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The Road to Guantanamo – Roger Willemsen interviewt Ex-Häftling

„Was Sie schon immer über Guantánamo Bay wissen wollten“

| Gunnar Landsgesell |

Roger Willemsen wurde bekannt durch diverse Talk-Shows, nicht bekannt wurde er als Dokumentar-filmer. In seinem neuen Buch „Hier spricht Guantánamo“ beweist er sich als raffinierter Reiseleiter in eine Welt des Unrechts.

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Als am 28. Jänner 2005 Sharon Stone auf dem Weltwirtschaftsforum von Davos dem Präsidenten von Tansania 10.000 Dollar als Spende für den Kampf gegen die Malaria zusprach, erhöhten andere Teilnehmer innerhalb weniger Minuten auf eine Million Dollar. So ähnlich darf man sich die Wirkungsweise des Buches Hier spricht Guantánamo von Roger Willemsen vorstellen. Zwar ist der TV-Moderator, der auch schon über über Karl May, den Karneval der Tiere, den Selbstmord oder die italienischen Abruzzen geschrieben hat, keine männliche Sharon Stone. Dass sein Interviewband innerhalb von zwei Monaten aber erstaunliche vier Auflagen erlebt hat, muss doch mit einer gewissen Prominenz zu tun haben. Erstaunlich vor allem deshalb, weil nichts Neues in diesem Buch steht. Willemsen versteht es relativ schlau, die Gespräche seiner fünf Interviewpartner – allesamt ehemalige
und für unschuldig erklärte Häftlinge des US-Anti-Terroris-mus-Gefängnisses in Kuba – als unterdrückte Wahrheit zu verkaufen. Niemand in Deutschland, empört sich der Interviewer, habe sich für diese Leute interessiert. Zwar sei alles zu Guantánamo gesagt, das schon, aber sie hätten noch nichts gesagt, und niemand sie gefragt. Jetzt also kommt Willemsen und setzt das konstatierte Desinteresse gleich mal mit Demokratiedefizit gleich. So wie Sharon Stone zur Spende aufruft, weil der Staat versagt, tut das Willemsen, weil die Medien als Kontrolle der Demokratie versagen. Guantánamo, schreibt er, wird „immer noch als eine Irritation, nicht als das Skandalon einer Demokratie betrachtet, die sich frei fühlt, selbst zu bestimmen, wer auf ihre Grundrechte keinen Anspruch hat …“ Auch „die politische Rhetorik ist zu keinem Zeitpunkt auf der Höhe dieses Skandalons gewesen“.

Nun verhält es sich aber nicht ganz so, wie der schlaue Promoter in eigener Sache das darstellt. Guantánamo spricht seit Jahren zu uns in unterschiedlichsten Medien. Durch Bilder von Gitterkäfigen und orangefarbenen Overallträgern, durch Berichte und Interviews. Schließlich durch Proteste von NGOs, wie sie auch gegen Schubhaft und Abschiebung illegaler Migrant/innen erfolgen. Auch dort könnte man, abseits jeglicher Öffentlichkeit, von einem Bereich der Willkür, einem rechtsfreien Raum sprechen, der sehr gut in unser Rechtssystem eingebettet scheint. Allerdings: ein Buch über Schubhäftlinge würde sich – Willemsen hin oder her – nicht ganz so rasend verkaufen. Also bleiben wir bei hoher (Gefühls)Politik und Guantánamo. Denn, wie heißt es im Vorwort: „Die Häftlinge von Guantánamo leiden auch darunter, dass das Wissen der Welt so folgenlos ist.“

Beim Autor verbindet sich die Jagd nach der Wahrheit auf schillernde Weise mit der Jagd nach der Exklusivität. Warf er Journalisten vor wenigen Monaten vor, sie hätten sich den Scoop – also die exklusive Meldung – entgehen lassen, so hat er diesen also selbst verbucht. Der Scoop, der üblicherweise das Ansehen des Mediums steigert, bleibt hier ganz an Willemsen kleben. Dabei nimmt er sich selbst zurück, indem er den Häftlingen ihre „oft schlichte Sprache“ belässt, anstatt sie in eigene Prosa zu packen. Er verzichtet auf die sonst übliche „Nachbearbeitung“ der Interviews. So bleibt er mit seinen Gesprächspartnern „absolut authentisch“.

Authentizität ist wie eine Fliegenfalle. Man bleibt bei der Lektüre daran kleben, bis man sich nicht mehr rühren kann. Nicht weil die Interviews so aufregend sind, sondern weil Willemsen die Wahrheit wie einen Lockstoff einsetzt: je besser der Duft, desto intensiver die Wahrheit. Da kann er sich locker das Eingeständnis, die Informationen seien überhaupt nicht nachprüfbar, leisten. Oder auch eine kleine bestechende Logik: „Erst wenn man die Lebensgeschichten der Inhaftierten (…) verfolgt, wird deutlich, wie haltlos mancher Vorwurf ist.“ Das Konzept ist bestechend: Lasst doch die Leute reden! Problematisch wird diese Alli-anz aus Gefühl und Politik auch, wenn Willemsen zwei Mal auf die Konzentrationslager der Nationalsozialisten anspielt, um die deutsche Öffentlichkeit stärker zu mobilisieren. Zu den „Unwahrheiten“ Bushs meint er: „… und weniger als diese selbst erstaunt die Toleranz, die man ihr entgegenbringt, zeigt man sich doch sonst gerade in Deutschland empfindlich gegenüber allem, was ‚Lager’ heißt, zumal wenn es keinerlei juristischen Schutz genießt.“ Hier wird das Politische endgültig durch Emotion ersetzt.

Wer Hier spricht Guantánamo liest, wird keinen Deut mehr über demokratische Defizite wissen, aber entschieden gegen diese sein. Wie Willemsen das schafft? Durch die Form, denn sie ist Programm. Deshalb zitiert er auch den italienischen Philosophen Giorgo Agamben als Verbündeten. Nicht mit dessen fundamentaler Demokratiekritik (der Fehler, der Ausnahmezustand ist ihr Wesensmerkmal), sondern formschöner: Agambens Begriff des „nackten Lebens“ (der Souverän verfügt nicht nur über das geistige, sondern auch über das biologische Wesen) analogisiert Willemsen im „nackten Wort“, dem keine Recherche und keine Nachbearbeitung zusetzt. Endlich: Guantánamo spricht!