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Wolfgang Koeppen – Der Schriftsteller und das Kino

Der Schriftsteller und das Kino

| Jörg Becker |

Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Koeppen beginnt der Suhrkamp Verlag eine 14-bändige Werkausgabe des Jahrhundertautors. Ein Ausstellungsband und ein Briefwechsel mit Siegfried Unseld widmen sich dem Schriftsteller, der dem Film immer verbunden blieb.

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Zu Beginn stand die Tätigkeit als Filmkritiker, doch zu einer regelmäßigen Ausübung hat sich der Autor Koeppen weder als junger, angehender Journalist zuzeiten der Weimarer Republik beim Berliner Börsen-Courier
noch in der direkten Nachkriegszeit als Beiträger für die Neue Zeitung bereit finden können; seine Texte zum Kino blieben sporadisch. Immer wieder jedoch sollte das Kino einen Topos in seinem Werk bilden. Zudem sammelte er Praxis als Drehbuchautor, was für den Schriftsteller Koeppen primär ein finanzieller, kaum dagegen ein künstlerischer Gewinn gewesen sein dürfte. Allerdings zeigte sich Koeppen fasziniert von der modernen Kunstform, vom Illusionspotenzial ihrer Technik sowie der Arbeitsteiligkeit und der Organisationsleistung einer Filmproduktion. Was szenisch und atmosphärisch „herauskam“ im Kino, dürfte für Koeppens eigene Prosa annähernd den Stellenwert von Lektüren gehabt haben („Ich bin ein geborener Leser“), in freier Willkür ordneten sich die Text- und Bildzitate aus der subjektiven Erlebnis-Bibliothek über sein Schreiben einander an. Koeppen ist ein Schweiger, ein Beobachter, ein Wahrnehmer; Eindrücke aus Büchern dringen oft zwischen die Beobachtungen des Autors, sind auf zahllosen Reisen in seine Zustandsbeschreibung eingeflossen, sind assoziativ einmontiert, geschnitten kaum mehr als „sensomotorisches Band“ (in der Terminologie von Gilles Deleuze’ L’image-mouvement), sondern unabhängig von jeder Handlungs-Bewegung. Mit Blick auf die Schreibweise von Romanen der Moderne von „filmischen Techniken“ zu sprechen, hier insbesondere bezogen auf Koeppens „Romantrilogie“ zwischen 1951 und 1954 – Tauben im Gras, Treibhaus und Der Tod in Rom –, ist inzwischen zum Gemeinplatz geworden. Dass so genanntes filmisches Schreiben und das Schreiben für den Film absolut keine Gemeinsamkeiten besitzen außer der des sprachsymbolischen Rohstoffs, hat Koeppen in der lukrativen Phase seiner Filmstoffbearbeitungen hinlänglich erfahren.

Amerika-Bilder

Oft scheint in Koeppens Texten eine durchfahrene Gegend stärker von der Erinnerung an ihre literarische Beschriebenheit geprägt zu sein als durch ihre Gegenwärtigkeit. Das 1959 veröffentlichte Reisebuch Amerikafahrt, publiziert zwischen Nach Russland und anderswohin (1958) und Reisen nach Frankreich (1961) – viele dieser Texte sind Erweiterungen von Rundfunk-Reise-Hörstücken – verzeichnet für jede Station innerhalb der USA einen anderen ‚Klassiker’ der Romanliteratur. Koeppen führt seine Leser ‚anderswohin’, er geht seine eigenen Wege. „Ich reise etwa wie eine Romanfigur (…). Und statt einer Romanfigur bin dann ich es, der das erlebt und reflektiert, über den berichtet wird. (…) Es war entscheidend, wie es auf mich wirkte.“ (aus: Ich wurde eine Romanfigur, S. 126).

