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Harun Farocki

Dekonstruktion Essay Archiv

| Jörg Becker |

Eine Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum widmet sich den Arbeiten des Film- und Videoessayisten Harun Farocki.

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Vierzig Jahre ist Harun Farocki als Filmemacher und Autor tätig, und die numerische Aufzählung seiner Filmografie nähert sich der Dreistelligkeit. Farocki gilt mittlerweile als „der bekannteste der wichtigen Filmemacher Deutschlands“ (Thomas Elsaesser), dessen Werk seit Anfang der 90er Jahre zunehmend in internationalen Retrospektiven und Kunstausstellungen gezeigt wird. Im Februar präsentierten die Berliner Kunst-Werke (Institute for Contempary Art) anlässlich der Berlinale seine Installation „Zur Bauweise des Films bei Griffith“, in der Farocki am Beispiel einer Sequenz aus Intolerance (1916) die Erfindung einer Ausdrucksform untersucht.

„Was ist ein Bild?“ –  lautet eine immer wiederkehrende Frage im Werk Harun Farockis, das auf moderne Visualisierungsformen weist und den technischen Dienst digitaler Bildaufzeichnung zu Zwecken der Bildverarbeitung etwa in der Informations- und Waffentechnologie untersucht. Damit geht es auch um berechnete Bildern, die sich „von selbst“ machen, die weder einen Betrachter brauchen noch zur Anschauung einladen. Es geht um Funktionen der Mustererkennung, die Nutzung der Biometrie und die Zielsteuerung von „Präzisionswaffen“. Der Autor und Filmemacher bezieht die moderne „Muzak“-Produktion von funktionalen Bildern mit ein,  beobachtet die Die Schöpfer der Einkaufswelten (2001) in ihrem Bemühen um strategischer Optimierung der Warenpräsentation, die Einübungen in Talk- und Game-Shows (Worte und Spiele, 2000), die das Leben des Alltagsmenschen als Rohstoff ihres zeitvernichtenden Entertainments verarbeitet. Farocki verfolgt die Akribie von Werbefotografen bei Gelegenheit ihrer Produkt-Arrangements und assoziiert dies mit einem kunsthistorischen Hintergrund, den Gemälden unbelebter Dinge, die in ihrer Abbildung zur Gänze deren Eigenschaften verkörpern sollen: Stilleben, Farockis Film für die Kasseler documenta X (1997).

Kurzfilme und Lehrstücke

Harun Farocki filmt seit 1966. Er war mit Holger Meins, der sich als RAF-Häftling zu Tode hungerte, und Wolfgang Petersen, der heute in Hollywood Filme dreht, im selben Gründungsjahrgang der Westberliner Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb), die zeitweilig von den Studenten „Dziga-Vertov-Akademie“ benannt worden war. Worte des Vorsitzenden (1967) und Ihre Zeitungen (1968) liefen auf Teach-ins im Audimax der Freien Universität Berlin, provozierten heftige Reaktionen und eigneten sich die revolutionäre Semiotik der „Chinoiserien“, die über den Godard-Kult ins Kino kamen, an. Die Kurzfilme nutzen Filmgenres für die Agitation, funktionieren als Nummerndramaturgien mit Witzen und Sketchen. 1968 wurde Farocki neben 17 weiteren Kommilitonen wegen „rebellischer Umtriebe“ von dieser Filmakademie relegiert. Ein Jahr darauf entstand Nicht löschbares Feuer (1969), als rigoroses Lehrstück von Straubscher Kargheit, ein filmischer Beitrag zum Vietnam-Protest und seiner Konsequenzen im eigenen Land, der einen politökonomischen Regelkreis beschreibt, beginnend mit den Worten: „Wenn wir Ihnen Bilder von Napalmverletzungen zeigen, werden Sie die Augen schließen. Sie werden die Augen vor den Bildern verschließen, dann werden Sie ihre Augen vor der Erinnerung verschließen, dann werden Sie Ihre Augen vor den Tatsachen verschließen.“ Farocki verzichtet auf jeden Appell an die Emotion. Sein Ausgangspunkt lautet: „Wenn Napalm brennt, ist es zu spät zum Löschen. Man muss das Napalm dort bekämpfen, wo Napalm hergestellt wird: in den Betrieben.“ Etwas wird sichtbar (1982), Farockis Vietnam-Essay, setzt das Thema fort und nimmt es in die Biografie hinein, er handelt vom Krieg und seiner Darstellbarkeit, hier und anderswo (vgl. Jean-Luc Godards Ici et ailleurs), vom Bild und dem Studium des Krieges, reflektiert in der Beziehung eines Paares.

