch eingefangenen Alltagsszenen unterscheiden.

Mutter Krausens Fahrt ins Glück gilt als der einzige kommerzielle Erfolg unter den Eigenproduktionen der Prometheus. Ein Schlüssel dafür ist vielleicht auch, dass er – im Gegensatz zu den Dokumentationen der Parteitage und anderer Aufmärsche – Szenen der proletarischen Freizeit zeigt: Kirmes mit Karussell, Baden im Freibad, Picknick am Sonntag, Kneipenleben, Hochzeit, Gartenfest, Pfandleihe und Zeitungsfiliale. Der dramaturgische Höhepunkt ist natürlich dann doch eine Arbeiterdemonstration, in die sich die bislang unpolitische Protagonistin einreiht und ihr Bewusstseinswandel am Wechsel ihres Schrittes demonstriert wird: „vom unsicherem Stolpern, langsam ‚Schritt fassend‘, zum Gleichschritt der marschierenden Demonstranten“9. Durch die sparsame Dosierung wirkt die Parteipolitik aber nicht aufdringlich. Das Sujet wird mittels der dokumentarischen Aufnahmen offenbar überzeugend in der Lebenswirklichkeit des Arbeiterpublikums verankert: „Das kennen wir. Das ist der Wedding, und durch jene Straße gehen wir Tag für Tag, und der Hinterhof dort ist unser Hinterhof, nur daß der Müllkasten weiter links steht und der Toreingang, etwas breiter ist! Wie vertraut wird das Kino…“10

In Abgrenzung zur Traumfabrik Kino mit ihren (für die Arbeiter) fernen Lebenswirklichkeiten, besteht die Leistung des Jutzi-Films erst einmal darin, Vertrautheit, Zugehörigkeit und Verbundenheit herzustellen. Doch die Bemerkung, dass sich das Gefilmte auf der Straße wiedererkennen lässt, verrät eine sehr simple Vorstellung von Realismus, die weit entfernt ist von Brechts zeitgleichem, komplexerem Diktum, dass „weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ‚etwas aufzubauen‘, etwas ‚Künstliches‘, ‚Gestelltes‘.“11 Brecht, der der Fetischisierung des dokumentarischen Aufnahmeverfahrens misstraute und Authentizität durch ausgiebige Montage höchst unterschiedlicher Module und Einschübe erreichen will, fällt aus dem naiven Realismus-Verständnis der Zeit deutlich heraus. Phil Jutzi hatte bereits im Frühjahr 1931 mit der Prometheus gebrochen, als man sein Filmprojekt Aufstand der Fischer nach Anna Seghers’ Roman an Erwin Piscator übergab.12 Er kann 1931 noch zwei bemerkenswerte Spielfilme mit sozialer Thematik für bürgerliche Firmen drehen, Dreigroschenoperfilm und Berlin Alexanderplatz, und tritt im März 1933 in die NSDAP ein. Seine filmische Karriere jedoch versandet zusehends, da er nicht wirklich „linientreu“ ist. 1940 erkrankt er, kann kaum noch arbeiten. 1946 stirbt Phil Jutzi, nur 50-jährig, verarmt in seiner pfälzischen Heimat.