Koeppen überschreitet permanent die Gattungsgrenzen, dringt in den genannten Regionen in Mythologie und märchenhafte Bezirke vor, in literarische Gedankenbilder, mit denen seine Texte oft einsetzen; er scheint diese imaginative Herleitung zu brauchen, um der Empirie an Ort und Stelle zu begegnen. Als er von Boston aufbricht, liest er Kafkas Amerika, hinter Chicago Eine amerikanische Tragödie von Theodore Dreiser, und mit Stevensons Schatzinsel kommt er in San Francisco an, wo er mit Carson McCullers’ Das Herz ist ein einsamer Jäger fortfährt. Für ihn lässt sich Amerika ebenso wie durch Städte und Landschaften anhand von Autoren und Buchtitel beschreiben, so dass beide Ebenen einander in der Art von Palimpsesten überlagern. „Bald aber wuchsen die Gebäude, wie man es erwartet hatte, wie Filme, Bilderbücher und Träume es gezeigt hatten.“ (Amerikafahrt) Kein Zweifel, wenn er etwas aus seinem Bildungsfundus in der evidenten Wirklichkeit „wieder“findet, ist das gerade die Entdeckung und zugleich ein Triumph des Lesers. 1962 gab Koeppen diese Form der subjektiven vorstellungsreichen Reiseschriftstellerei des Romanciers auf, weil es ihm zur Routine zu werden drohte. In dem Bändchen Ich bin gern in Venedig warum (1994) sind später noch einmal Texte versammelt für einen gleichnamigen Fernsehfilm mit und über Wolfgang Koeppen, 1979/80 in Venedig unter der Regie von Ferry Radax produziert. Es heißt, Koeppen habe den Film für misslungen gehalten.

Fantasy als Phantasie

Während seiner Anstellung als Redakteur beim Berliner Börsen-Courier unter der Feuilletonleitung des Kritikers Herbert Ihering, seine ungemein produktive Periode zu Anfang der 30er Jahre, verfasste er auch Berichte von Dreharbeiten, die seine Begeisterung gegenüber der Inszenierungskraft künstlicher Welten dokumentieren. Anlässlich der Arbeiten zu dem futuristisch angehauchten Film F.P. 1 Antwortet nicht (1932; Regie: Karl Hartl nach einem Roman von Curt Siodmak) bestaunt Koeppen, wie eine ganze Insel, die Greifswalder Oie, in ein offenes Filmstudio verwandelt, mithin „Freilichtfilmerei“ vor natürlichen Kulissen möglich wird. „Der Trans-Ozean-Flug, heute noch eine Sache des Glücks, würde zum planmäßigen Passagierverkehr werden, wenn die Gefahr der weiten Strecke verringert, wenn Stützpunkte, Lande- und Tankstellen im Meer errichtet werden könnten“, so Koeppen. „Und ein Ingenieur erfand die schwimmende Insel aus Stahl. Die Flug-Plattform 1, die nicht im Meer verankert, sondern auf der Oie geschaffen wurde, und die nicht den Fliegern dient, sondern dem Film und eine stille Insel in ein lärmendes Babelsberg verwandelt hat.“ Der Fantasy-Charakter des Films, eine zweite Wirklichkeit zu schaffen, war ein Anziehungspunkt für Koeppen. 1933 drehte Gustaf Gründgens Die Finanzen des Grossherzogs, eine Satire über einen fiktiven Mittelmeerstaat, und Koeppen beobachtete den Set: „Gründgens steht vor einem amphitheatralisch aufgebauten Chor. Es ist der Chor aus dem Troubadour oder aus Carmen. Bunt, wild und südländisch. Und wie ein Bild des Kubismus, wie eine Person, die von Cocteau bestrahlt wurde, nimmt sich in diesem Volksgewimmel der Regisseur aus. Auf der Brücke seiner Hornbrille stößt wie ein Dach ein überdimensionaler gelber Lichtschirm vor die Stirn. Und dann das Temperament und die Gestik! Es ist der Regisseur par excellence, den wir sehen. Er beherrscht die Spielfläche wie ein Dompteur eine Manege voller Tiger.“