Der zeitweilig als maoistischer Dadaist und Situationist apostrophiert wurde, hielt sich immer jenseits der Ressortschubladen Dokumentar- und Spielfilm auf. Die Vielfalt der Arbeiten Farockis lässt kaum eine andere sein Gesamtwerk erfassende Bezeichnung als den „Essay“ zu, wenn er etwa mit Vilém Flusser ein Gespräch über die Schlagzeilen der Bild-Zeitung führt, die Karriere des Schauspielers Peter Lorre rekonstruiert (Das doppelte Gesicht, 1984), eine Playboy-Fotosession für das Centerfold-Playmate verfolgt (Ein Bild, 1983), ob er zusammen mit Andrei Ujica die medialen Dokumente der rumänischen Revolution von 1989 erforscht (Videogramme einer Revolution, 1992), ein Modell des Endverbraucher-Alltags aus Werbespots komponiert (Ein Tag im Leben des Endverbrauchers, 1993) oder der Selbstpräsentation von Werbeagenturen beim Verkauf einer Kampagne zusieht (Der Auftritt, 1996). Seit Die Schulung (1987), in dem Manager in Rollenspielen auf faszinierend echte Weise sich Arbeiterpositionen zu eigen machen, gibt es jene Filme Farockis, die nicht in die Bilder sprechen oder etwas einschreiben, sondern ohne Off-Kommentar bleiben – zuletzt Nicht ohne Risiko (2004), wo die Entscheidungsfindung über die Vergabe von Venture Capital verfolgt wird.  Das Filmteam habe versucht, so der Autor einmal (über Die Schulung), sich „wie Kellner zu verhalten, in deren Gegenwart die Herrschaften ungeniert weiter sprechen können“. Der Service-Sektor nimmt zu, und der Begriff der „Authentizität“ ist neu zu fassen.

Projektionsflächen

Als Verfechter einer „filmischen Ästhetik des Widerstandes“, die den Stellenwert von Bildern aufschlüsselt und deren verborgenen Gehalte unterm Schutt der Codierungen freilegt, untersucht Farocki Gebrauchsbilder – er nennt sie frei nach Roland Barthes „opératoires“ –, die so massenhaft in Funktion stehen, dass sie keinen menschlichen Beobachter mehr benötigen: die intelligente Überwachung, die Zielsteuerung von Cruise Missiles (von der „intelligenten“ zur „Präzisions“waffe), die Kolonisierung des Konsumenten über Werbewirkungsforschung an Blickaufzeichnungsgeräten. Die Auswirkungen  militärisch-industrieller Bildtechniken bilden einen konstanten Gegenstand seines Werks bis heute, da Maschinen am Kriegsschauplatz oder in der Fabrik via Augen-Implantate intelligent operieren und das Schlachtfeld aus dem Computer kommt (Auge/Maschine I – III, 2002/03), da mit den Übertragungen der „filmenden Bomben“, die ins Ziel stürzen, die Kriegsberichterstattung mit der Kriegführung zusammenfällt.

Mit Wie man sieht (1986), seinem ersten expliziten Essayfilm, gewinnt Farocki aus „gegebenen“ Bildern kulturelle Grundmuster, die davon erzählen, wie Krieg, industrielle Produktion und die Arbeitsorganisation der Produzenten einander verändert haben (Motiv: „Schwerter zu Pflugscharen“). Es geht im weitesten Sinne um „Aggregatzustände des Kapitalismus“ (Klaus Kreimeier), Ausgangspunkt ist das Phänomen „Konversion“ – der Übergang von  Kriegsmitteln in Arbeitsmittel und umgekehrt. Das eine wird im anderen sichtbar, trägt seinen Gegensatz in sich, sichtbar sind – am deutlichsten in Die Teilung aller Tage (1970), Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (1988) – Regelkreise der Ökonomie, des Krieges und der Industrie.

Farockis Spielfilm Zwischen zwei Kriegen (1971–78), entstanden aus den Eigenmitteln aller Beteiligten, handelt vom Verbundsystem der deutschen Schwerindustrie und dem Aufkommen des Nationalsozialismus Ende der Weimarer Republik und gibt ein Erklärungsmodell des deutschen Faschismus, das auch der Arbeiterbewegung erst rückblickend zugänglich wurde. Im Gegensatz zu der konventionellen Dramaturgie, die jeder Historiendarstellung, zumal der Zeitgeschichte zugrunde gelegt wird, ist Zwischen zwei Kriegen in der ästhetischen Rigorosität seiner materialen Reduktion sowie seiner konsequent anti-naturalistischer Stilisierung absolut singulär und bis heute weitgehend unverstanden. Dem ehemals aggressiv ignorierten Film steht eine Wiederentdeckung bevor, womöglich auch Betrogen (1985), Farockis einzigem „eigentlichen“ Spielfilm, der auf Motiven des Film noir basiert und vom Effekt des „vertige“ (Vertigo), von Identitätstäuschung handelt. Der Mehrfachcharakter von „Aufklärung“ tritt aus dem Film Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (1988) hervor, eine Art filmische Zwölftonmusik, kreisend um eine Luftbildfotografie, die im April 1944 von einer US-Bomberbesatzung im Anflug auf kriegswichtige Ziele in Schlesien, die BUNA-Werke, IG-Farben, vom KZ Auschwitz aufgenommen wurde. Zu dem Zeitpunkt wusste man nicht, was man da fotografierte. Dieses Bild ist der Gravitationspunkt für die Schleifen der Filmteile und zugleich Projektionsfläche für alle anderen Bilder, die die Inschrift des Krieges tragen.

