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Terrence Malick – Der Verlust der Unschuld

Der Verlust der Unschuld

| Roman Scheiber |

Terrence Malick verwendet den amerikanischen Gründungsmythos als Folie für ein eigenartiges Zivilisationslehrstück.

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In jedem einzelnen seiner nunmehr vier Spielfilme beobachtet Terrence Malick ausgiebig die Natur. Er fährt träumerisch durch Wiesen und Weizenfelder, durch die stetig der Wind streift. Er nimmt sich viel Zeit, um Licht- und Schattenspiele ins Bild zu setzen, die sich Tag für Tag an den unberührten, sonnendurchfluteten Plätzen dieser Erde abspielen. Er verharrt mit der Kamera auf Ästen, ob nun ein Vogel darauf sitzt und gleich weg zu fliegen droht oder auch nicht.

Malicks Montage von Naturbildern wirkt oft bedeutungsschwanger, erfüllt keinen eigentlichen narrativen Zweck in seinen Filmerzählungen, und das soll sie auch gar nicht: Sie zeigt, ganz im Sinne Martin Heideggers, die Alltäglichkeit des Lebens. „Gerade in der gleichgültigsten und harmlosesten Alltäglichkeit kann das Sein des Daseins als nacktes ‚Dass es ist und zu sein hat‘ aufbrechen. Das pure ‚Dass es ist‘ zeigt sich, das Woher und Wohin bleiben im Dunkel.“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit, Seite 134). Im Fall von The New World, in dem Malick die Geschichte der Indianerprinzessin Pocahontas neu erzählt, ist man versucht, malerische Naturdarstellungen als Bilder des paradiesischen Urzustands zu deuten, im biblischen Sinn: vor dem Sündenfall. Das mag mitschwingen, doch letztlich geht es auch hier nur um ein dramaturgisches Innehalten zur kontemplativen Seinsbeobachtung.

Das Woher, das Wohin

Wegen seiner naturphilosophischen Elemente wird Malicks Kino gern als „poetisch“ bezeichnet, manchmal auch seine Biografie. Viel weiß man nicht über das Leben des legenden-umrankten Regisseurs. Terrence Malick wurde am 30. November 1943 in Waco, Texas, geboren, verbrachte seine Jugend als Wanderarbeiter, studierte Philosophie in Harvard und Oxford, übersetzte Heideggers Vom Wesen des Grundes, schrieb für angesehene US-Blätter, verfasste Drehbücher oder schrieb sie um. Mit 30 Jahren katapultierte er sich mit seinem Debüt Badlands, einer ebenso bildmächtigen wie melancholischen Außenseiterballade, unmittelbar vor einen Karren namens New Hollywood. „In diese Vita lässt sich leicht die Legende eines Cowboy-Philosophen hineinlesen, der jeden Glamour zurückweist. Aber vielleicht haben ihn seine Erfahrungen als Drehbuch-Doktor und Autor ja nur von Anfang an misstrauisch gegen die großen Studios gemacht“, schreibt Georg Seeßlen in seiner Rezension im Tagesspiegel. Soviel zum Woher.

Und das Wohin? Einen deutlich weniger akklamierten Film und 25 Jahre später schaffte es Malick, ein aufwändiges Kriegsepos finanziert zu bekommen. The Thin Red Line beschäftigt sich allerdings, wen hätte es gewundert, wieder mehr mit der Existenzphilosophie Heideggers, als sich vorrangig um die Konventionen des Kriegsfilmgenres zu kümmern. Insofern geht es hier weniger um den Zweiten Weltkrieg und seine Ausläufer im Südpazifik als um den Krieg als zentrale Grenzerfahrung des Menschen, um die eigentümlich verdichtete Gewissheit des Todes, ausgelöst durch die Erfahrung des willkürlichen Sterbens der Kameraden. Zentral ist bei The Thin Red Line aber auch der Gemeinschaftssinn der Lebenden, genauer: der Kontrast zwischen dem Gemeinschaftssinn der eingeborenen Inselbewohner und der Zweckgemeinschaft eines zusammengewürfelten Soldatentrupps. „You ever get lonely?“, fragt Private Witt (Jim Caviezel). Sergeant Welsh (Sean Penn) antwortet: „Only around people.“ Bei Heidegger klingt das Motiv des Alleinseins unter vielen, leicht verkürzt, so: „Das faktische Alleinsein wird … nicht dadurch behoben, dass ein zweites Exemplar Mensch ‚neben‘ mir vorkommt oder vielleicht zehn solcher. Auch wenn diese und noch mehr vorhanden sind, kann das Dasein allein sein.“ (Sein und Zeit, S. 120).

