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Der dokumentaristische Kontinent

Der dokumentaristische Kontinent

| Jörg Becker |

Die „Geschichte des dokumentarischen Films“ in Deutschland versammelt 50 Jahre Dokumentarfilm in 3 Bänden auf 2.037 Seiten. Ein Standardwerk.

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Mit dem gewichtigen dreibändigen Werk wird etwas nachgeholt, was bisher vorwiegend für den Spielfilm geleistet worden ist: Die Unternehmung einer ersten umfassenden und durchgängigen Geschichte des deutschen dokumentarischen Films. Filmgeschichtsschreibung ist nicht mehr länger als Spielfilm gedacht. Es erscheint einem wie die längst fällige Erweiterung des Blickwinkels, vergleichbar jener der Geschichtswissenschaft, die sich im Lauf der Jahrzehnte ebenfalls von einer politischen Ereignisgeschichte um Köpfe, diplomatische Beziehungen und Kriege auf die materiellen Tatsachen des Lebens, Arbeit und Wetter, Nahrungsversorgung und Klassenverhältnisse besonnen hat. Herausgegeben von Peter Zimmermann im Auftrag des Hauses des Dokumentarfilms Stuttgart umreißen vierzig Filmwissenschafter den Stand der Forschung, erfassen in ihren Essays an die zweieinhalbtausend Filmtitel und erarbeiten zirka 100 Biografien von Filmschaffenden. Hier ist erstmals ein Fundus aus den Archiven im Einzelnen namhaft gemacht, der permanent für TV-Dokumentationen der deutschen Geschichte ‚angezapft’ wird. Vielleicht wird es irgendwann einmal soweit sein, dass das in Dokumentarfilmbildern bewahrte visuelle Gedächtnis ins Bewusstsein kultureller Überlieferung rückt und nicht mehr – nach geläufiger Praxis der Fernseharchive – als Illustrationsmaterial ausgeschlachtet wird.

Wir wissen, das erste Opfer in einem Krieg ist die Wahrheit. Für den Film machte der Erste Weltkrieg Eingriffe oder auch Korrekturen nötig: Vorher galt die Maxime ‚Zeigen statt Sagen’, doch war die eigentliche Trennung zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Film noch nicht etabliert – dramatische Wirkung konnte mit Bildern einer realen Erdbebenkatastrophe ebenso erreicht werden wie mit solchen einer melodramatischen Geschichte. Man sah ‚Ansichten’ (vues), Aufnahmen von Reisen oder Prozessen, denen man beschreibend folgte. Man konnte „lebender Photographien“ von Variété-Nummern ansichtig werden, durch das ‚geliehene Auge’ der Bioskop-Kamera der Brüder Skladanowsky aus Berlin-Pankow. Die kinematographischen Variéténummern stellten bald den Anspruch, im Vergleich mit der Wochenillustrierten bestehen zu können – und hier boten sich ‚Kaiserbilder’ ebenso an wie Kriegs-, Reise- oder Industriebilder. Die Aktualitäten-Aufnahmen wurden in der Branchenpresse beworben, lange bevor das Geschehen tatsächlich gedreht wurde.

Als sich etwa fünfzehn Jahre nach dem ersten Auftauchen ‚lebender Photographien’ der ‚abendfüllende’ Spielfilm auf dem Unterhaltungsmarkt durchsetzte, bestimmten Wochenschau und Kulturfilm als Leitformen des dokumentarischen Films das Vorprogramm. Daneben entwickelten sich zahlreiche zweckgebunden produzierte Genres, und sehr früh hatten sich diverse nichtfiktionale Filmformen ausdifferenziert. Lange bevor die ersten Mehrakter in die Lichtspielhäuser kamen, hatte Wissenschafter die Vorstellung, ein Archiv lebender Bilder – eine „Encyclopaedia Cinematographica“ – anzulegen, für den Film eingenommen. Die Ufa-Lehrfilmschau etwa dokumentierte in ihrer medizinischen Abteilung seit 1919 Operationen, zahlreiche handwerkliche Berufe wurden aufgenommen, als gelte es hellsichtig, sie rechtzeitig vor dem Verschwinden zu bewahren. Varietas delectat, Vielfalt erfreut – die Schnelligkeit des Programmwechsels hatte Unterhaltungswert, Abwechslung war gefragt. Doch gerade die Umschlaggeschwindigkeit sollte zur Entwertung der Nummernprogramme führen, zu raschem Verbrauch als Wegwerfware.

