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Running Scared – Wer Gewalt sät

Wer Gewalt sät

| Harald Mühlbeyer |

„In Running Scared“, Wayne Kramers neuem Film, suchen verlorene Gestalten – und ihre Kinder – eine Pistole.
Und viele finden den Tod.

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Eine blutige Schießerei steht am Anfang der 18 Stunden, die der Film schildert. Es folgt ein Trip durch die Nacht voll Gewalt und Blut, mit Filmbildern, zerstückelt wie die Körper, in die Schrotladungen einschlagen. Ein wilder Tanz um eine silbern verchromte Pistole. Die Waffe, mit der ein Cop getötet wurde, ist der McGuffin, dem alle nachjagen: Oleg, der zehnjährige Junge, hat damit seinen Stiefvater angeschossen und ist in der Dunkelheit verschwunden.

Böses Märchen

Mit der Wucht einer Pistolenkugel dringt der Film in den Kopf des Zuschauers ein, löst eine Flut von Eindrücken aus, als sei er der letzte Alptraum vor dem großen Schlaf. Oleg mit der Pistole, Joey und sein Sohn Nick, die die Waffe hätten verschchwinden lassen sollen und nun hinter ihm her sind, dazu die Mafia und die Polizei: Sie sind Figuren in einer bösen Märchenwelt, in der nichts gut ist. Nicht die Hand einer Prinzessin gilt es zu erlangen, sondern die eigene Haut zu retten. Die Pistole als eine Art Heiliger Gral hat die Kraft, die Ordnung unter all den Gangstern wiederherzustellen. Hinter ihr, der Unerreichbaren, sind alle her, sie führt sie alle hinein in einen dunklen Wald der Gewalt, in dem sich alle verirren. Der Weg führt über bizarre Stationen:über eine Prostituierte, die Oleg vor einem sadistischen Zuhälter rettet und die dafür ein Heilmittel, ein Asthma-Medikament, für Oleg beschafft, über eine adrette Wohnung, die doch nur das Lebkuchenhaus Tod bringender Kinderschänder ist, bis buchstäblich in einen Eispalast, in verfremdendes Schwarzlicht getaucht, wo es eine weitere brutale Schießerei gibt, einen Shootout aller Parteien, der niemanden ungeschoren lässt.

Neben diesen unterschwellig eingestreuten Märchenmotiven – die erst im Abspann explizit als solche benannt werden – ist die Welt der Cowboys eine zweite Motivkette, die der Film anführt: Wayne Kramer hat den Film Sam Peckinpah und Walter Hill gewidmet. Olegs Stiefvater Anzor, ein Russe, ist besessen von John Wayne in Mark Rydells The Cowboys (1972), der darin mit so viel Würde erschossen wird. Anzor lebt in einer Sphäre der fiktionalen Ehre: Wer den „Duke“ beleidigt, beleidigt auch ihn. Doch in der Welt, in der er wirklich lebt, bereitet kein weißer Held den Weg für Recht und Ordnung, lauter Outlaws belauern einander jenseits der Grenze zur moralischen Wildnis. Hier hat die Macht, wer die Waffe in der Hand hält und mit ihr umzugehen weiß. Hier ist jeder auf sich gestellt, ein Einsamer unter Einsamen.

Pech im Spiel

Wayne Kramer kommt aus dem Drehbuchbereich und hat in den 90er Jahren an mehreren Drehbuchwettbewerben teilgenommen. Diese Herkunft als Autor ist an den vielschichtigen Plots und den vielen Figuren und Nebenhandlungen erkennbar, die so miteinander verwoben sind, dass sie nicht verwirren, nicht redundant wirken, sondern einen tatsächlichen Mehrwert schaffen. Jeder Schritt jedes Protagonisten hat Auswirkungen auf die anderen Figuren. Doch er ist auch ein guter Regisseur mit Gespür für die Inszenierung: Deshalb verfilmte er seine Bücher zu The Cooler (2003) und Running Scared selbst, lediglich der Zehn-kleine-Negerlein-Thriller Mindhunters wurde 2004 von Renny Harlin nach seinem Drehbuch verfilmt. Kramers Kamera ist allwissend, kann jeden (un)möglichen Standpunkt im Raum einnehmen, ohne dass die komplizierten Blickpunkte, die schnelle Erzählweise modisch flippig wirkte. Vielmehr weiß Kramer den Rhythmus des Geschehens einzufangen, lässt auf exzessive Gewalt fast lyrische Momente folgen, zieht das Tempo an und fährt es wieder zurück, versorgt den Zuschauer in der richtigen Dosierung mit den nötigen Informationen: Das ist das A und O des Thriller-Handwerks.