Schilf oder Stöckelschuhe

Nun also Pocahontas, das schöne (im Film lange namenlose) indigene Mädchen. Captain John Smith, Jamestown, Virginia, der amerikanische Gründungsmythos. Was interessiert Malick daran? Nicht die historischen „Fakten“ (die gibt es in den Studien von Klaus Theweleit nachzulesen), aber auch nicht die „dumpfe Liebesaffäre“ (Theweleit über den Film in der Zeit). Es sind die existenziellen Erfahrungen entwurzelter, aus der Zeit geworfener Menschen. Ein Indianer, ausdruckslos starrend in einem englischen Garten der Alten Welt; Pocahontas, wie sie ihre Füße zum ersten Mal in Stöckelschuhe zwängt; Captain John Smith, nach seinen Ausschweifungen mit Pocahontas aus dem halshohen Schilf zum Stützpunkt zurückkehrend, wie er nur Zeugnisse von Verwahrlosung, Elend und Zwietracht unter seinen (ehemaligen) Gefolgsleuten vorfindet.

Nicht nur, was wir sehen, ist entscheidend, auch was wir nicht gesehen haben. Der Instabilität der Welt, wie er sie sieht, gibt Malick einen einprägsamen Ausdruck. Er zeigt die Eingeschlossenheit der Alten Menschen in der Neuen Welt, die Dünne der zivilisatorischen Decke insgesamt. Und die Unfähigkeit der Menschen, sich an neue Verhältnisse adäquat anzupassen – ohne die Hilfe des Indianermädchens hätten die Siedler nicht einen Winter überstanden. Häufiger Perspektivenwechsel und (wie schon in The Thin Red Line) mehrstimmige Voice-Overs lassen den Vorwurf des Kolonialkitsches an Malick abperlen.

The New World bewegt sich stilsicher diesseits des Kitsches, selbst in jenen prekären Phasen, in denen Wagners fast sakrale Rheingold-Musik zum wiederholten Mal anschwillt, um die drohende Vernichtung des jungfräulichen Paradieses durch die alte Hure Europa zu untermalen. Wie alle Filme Malicks ist auch The New World voller Rätsel, voller Sehnsucht nach Unschuld und Wissen um die Verdammung. Alles bleibt von allem getrennt, die Vereinigung eine Illusion, daran kann auch die bewusst naiv inszenierte Love Story nichts ändern. Smith (Colin Farrell) und das Mädchen (Q’Orianka Kilcher) sind anfangs die einzigen, die sich zwischen den fremden Gruppen überhaupt bewusst zueinander verhalten. Der Bruch in ihrer Beziehung wird, wie so oft bei Malick, nicht an Hand von Ereignissen manifest, er passiert beiläufig.

Der Tod und das Licht

Die Niederlassung, die Lebensbindung an einen festen Ort, erscheint wie in allen Filmen Malicks als größte Schwierigkeit seiner Figuren. Und die Tage des Glücks, sie waren irgendwo dazwischen, oder sie werden vielleicht nirgendwann sein. Der Welt ist das egal, das zeigen wieder und wieder die wogenden Halme im Wind, Malick bleibt dabei, und er bleibt bei Heidegger. Das Skript soll er schon Ende der 70er Jahre fertig gestellt haben. Zum fertigen Film hat Georg Seeßlen noch eine Frage: „Warum hat der Regisseur die erste Version nach zehn Tagen aus dem Verkehr gezogen und eine um 16 Minuten kürzere Variante herausgebracht, die ein ganz anderer, weniger radikaler Film ist?“ Und er beantwortet sich die Frage selbst: „Es war, sagt man, nicht der Produzent, sondern der Regisseur, der die Spannungen zwischen der Natur und der Gewalt der Eindringlinge, zwischen Heidegger und den Cowboys so schmerzhaft linderte. Und wieder blühen die Legenden: vom Künstler auf der Flucht vor sich selbst, vom Sieg Hollywoods oder davon, dass nicht einmal ein Terrence Malick ins dunkle Herz des amerikanischen Gründungsmythos vordringen darf.“

Wenn die Zivilisation eine Geschichte der Dehumanisierung, wenn das Leben jedes Menschen eine Abfolge entmenschlichender Geschehnisse ist, dann ist Terrence Malick der beste Herold dieser Weltsicht, denn er lässt einen diese Sicht spüren. Und die in seinen Filmen allgegenwärtige Erfahrung des Todes ist die einzige Lichtung. Zum Ende noch einmal Heidegger: „Das Seiende, das den Titel Da-sein trägt, ist ‚gelichtet‘. Das Licht, das diese Gelichtetheit des Daseins konstituiert, ist keine ontisch vorhandene Kraft und Quelle einer ausstrahlenden, an diesem Seienden zuweilen vorkommenden Helligkeit. Was dieses Seiende wesenhaft lichtet, das heißt es für es selbst sowohl ‚offen‘ als auch ‚hell‘ macht, wurde vor aller ‚zeitlichen‘ Interpretation als Sorge bestimmt. In ihr gründet die volle Erschlossenheit des Da.“ (Sein und Zeit, S. 350)