Enzyklopädische Studien

In seinen Filmen seit Ende der 80er Jahre – beginnend mit Leben: BRD (1990), als Punktlandung zu Maueröffnung und deutscher Einheit – beobachtet Farocki die allfällige Simulation von Wirklichkeit unter dem zunehmenden Druck von Leistung und Konsum, das Streben der Produzenten nach Synchronität mit allem, was vor sich geht: Was ist los? (1991) – zeigt das Bemühen um Anpassung an Apparate und Personalvoraussetzungen im Kampf um die Mark. Das Leben, zeigt sich, ist erlernbar, mess- und formalisierbar. Der Film koppelt seine Sujets zu Begriffspaaren verschiedener Jargons, die aneinandergelegt scheinen wie Dominosteine, ein Autorentext aus Fundstücken je gleicher Wertigkeit. Schulung (1987) / Umschulung (1994 – eine Art Remake des Themas unter Beteiligung der neuen Bundesländer, in dem eine Einführung in den modernen Kapitalismus als eine scheinrationale „Religion des Kommerziellen“ mit seinen Verführungs- und Beherrschungskünsten vermittelt wird); Bewerbung (1996), in der Langzeitarbeitslose, ehemalige Drogenabhängige und Mittelmanager die Kunst, sich selbst anzubieten („Self-Management“) als persönliche Wertzuschreibung in Kursen einüben – diese dokumentarischen Filme ohne Kommentar lassen wie in Hohlformen die Verhaltensmuster des gegenwärtigen Mitteleuropäers zutage treten, einen gestischen Lehrplan der Selbstdarstellung.  „Überall nimmt die Unanschaulichkeit der Lebens- und Arbeitsvorgänge zu, zugleich werden immer mehr Spiele gespielt, die offenbaren sollen, was in den Menschen verborgen liegt. Immer ungewisser die Regeln, nach denen zu leben sei, und immer mehr Spiele, in denen das Leben wie ein Sport trainiert wird. Gebrauchsanleitungen für das Leben: in der Warenwelt ist die Gebrauchsanleitung die einzige Aufzeichnung von Theorie.“ (Farocki) Mit Leben: BRD (1990) montiert der Autor ein Sittenbild der bundesrepublikanischen Jetztzeit: Wohin man sieht, treten Menschen als Schauspieler ihrer selbst auf, in einem Lebenstheater von Schulungskursen und Tauglichkeitstests.

Das groß angelegte Projekt enzyklopädischer Filmausdrucksstudien seit Arbeiter verlassen die Fabrik (1995), Der Ausdruck der Hände (1997) und Gefängnisbilder (1999) basiert auf der Idee eines Archivs filmischer Ausdrücke, das rein filmisch, also nicht semantisch bzw. inhaltlich zu verknüpfen wäre und Filmbilder über andere Filmbilder auffinden kann. Befreit von Wörtern, Suchbegriffen, wäre „filmografisches Denken im Medium“ über digitale Bildsuchverfahren vorstellbar.  Bis zu den jüngsten Untersuchungen zur technischen Bildproduktion in Militär- und Alltagsleben (Auge/Maschine I-III bzw. Die Schöpfer der Einkaufswelten) geben seine Filme Dekonstruktionsmodelle gegenüber vorgefundenen Bildern, ohne mit der Kritik am Mythos der Bilder eine neue, eindeutige Lesart mitzuteilen. Diese sind seit Mitte der 90er Jahre auch in Doppelprojektion-Installationen in verschiedenen Kunstausstellungen zu sehen.

Bei Farocki reicht die bloße Aufeinanderfolge zweier Bildeinstellungen nicht aus, die Aufladung an Bedeutung, die in jedem einzelnen enthalten sind, freizusetzen. Dies geschieht vielmehr durch den „Chock“, welcher durch deren Wiederaufnahme und beständiges In-Umlauf-Versetzen mit anderen Bildern einsetzt, begleitet von einem Kommentar aus großem Abstand. Die Kunst mentaler Bilder durch Montage bringt sein Werk in Verwandtschaft mit denen von Jean-Marie Straub/Danièle Huillet und Jean-Luc-Godard, die streng anti-naturalistische Inszenierung versetzt ihn zudem in die Nähe des Regisseurs Robert Bresson.