Nachdem der Berliner Börsen-Courier in der rechtsgerichteten Berliner Börsen-Zeitung aufgegangen war, hatte man im Frühjahr 1934 für Koeppen keine Verwendung mehr; der nutzte einen Honorarvorschuss des Verlegers Bruno Cassirer auf einen Roman zu einer Italienreise und traf dort seine „unglückliche Liebe“, Sybille Schloß – eine Begegnung, die ihn zu dem gleichnamigen ersten Roman erst inspirieren sollte. Eine lebensentscheidende Begegnung: Sybille verankert in dem Autor das libidinös besetzte Frauenideal der jugendlichen, hemmungslosen Freibeuterin, der ausschweifend vitalen Kindfrau, die früh mit den Dingen des Lebens in Kontakt ist. Doch nichts sollte sich einlösen, und Sybille emigriert Ende der 30er Jahre nach New York. Der ‚fatal attraction’ gegenüber dieser Imago folgt Koeppen nach Kriegsende durch die Ehe mit seiner 22 Jahre jüngeren Frau Marion (ein zentrales Lebenskapitel kreativer Verhinderung und Unterstrom suchtgleicher Abhängigkeit). Er lernt die 16-Jährige, die bereits mit Männern und Alkohol vertraut ist, 1944 im Tennis-Clubhaus Feldafing am Starnberger See kennen, wo unter den prominenten Besuchern eine nihilistische Feierlaune im Stile von „Genießt den Krieg, der Frieden wird fürchterlich“ herrscht. „Sie war mehr, was man heute ein Punk-Mädchen nennt“, sagt Koeppen 1989. Doch zurück nach Berlin: Noch 1934 lässt sich Koeppen, um Arbeitsdisziplin und Struktur in sein Autorenleben zu bringen, von der Sekretärin des Verlegers wochenlang täglich in ein leeres Büro sperren, um seiner Schreibverpflichtung zu genügen. So konnte Eine unglückliche Liebe noch im November desselben Jahres erscheinen, dem Monat, als Koeppen nach Den Haag in die Niederlande übersiedelte.

Gut durch schlechte Zeiten

Als 1936 sein ehemaliger Feuilletonleiter Ihering Besetzungschef der Tobis-Filmkunst wird, bekundet ihm der Emigrant Koeppen in Briefen sein großes Interesse am Film. Koeppen sieht die deutschen Ufa-Exportprodukte in Den Haag und stellt sich professionell ein, doch erst 1938, wenige Tage nach dem Novemberpogrom, gelingt es ihm, die Rückkehr nach Berlin zu arrangieren. Er war weit gediehen mit seinem Romanprojekt Die Jawang-Gesellschaft um einen holländischen Land-aristokraten, den eine unglückliche Affäre ins Kolonialreich Indonesien verschlägt, doch jetzt erhofft er sich berufliche Chancen in der deutschen Filmindustrie. Ein Roman in Arbeit (der nicht erscheint) schützt ihn zunächst vor der Einberufung zur Wehrmacht, später die Tätigkeit an Filmstoffen für die Tobis-Sascha (Wien), die Ufa (Babelsberg) und die Bavaria (München). Der Literaturwissenschafter Jörg Döring stellt in seiner 2001 erschienenen Untersuchung der Zeit Koeppens zwischen 1933 und 1948 die Kurzversion des Autors in der Erinnerung an jene Kriegsjahre („Ich stellte mich unter, ich machte mich klein“) durch erhebliche Indizienlast in Frage. Exposés, „Handlungsaufrisse“, Rohdrehbücher, Szenarien und komplette Drehbücher von mindestens zehn Filmprojekten lassen sich nachweisen, von denen vermutlich nur zwei realisiert wurden, und die auch nur als „Überläufer“, das heißt erst nach dem Krieg, aufgeführt werden: Jugendliebe (1943/47), eine gänzlich uminterpretierte Version von Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe, wozu die politische Vorgabe lautete, das tragische Ende der unglücklich Liebenden einer „lebensbejahenden Lösung“ zuzuführen; und der Kriminalfilm Die Nacht der Zwölf (1944/49), in dem Ferdinand Marian, Freund Koeppens und Darsteller des Jud Süss, einen Heiratsschwindler gibt, der unverkennbar das rassistische Judenstereotyp bedient. Eigene Stoffe bringt Koeppen nicht durch, arbeitet lediglich etwas Vorhandenes aus, er hält sich etwas darauf zugute, tunlichst „unter Niveau“ zu arbeiten; schließlich ist er als Filmautor „unabkömmlich“ und verdient zwischen 1940 und 1944 so viel wie vermutlich nicht noch einmal in seinem Leben. Will heißen: wie man sich’s in schlechten Zeiten wohl sein lassen kann. Dass man allerdings unter dem „Schirm“ der Ufa als verkappter Oppositioneller unter Gleichgesinnten wie auf neutraler Insel habe überwintern können, ist eine aufgebaute Legende.

