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Das Schloss im Himmel – Wo Gefahr ist, wächst auch das Rettende

Wo Gefahr ist, wächst auch das Rettende

| Alexandra Seitz |

Gut Ding braucht tatsächlich Weile: Nach zwanzig Jahren kommt mit „Das Schloss im Himmel“ ein frühes Meisterwerk des japanischen Anime-Künstlers Hayao Miyazaki ins Kino.

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Laputa – so lautet der Name eines legendären Königreichs auf einer mythischen Insel, die, so geht die Sage, von Sturmwinden umtost und wolkenverhüllt ihre Bahnen durch die Lüfte zieht. Jonathan Swift hat sie in Gullivers Reisen beschrieben und Pazus Vater, ein wagemutiger Luftschiffer, hat sie sogar mit eigenen Augen gesehen. Er hat, als inmitten eines Unwetters für einen Moment die Wolken aufrissen, einen Blick auf das Schloss im Himmel erhascht und es fotografiert. Doch als er von seinem Abenteuer zurückkehrte, wollte ihm trotz der Fotografie niemand glauben. Nun hängt das Bild der fremdartigen Erscheinung, die aussieht wie der Turm zu Babel, in Pazus Werkstatt an der Wand und erinnert den Sohn an den Traum des verstorbenen Vaters: zu beweisen, dass Laputa wirklich existiert, zu beweisen, dass der Vater nicht gelogen hat. Eines Tages wird Pazu sich auf die Suche machen. Er wird Laputa finden.

Sheeta – so heißt das Mädchen, das eines Abends vom Himmel schwebt. Direkt in den sich tief in die Erde bohrenden Schacht der Mine, in der Pazu arbeitet. Direkt auf Pazu zu, der zwar seinen Augen nicht traut, aber geistesgegenwärtig genug ist, seine Arme auszustrecken und das Himmelswesen darin aufzufangen. Dann bringt er es zu sich nach Hause. Doch noch ehe sich die beiden Waisenkinder anderntags richtig kennen lernen können, kommen Fremde in das kleine Bergwerksstädtchen. Piraten, Beamte der Regierung und das Militär verfolgen Sheeta und Pazu durch die atemberaubend riskant an und in die Felsen einer Schlucht gebaute Siedlung. Allüberall reißen Abgründe auf, scheint der Boden unter den Füßen von fragwürdiger Festigkeit und durchlässig ins Nichts. Ein fragiles Gleichgewicht, ohnehin im Zustand permanent austarierender Schwankung und nun zusätzlich gefährdet durch die wilde Jagd, die durch die Straßen und über die Schienen tobt. Denn Sheetas eigentlicher Name lautet Lucita Toelle Ul Laputa. Sie ist die rechtmäßige Thronerbin des Himmelskönigreichs.

Kampfstern oder Paradies?

Mit Das Schloss im Himmel, Hayao Miyazakis – nach The Castle of Cagliostro (1979) und Nausicaä of the Valley of the Winds (1984) – drittem abendfüllenden Anime nahm das Studio Ghibli 1986 seine Arbeit auf. Wie ein regelrechter Action-Kracher verknüpft die turbulente Exposition dieses wunderbaren Frühwerks die zahlreichen verschiedenen Parteien in einem Geflecht aus individueller Motivation und historischer Bedingtheit.

Laputa – das bedeutet, wie sich schon bald herausstellt, für jeden der Beteiligten etwas Anderes: Mama Dora und ihre Piratensöhne erhoffen sich unvorstellbare Schätze; der General freut sich auf eine neue, geheime Superwaffe; der undurchschaubare Beamte Musca hat die Weltherrschaft im Sinn; Pazu will eigentlich nur seinen Vater rehabilitieren. Und im Zentrum steht Sheeta, deretwegen sie sich alle fast am Ziel ihrer Wünsche sehen und die zwar nicht recht begreift, wie ihr geschieht, in ihrer Herkunft aber bald eine große Bürde erkennt. Denn „Himmelskönigreich“ mag für christlich sozialisierte Ohren verheißungsvoll nach einem paradiesischen Urzustand klingen, in dem Mensch und Tier und Natur in Friede und Harmonie miteinander leben. Wörtlich genommen aber bedeutet es nicht mehr, als dass von einem Ort oben Macht nach Unten ausgeübt wird, und Laputa, die im Himmel schwebende Insel, „ruled the earth with an empire of fire“ – wie rasch deutlich wird, als einer von Laputas Roboter-Soldaten, der auf die Erde gestürzt war, die Prinzessin mit Feuerstrahlen zu verteidigen beginnt.

