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Requiem – Das Mädchen Michaela

Das Mädchen Michaela

| Roman Scheiber |

Hans Christian Schmid zeigt in seinem beeindruckenden Film „Requiem“, wie eine junge Frau an Gott zu Grunde geht.

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Wir sehen sie und spüren gleich, dass etwas nicht stimmt mit ihr. Ihre Bewegungen sind fahrig, ihr Gang trampelig, beim Gehen lässt sie den Kopf hin und her wackeln. In der ersten Sequenz des Films fährt sie mit dem Rad einen Hügel zu einer Kapelle hinauf. Dann zeigt die ebenso fahrige Kamera ihr Gesicht aus der Nähe: schmerzverzerrt, außer sich. Wir wissen noch nichts von ihr. Doch wir spüren, dass der Schmerz von innen kommt.

Michaela ist um die 20 Jahre alt. Sie lebt mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester in einem Dorf nahe Tübingen. Von der dortigen Universität erreicht sie ein Brief, der ihr den Schmerz erst einmal aus dem Gesicht treibt: Sie ist zum Studium der Pädagogik zugelassen. Doch da gibt es eine „Sache“, ihre Mutter führt das nicht näher benannte Problem besorgt gegen das Studium ins Treffen. Der Vater hat aber schon das Zimmer im Studentenwohnhein reserviert.

Wir sehen Michaela in Tübingen ankommen, und was wir allmählich über sie erfahren, erhellt ein wenig ihre Vergangenheit: Sie blüht auf. Wirkt befreit. Sie freundet sich mit einer Studienkollegin an, sie lernt einen sympathischen Burschen kennen, der in romantischer Absicht ihre Seminararbeit in die vom Vater geschenkte Schreib-

maschine tippt. Sie trägt plötzlich Rock und Stiefel, geht auf Partys, gerät beim Tanzen in Ekstase. Nur am Wochenende kehrt sie in den Schoß des katholischen Elternhauses zurück, muss erneut die Enge des schwäbischen Heimatdorfs ertragen. All das vollzieht sich mit einem Minimum an erklärenden Dialogen, ohne Gegenschuss-Großaufnahmen, ohne angeschmiegten Soundteppich und ohne andere Mittel, mit deren Hilfe einem vom Arbeitsalltag erschöpften Fernsehpublikum einfache Geschichten wie diese für gewöhnlich in die Gänge fahren sollen.

Berührungsangst

Doch dann schlägt die „Sache“ zurück. Es geschieht während einer Wallfahrt zur heiligen Katharina von Siena. Die Familie macht in einer Frühstückspension Station. Wir sehen Michaela zu Boden sinken, nach einem Streit mit der Mutter am Vorabend, im hellen Morgenlicht. Der Vater hilft ihr auf, sagt: „Sei froh, dass Mama nicht aufgestanden ist. Das wär’s jetzt gewesen.“ Wir ahnen etwas, aber was wir jetzt wissen, ist: Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal.

Wenn später klar wird, woran Michaela physisch leidet, ist ihr innerer Konflikt längst wieder voll ausgebrochen. Die häufiger werdenden epileptischen Anfälle sind mehr als nur Symptom dieses Konflikts, sie sind die äußere Ausprägung ihrer inneren Rückfälle. Michaela kann keinen Rosenkranz mehr berühren, ohne zu Boden zu gehen. Sie hört Stimmen, zappelt, wird ohnmächtig und krank vor Angst, von ihrer Mutter und demnach von Gott verlassen zu werden. Der junge Pfarrer, dem sie sich ausschüttet, führt sie nur noch tiefer in die Psychose. Irgendwann spüren wir, wie sie der Welt verloren geht.

Requiem gipfelt im Versuch eines Exorzismus, und doch geht es Drehbuchautor Bernd Lange und Regisseur Hans Christian Schmid um alles andere als das Spektakel einer Teufelsaustreibung. Mit The Exorcist hat Schmids Film so wenig zu tun wie mit den sattsam bekannten Versatzstücken der Trash-filmgeschichte, sabbernden Mündern, grünen Gesichtern, geschwollenen Adern. Und mit The Exorcism of Emily Rose verbindet Requiem nicht mehr als die gemeinsame Basis: Der authentische „Fall Anneliese  Michel“, eine kirchlich genehmigte Teufelsaustreibung im mainfränkischen Klingenberg, sorgte für eine der großen deutschen Skandalgeschichten der 70er Jahre.

Stattdessen: Bilder der Hilflosigkeit. Niemand will Böses, alle sind überfordert, keiner kann mit der eigenen Besessenheit und der des Anderen umgehen. Was Schmid an seiner Hauptfigur interessiert, ist die Transgression in einen Wahn, der außer die gesellschaftliche Norm fällt – eine Grenzüberschreitung, die er schon an Hand der Gestalt des Computerhackers Karl Koch in seinem Film 23 (1998) höchst eindringlich erzählt hat.

Grenzlanderkundung

Wie für das Verschwörungsdrama 23 (wo sich August Diehl in einer der stärksten Szenen des jüngeren deutschen Kinos für den Wahn bestraft, die Katastrophe von Tschernobyl ausgelöst zu haben) entdeckten Schmid und seine Casting-Agentin Simone Bär auch für Requiem einen neuen Filmstar: Sandra Hüller. Die in Basel engagierte 27-jährige Theaterschauspielerin erhielt prompt den Silbernen Bären der Berlinale. Schmid selbst musste sich mit dem FIPRESCI-Preis der Internationalen Filmkritik begnügen.

Schmids Filme handeln seit Nach fünf im Urwald von getriebenen, zumeist sehr jungen, unverstandenen Menschen. Crazy beobachtet einen Internatsschüler in der Pubertät. Das vorzügliche Episodendrama Lichter lotet das geistige Grenzland zwischen Deutschland und Polen aus. Stets geht es Schmid um mehr als nur die Fälle, die er in seinen Filmen verhandelt: Im Besonderen findet er das Allgemeine, die Sehnsucht, den Schmerz, die Ausgesetztheit, den Abgrund. Mittlerweile sieht man, dass Schmid das Kino der belgischen Brüder Dardenne zum Vorbild hat, Requiem reicht weit an diese Unmittelbarkeit heran.

Ganz reduziert erzählt Schmid seine Geschichte. Zwei Tracks aus den 70ern reichen ihm für die Musik von Requiem, darunter Anthem von Deep Purple (in 23 war es Child in Time). Um Michaelas Konflikt mit ihrer Mutter herauszuarbeiten, genügen drei, vier ansatzlose Szenen. Die Verlorenheit seiner Heldin braucht Schmid nur immer wieder einmal anzudeuten. Zärtlich begleitet er sie in die Apokalypse: Wenn sie niedersinkt, weicht die Kamera zur Seite. Requiem ist keine Messe für eine in den Himmel fahrende Seele. Sondern ein Trauerspiel für die bigotte bürgerliche Provinzfamilie.