Verschwunden in der Zeit

Diese großen Wellen der Autobiografie sind es, die der Schriftsteller für sein Projekt „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs“ seit den 70er Jahren als schier unüberwindliche Erzählmasse vor Augen gehabt haben muss und nicht mehr umzusetzen vermochte. Nach dem Krieg entstand 1946 ein Drehbuch Bei Betty, das als Vorläufer zu dem 1951 erschienenen Roman Tauben im Gras betrachtet werden kann – die Nazi-Ressentiments, der Schwarzmarkt, die Anbiederung an die Besatzungsmächte, eine Atmosphäre haltloser Lebensgier erfüllen einen Tag in München. Unter den damaligen Bedingungen des Produzenten- und Verleiherkinos war ein solcher Stoff nicht unterzubringen.  In den Credits taucht der erfolgreiche Romancier Koeppen in den 50er Jahren nur noch bei dem Film Der Gläserne Turm (Regie: Harald Braun, 1957) mit Lilli Palmer und Peter van Eyck auf. „Die Autoren, Odo Krohmann und – das erstaunt etwas – Wolfgang Koeppen sind unglaublich erfinderisch, immer neue Beziehungen zwischen dem unerfüllten Liebesleben der Managergattin und der gemütlosen, hysterischen Glasigkeit ihrer Wohnung zu entdecken, die ihrerseits wieder ein gewissenhaftes Abbild ihres Besitzers sein soll. Dieser gläserne Turm ist zu voll gestopft mit klebriger Metaphorik, als dass er wirklich ein durchschaubares oder gar scharfsinnig-satirisch verwendbares Symbol unseres Zustands wäre“ schrieb die brillante Feuilletonistin des Berliner Tagesspiegels, Karena Niehoff. Eingerahmt von kleinen Interviews mit dem bereits 80-jährigen Autor, beginnt der Film Das Treibhaus von Peter Goedel (1987) mit dem Ausschnitt einer Regierungserklärung von Helmut Kohl, der mit seinem Satz „Wir sind keine Wanderer zwischen Ost und West“ auf die Außenpolitik Adenauers rekurrierte. Dann handelt der Film von Koeppens Figur des Bundestagsabgeordneten Keeten-heuve, der zur entscheidenden Debatte um die „Wiederbewaffnung“ nach Bonn anreist. Der Münchner Regisseur Peter Goedel, der über Jahre mit Koeppen mit Ideen für Filme in Kontakt steht, spannt einen Bogen zwischen Dokumenten der restaurativen Nachkriegsgeschichte im Westen und der Fiktion des Romans um einen „unglücklichen Menschen, der es wieder gut machen will“ (Koeppen).

Goedel kann Koeppen kurz darauf tatsächlich noch einmal dazu bewegen, einen Film zu schreiben und auch selbst der Sprecher zu sein: Ortelsburg-Szczytno. Es war einmal in Masuren (1990). Als der Text erscheint, wird er seine letzte Veröffentlichung. „Ich denke an meine Schulzeit in Ortelsburg in Masuren“, so Koeppen, „das ist lange her. Es gab einen Krieg. Einen schweren Nachkrieg. Dann kam wieder ein Krieg. Ich hauste irgendwo in der feindlichen Welt. Ein Menschenleben zwischen mir und Ortelsburg … Ist der Ort der Kindheit verloren, in der Zeit verschwunden?“

Grosser Schweiger

In der „kleinen Form“ war Koeppen zeitlebens hochproduktiv, mit Blick auf die große Form. In der Befürchtung der langen Strecke, die er hätte zurücklegen müssen, um die erträumten Romanprojekte zu Papier zu bringen, musste er Techniken der Selbstüberlistung anwenden – etwa in einem extra angemieteten Büro, einem fremden Raum, in einer anderen Stadt schreiben, später auch mit mehreren Schreibmaschinen arbeiten.

Angedeutet ist hier die Blockade, die Schreibkrise, die nach Koeppens drei Reisebüchern – spätestens 1962, als ihm der Büchner-Preis verliehen wurde – einsetzte. Die Krise neben dem dichterischen Ruhm und der Verleihung weiterer bedeutender Literaturpreise – und womöglich hierdurch befördert – wird chronisch wie eine Krankheit und bestimmt das Verhältnis zu seinem Verleger Siegfried Unseld. Koeppen ist mit Wirkung vom 1. 1. 1961 Autor des Suhrkamp Verlags, 1972 unterzeichnet er den Generalvertrag, der sein Gesamtwerk für die Dauer des Urheberrechts an den Verlag bindet. Er bietet dem Verleger das „Du“ an. Dass der Verleger Unseld sich mit Koeppen einen Autor sichert, der seit dem Zeitpunkt seines Verlagswechsels Romanprojekte nur mehr in Fragmenten produziert – mit Ausnahme der kürzeren Prosa Jugend (1976 als Band 500 der Bibliothek Suhrkamp erschienen, der es bis in die Bestsellerlisten schaffte) – und als „großer Schweiger“ in die literarische Debatte eingeht, von dem das literarische Publikum gerade durch die anhaltende Abstinenz Wunderdinge oder wenigstens einen Jahrhundertroman erwartet (und diese Erwartungen zudem immer wieder durch kurze Vorabdrucke, durch viel versprechende Ankündigungen geschürt werden), bildet sicher eine der größten ironischen Volten auf dem deutschsprachigen Büchermarkt des 20. Jahrhunderts.