Die großen Umbrüche und politischen Zäsuren der deutschen Geschichte zeigen massiven Einfluss auf die Entwicklung des dokumentarischen Films: auf seine politische Indienstnahme oder Zensurierung, auf seine Funktion im politischen Kampf oder in der klassenkämpferischen Polarisierung. Doch zeigen Beiträge des Buches auch die Kontinuitäten auf, die über 1933 oder die Befreiung 1945 hinaus bestanden haben. Sie weisen zum Beispiel manchem künstlerisch ambitionierten Dokumentaristen oder künstlerischem Modernisten nach, sich der NS-Filmpolitik assimiliert zu haben. Die erhabenen Naturtableaus des eigentlichen Bergfilm-„Erfinders“ Arnold Fanck waren Ende des Ersten Weltkriegs künstlerisch avantgardistische Ansätze, überwältigende Himmelsprotokolle. In Verbindung mit Leni Riefenstahl kam der Begriff von der „heroischen Reportage“ und einem „neuen deutschen Kamerastil“ auf. Den nationalsozialistischen Spielfilm zeichnet aus, dass in ihm – unter zahlreichen Beispielen hier die publikumsstärksten: Die große Liebe (1942), Kampfgeschwader Lützow (1940) oder Wunschkonzert (1940) – dokumentarische Sequenzen etwa aus dem Olympia-Film Riefenstahls oder Kriegswochenschauen mit Luftkampfaufnahmen verwendet wurden, die Teil der Fiktion wurden. In Die grosse Liebe sitzt Zarah Leander im Kino und erfährt in der Wochenschau vom beginnenden Angriff auf die Sowjetunion; so klärt sich das Verschwinden ihres geliebten Fliegeroffiziers, worunter sie so gelitten hat, auf – als soldatische Pflicht. Es dürfte eine Idealvorstellung der Propagandaabteilung gewesen sein, wenn der Spielfilm somit bei der Wochenschau angelangt und diese dem Publikum als authentische Fortsetzung der Love Story zuzeiten des Krieges scheinen mochte.

Wenn man also konstatiert, dass die wesentliche erste Zäsur für den dokumentarischen Film – gewissermaßen der Verlust der „Unschuld“ des Dokumentarischen – der Beginn des Ersten Weltkriegs darstellte, muss man allerdings einschränken, dass bereits um 1900 von den Kriegen auf dem Balkan, in China und zwischen Japan und Russland Filmansichten von Kriegsschauplätzen ins deutsche Programm gelangten: vorwiegend als spektakuläre Schauwerte und ohne Notwendigkeit einer patriotischen Parteinahme, jedoch unter der Betonung: ‚mit dem Kinematographen in der Schlachtfront’ unter Todesgefahr aufgenommen! (Wie wohl ist’s dem Menschen an Land, wenn der Fischer in Not, bemerkte Arthur Schopenhauer über diesen allgemeinmenschliche Schauder sinngemäß). Frontberichte der deutschen Wochenschauen, der „Messter-Woche“, unterstanden der Zensur der Obersten Heeresleitung, bis diese noch während des Krieges 1917 selbst den Grundstein für den Filmkonzern Ufa legte. Das heutige Phänomen des „embedded journalism“, wie ihn die angloamerikanischen Streitkräfte im Irak betrieben, ist zweifellos ein Abkömmling dessen, was für die damaligen Filme vom Kriegsschauplatz als „re-enactment“ bezeichnet wird: Gemeint ist das Nachspielen von Kampfhandlungen, einer vom vaterländischen Standpunkt aus befriedigenden Erzählung eines Frontereignisses mit viel action, die es in weiten Teilen des (Stellungs-)Krieges gar nicht gegeben hat. Der Spielcharakter störte das heimische Publikum nicht, denn es herrschte Übereinstimmung darüber, das Gezeigte im Rahmen des Nicht-Fiktionalen zu betrachten.

In den 20er Jahren formierten sich in der Ufa-Kulturfilm-abteilung Spezialisten für bestimmte Motive: Insekten, Säugetiere, Kunst und Handwerk … Die Geschichte des deutschen Dokumentarfilms würdigt in eigenen Kapiteln Wilfried Basse (Markt in Berlin, 1929, hebt ihn in den Rang eines Film-dichters), dessen Film Deutschland – zwischen gestern und heute die NS-Film-Prüfstelle erheblich beschnitt, Hans Cürlis und sein langfristiges Projekt über bildende Künstler, Schaffende Hände, oder Heinrich Hauser (Weltstadt in Flegeljahren, 1931) als Entdeckung eines frühen „multimedialen Genies“. Zu Walter Ruttmann (Berlin – die Sinfonie der Grosstadt) wie zu Laszlo Moholy-Nagy wird unter dem Thema politisch-ästhetischer Ausdifferenzierung der Avantgarde Stellung genommen. Ein Essay zu den Methoden des „Querschnittfilms“, einem typischen Phänomen der 20er Jahre, untersucht als ästhetische Vorreiter die Filmkünstler Ruttmann, Vertov und Cavalcanti und schildert die „binäre Geschichtsschreibung“ (Antje Ehmann) dieses neuen Filmtyps, der immer politisch-formal kontrovers diskutiert wurde – zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit, Avantgarde und Kommerz, Phantastik und Realismus. Ein Film ohne Helden, ein Tag in der Stadt, eine Sonde durch eine komplexe Großstadtwirklichkeit in einem Wirbel der Wahrnehmung.