Und er bettet seine Filme nicht in einen falschen Realismus ein, sondern hebt sie wie schwerelos in die Sphäre des Mythischen, indem er ihnen artfremde Strukturen unterlegt: In Running Scared zum Beispiel die Märchen- und Westernmuster. Schon in seinem Debüt The Cooler versetzte er eine harte, gewalt-tätige Las Vegas-Story mit fantastischen Elementen. William H. Macy, immer wieder als schrulliger Loser gecastet (man denke an Joel Coens Fargo), spielt den Pechvogel Bernie, der in einem Casino in Las Vegas den passenden Job hat: Durch seine bloße Anwesenheit bringt er den Spielern Unglück, und so wird er eingesetzt, wo immer jemand am Spieltisch zuviel zu gewinnen droht. Alec Baldwin als rigider Casinobesitzer Shelley nutzt diese Fähigkeit aus, denn Bernie hat so viele Schulden angehäuft, dass er ihm ausgeliefert ist. Shelley ist ein Old-School-Casinobesitzer, er ist brutal, ein Gangster, und er kümmert sich gleichzeitig fast rührend um sein Kind, das Casino. Und muss sich dabei nicht nur um den abtrünnig werdenden Bernie kümmern, sondern will auch mit allen Mitteln die Übernahme seines Casinos durch Finanzinvestoren verhindern, die daraus ein Familienparadies machen wollen: Denn darin steckt das wirklich große Geld. Doch dann lernt Bernie eine Kellnerin kennen und lieben, mit der Liebe verliert er seine

negative Aura, seine Pechsträhne hört auf, und er jagt nun dem Glück hinterher, gegen alle Widerstände.  Den Mythos des Pech verbreitenden Coolers, der im Spieleraberglauben wurzelt, verbindet Kramer mit dem märchenhaften Mythos des Amor vincit omnia; er inszeniert all das als harten Noir-Gangsterfilm, freilich aus der Perspektive des Kleinen, des Unterdrückten, des Ausgebeuteten. Die menschliche Nähe, die, wenn auch schmerzhaft, in der altmodischen Gangsterwelt geherrscht hat, ginge dadurch nämlich verloren.

Blut-Bad

Bei Kramer sind Familie und Gewalt eng verknüpft – in The Cooler bei Shelleys Kampf um die Unabhängigkeit seines Casinos und bei Bernies Kampf um sein Liebesglück. Und in Running Scared bei den Mafiafamilien der Perellos und der Yugorskys oder bei der korrupten Polizei, deren Vertreter Rydell von sich sagt: „I belong to the toughest mob in the world: the law.“ Auch in der Familie im engeren Sinne herrscht hier Gewalt: Pädophile Killer erscheinen als das normale, freundliche All-American-Ehepaar, Oleg bedauert, auf seinen Vater geschossen und ihn dabei verfehlt zu haben, und Joey schleppt seinen Jungen Nick mitten hinein in die Gefahr, die er selbst in Form einer brandheißen Pistole in sein Haus mitgebracht hat. Diese Waffe verbindet Joey mit dem Nachbarsjungen Oleg, sein eigener Sohn Nicky muss helfen, ihn und die Pistole zu finden. Kinder werden damit in das kalte Wasser der grausamen Erwachsenenwelt geworfen, in der sie sich richtig bewegen müssen oder untergehen werden. Die Frauen – Olegs Mutter, Joeys Frau – stehen hilflos daneben, müssen der Männerwelt zusehen, wie sie sich selbst zerstört. Diese patriarchale Welt ist definiert durch die Gewalt und die Aktion, durch stetiges Vorwärtsstreben, durch den Willen, die Familie zu beschützen. Genau dadurch freilich wird die Gewalt erst gesät. Erst am Schluss lässt Kramer eine Familie auferstehen, als habe das viele Blut sie gereinigt wie ein wundertätiges rotes Wasser des Lebens. Alle drum herum sind tot, zerstückelt, zerfetzt, in die Luft geflogen, doch in der Idylle auf dem Land findet sich das Glück einer starken, unverwundbaren Familie.
Ein glückliches Ende, zu dem Kramer nur mittels einiger Volten kommt, die dem Zuschauer jedes Mal eine neue Sicht auf die Dinge aufdrängen und deren Plausibilität erst noch zu beweisen wäre. Als habe Kramer aus seiner komplexen Geschichte ein märchenhaft einfaches, geradliniges Ende herauszwingen wollen. Durch diese überraschenden Wendungen in den letzten zehn Minuten verliert sein Thriller einiges an Integrität: Denn die Puzzleteile, die zuvor mit derartiger Verve verstreut wurden, um das Gesamtbild einer auseinanderfallenden, nur von einer tödlichen Waffe gehaltenen Welt zu zeichnen, fügen sich wundersam zusammen und verkehren damit die Vorzeichen: Und das ist dann doch ein wenig zu konventionell für die vorangegangenen 100 Minuten Albtraum.