Wie so oft ist die Wahrheit wesentlich anders als sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Sie ist komplexer, widersprüchlicher, spannungsgeladen und in ihrer ganzen Uneindeutigkeit schwer auszuhalten. Was wiederum damit zusammenhängt, dass ein rein theoretisches Verständnis des Prinzips von Yin und Yang einen noch lange nicht für Miyazakis filmische Umsetzung von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen präpariert. In seinem Werk gehen die Schönheit und der Schrecken nicht nur Hand in Hand, sondern ist der Schrecken tatsächlich schön und Schönheit oft schrecklich. Und moralische Begriffe wie Gut und Böse werden schnell als akademische, wenig praktikable Kategorien erkennbar, sobald menschliche Leidenschaft ins Spiel kommt und ein Chaos ausbricht, das alte Welten vernichten und neue errichten kann. Grundsätzlich und dabei doch spielerisch erzählt Miyazaki vom Platz des Menschen im Kosmos. Er versucht in seinen Filmen immer vorläufig bleibende Ortsbestimmungen, deren jeweilige Koordinaten sich aus der gewaltvollen Kollision von menschlicher Wissbegierde und göttlicher respektive spiritueller Ordnung ergeben.

Hier nun ist das Schloss im Himmel selbst der konkrete Ort dieses Zusammentreffens. Was Pazu und Sheeta nach ihrer Landung auf Laputa entdecken, ist in der Tat ein Paradies. Aber die Harmonie ist trügerisch. Einst eine von Menschen geschaffene, hoch technisierte Zivilisation hat sich die Natur die Insel über Jahrhunderte hinweg wieder zurückerobert. Ein einsamer Roboter hütet Tiere und Pflanzen, und ein riesiger Baum hat seine Wurzeln bis ins Herz des Bauwerks getrieben. Doch das wunderschön überwucherte Herz Laputas birgt ein riesiges Vernichtungspotenzial, einen atomaren Kampfsatelliten, um dessen Einsatz sofort ein erbitterter Kampf entbrennt.

Der schwierige Weg zur Utopie

Neben Das Schloss im Himmel handeln in Miyazakis Werk vor allem Nausicaä of the Valley of the Winds (1984) und Prinzessin Mononoke (1997) vom tödlichen Konflikt zwischen menschlicher Zivilisation und natürlichem Urzustand. Einem Konflikt, der immer Verrohung (des Menschen) und Zerstörung (der Natur und der in ihr beheimateten Götter) beinhaltet und absehbar in Untergang und allgemeine Vernichtung führt. Einerseits. Andererseits bergen das Meer der Fäulnis und der Wald des Todes (in Nausicaä) die Kräfte zur Selbstheilung der Erde, ist die Eisenschmelze der Herrin Eboshi (in Prinzessin Mononoke) ein Mittel zur Selbstermächtigung der Schwachen.

Das hauptsächliche Interesse des Regisseurs gilt dabei der Gestaltung der Dynamik des Konfliktfeldes – was, nebenbei bemerkt, ein Grund sein mag für die mitunter außerordentlich abrupt ausfallenden Auflösungen seiner Geschichten – und dort wiederum der sorgfältigen Klärung der Zusammenhänge. Miyazaki ist ein Erfinder von phantastischen Lebensformen und surrealen Welten, naiv ist er nicht. Die Vieldeutigkeit der beteiligten Faktoren, für die die Bauwerk gewordene Janusköpfigkeit Laputas als Symbol gelten kann, macht eine Entscheidung für oder gegen die menschliche Zivilisation alles andere als leicht.

Nausicaäs Bemühen um ein friedliches Zusammenleben mit den die Erde beherrschenden Rieseninsekten ist ebenso wie Eboshis Versuch, den Gott des Waldes zu töten, ein Schritt auf einem evolutionären Weg. Jedoch in je unterschiedliche Richtungen: Während das Mädchen Nausicaä um die Notwendigkeit weiß, „das zerrissene Band zwischen der Schöpfung und allen Kreaturen neu zu knüpfen“, meint die erwachsene Eboshi, in den göttlichen Waldtieren einen Aberglauben zu bekämpfen, der die Menschen knechtet. Was sich hier spiegelt, ist Machtgier und Gewalt als Ausdruck einer tiefen Angst vor Kontrollverlust. Der im technologischen Fortschritt rücksichtslos realisierte Machbarkeitswahn ist nicht mehr als die schlecht verhüllte Panik, die das erkennende Subjekt ergreift, wenn es sich allein in der Welt wähnt, der Willkür Gottes scheinbar ausgesetzt. Wie viel sicherer und wie verführerisch erscheint es da, Gott zu töten, das Irrationale zu bannen und alles, was kreucht und fleucht, zu unterwerfen.

Es sind die Kinder, die das Vage aushalten, die das Vertrauen in die Transzendenz noch nicht verloren haben und die daher dem göttlichen Funken am nächsten stehen. Ihnen vertraut Miyazaki die Rettung der Welt an. Nachdem sich der Rauch der apokalyptischen Feuer verzogen, das Beben der Erde sich gelegt hat und eine neue Ordnung geboren ist, besteht so vielleicht die Möglichkeit einer Erkenntnis. Jener Erkenntnis, die Sheeta ausspricht, bevor sie Laputa in die Luft jagt: „You cannot live parted from the earth.“