Natürlich ist auch der Kampf um die linke Filmkultur der Weimarer Republik mit großen Anteilen der KPD, der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) und der Sozialdemokraten beschrieben. Geradezu einen sozialhistorischen Kristall behandelt Thomas Elsaesser im Kapitel über „Die Stadt von morgen. Filme zum Bauen und Wohnen“ mit dem Film über die Frankfurter Küche (1927), der Frauenbewegung und moderne Haushaltsführung, Industriedesign und Arbeitsteilung komprimiert: „Dort werden zum ersten Mal systematisch Gesundheit und vorbeugende Hygiene mit den funktionalistischen Prinzipien des Neuen Bauens verbunden, während gleichzeitig die Ideale des ,Neuen Menschen’ aus dem Expressionismus nachklingen“ (Band 2, S. 396).

Mit den Nazis gab es in den ersten Jahren nach 1933 eine massive ideologisch-propagandistische Offensive: Auftragsfilme vom Reichsbauernführer, der NS-Turnerschaft, dem Reichsarbeitsdienst oder dem Rassepolitischen Amt; Filme zu Eugenik, Rassismus und Antisemitismus, die Sterilisation an so genannten Erbkranken als nahe liegende Konsequenz suggerierten und somit den NS-Biologismus als ‚gesundes Volksempfinden’ (u. a. Das Erbe, 1935) verbreiteten. Ausgrabungen an Germanengräbern, die Suche nach dem ‚Ahnenerbe’ (Altgermanische Bauernkultur, Auf der Suche nach Atlantis), die mythische Beschwörung deutschen Waldes, das Überleben des Stärksten, die Auslese des Gesunden, dem „Kampf ums Dasein“.  Solche Blicke in die Natur, aber auch in die Anstalten Geistig- oder Körperlich-Behinderter, ließen sich ohne weiteres durch Kommentar bzw. Zwischentitel-Grafiken mit der beabsichtigten völkischen Weltanschauung versehen. Die Naturanalogie ist gerade im NS-Film der Gipfel der Ideologie.

In Was ist die Welt? (1933) von Svend Noldan (ehemals Dada-Mitstreiter; im ,Dritten Reich’ u. a. Regisseur der berüchtigten Schönheit der Arbeit und Sieg im Westen) erscheinen diese gesellschaftlichen Umbrüche angesichts erdgeschichtlicher Katastrophen als nichtig: „Der Film beginnt mit Aufnahmen der am Himmel sich türmenden Wolken, aus denen die Stimme des Sprechers ertönt: ‚Wir Menschen sind von Alters her gewöhnt, uns für den Mittelpunkt der ganzen Welt zu halten.’ Diesen anmaßenden Irrglauben widerlegt der Film sogleich durch die klassischen Close Ups des Kulturfilms auf die Welt der Pflanzen und Käfer, die dank der Insektenoptik der Kamera durch Gräser, Farne und Schachtelhalme wie durch urzeitliche Wälder krabbeln: ‚Aber sie müssen kämpfen um ihr Leben. An allen Ecken lauern Gefahren.’“ Nach zwei harten Schnitten herrscht Übersicht auf die ‚Gesellschaftsnatur’ des Menschen: „Aus der Vogelperspektive ähnelt das Gewimmel der Menschen und Fahrzeuge in der Großstadt dem des Ameisenhaufens. Doch das Gewimmel entpuppt sich auch hier (…) als arbeitsteilige Wirtschafts- und Staatsform, mit deren Hilfe sich der Mensch die Erde untertan gemacht hat.“ (Bd. 3, S. 142). Der erste Beiprogrammfilm der Ufa-Kulturfilm-Abteilung hieß Der Hirschkäfer (1921); die Natur- und Tierfilme dieser Abteilung, möglich durch Teleobjektive, Mikrofotografie, Zeitlupe, Zeitraffer und ‚Insektenoptik’ setzte Maßstäbe; die meisten Ufa-Kulturfilm-Spezialisten arbeiteten nach 1933 bruchlos in dieser Abteilung weiter. Ufa-Kulturfilmoptik und NS-Gesellschaftsbild waren durchaus keine unvereinbaren Größen.

Der dokumentarische Film ist ein künstlerisches Produkt, kein realistisches Abbild. Das Dokumentarische zeigt eine wechselnde Qualität, die aufgeklärt im besten Fall ihre eigenen Absichten mit zu dokumentiert vermag.