Anstelle des verhinderten Romans liegt nun, zehn Jahre nach Koeppens Tod, ein Briefgespräch als Roman mit zwei Stimmen vor. Es ist ein Gespräch, das um Verhinderung literarischer Produktion kreist. Die Korrespondenz zwischen Koeppen und Unseld auf fast 600 Seiten ist ein rührendes Zeugnis von Freundschaft, enormer Wertschätzung und auch Vertrauen, von autorieller Verzweiflung, verschiedenster Ausgestaltungen von Schuld und Sühne und lebenslanger solidarischer Hilfe des Freundes, der stets ein dringendes Interesse an dem fehlenden Manuskript geltend machte, auf das er so sehr hoffte, aber mit dem er nicht mehr „rechnen“ konnte. Immer wieder vertröstete Koeppen, machte Ankündigungen, die er nicht einhielt, geriet in höllische Geldnöte, aus der Unseld ihm ein ums andere Mal heraushalf. „Die Miete wurde noch am ersten April bezahlt. Aber vier Monate die Heizung nicht, …, das Licht nicht, …, das Telephon nicht, …, das Finanzamt nicht, …; die wollen pfänden, abschneiden, raussetzen, klagen, führen sich auf wie in alten Komödien.“ (Ich bitte um ein Wort, S. 193). Unseld schickt einen Scheck fürs erste, lädt den Autor überdies, der in München nicht tätig sein kann, nach Frankfurt, damit er sein Manuskript in Ruhe fertig stellen könne … allein es hilft nichts.

Textkristalle

Als Koeppens Nachlass, der heute als Wolfgang Koeppen-Archiv in Greifswald institutionalisiert ist, gesichtet wurde, eröffnete sich den Forschern ein riesiger Steinbruch aus Anfängen. Sie begegneten einer unübersehbaren Fülle zersplitterter Niederschriften und Konglomerate sowie zahllosen Entwürfen. Schon Koeppen hatte die Idee, einen Roman aus lauter Anfängen zusammenzusetzen, ohne zeitliche und logische Ordnung, wie Erinnerungen an Augenblicke, die wie archäologische Scherben sich zu einem Ganzen fügen. Wie ein Film in seinen ersten Minuten noch unschuldig ist, von transparenter Klarheit, poetisch wie ein Haiku zu
betrachten, so lässt sich auch in den literarischen Entwürfen, diesen kurzen traumluziden Textkristallen, die Idee zu einem Roman vorstellungsstark anlegen. Koeppen hat für sich lesbare Kapitel verfasst, verstreut publiziert, und die erste Edition nach Koeppens Tod versammelte die zunächst publikationsfertigen Manuskripte unter dem Titel Auf dem Phantasieroß. Prosa aus dem Nachlaß (2000) in einem 800-seitigen Band, in dem der Autor als „impressionistischer Mosaikenvirtuose“ zur Geltung kommt, der überwiegend auf Selbsterlebtes angewiesen war, „eine der großen autoskopischen Begabungen des Jahrhunderts“, so der Herausgeber Alfred Estermann. Journalistisch rasch geschnittene Texte zu Anfang, exzessive syntaktische Experimente nach dem Krieg, dazwischen auch Traumprotokolle und Romanansätze. In der Traumerzählung seiner Ankunft in Hoboken, New York sieht sich der Autor gegenüber einer Einwanderungskommission der Vereinigten Staaten. Ein Regisseur tritt auf, der Orson Welles benannt wird – in der Unabgeschlossenheit vieler Projekte, im Gestus des Selbstzitats und der vielfältigen Wiederaufnahme von Stoffen im Lauf seines Lebens gibt es tatsächlich so etwas wie Affinität mit dem Schriftsteller. Gerade ist der Träumer in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden – „Ein überaus sympathischer Mensch, der wie ein Ringkämpfer aussah, der an der Volkshochschule Vorlesungen über das Sein bei Kierkegaard hält, trat auf mich zu und sagte: ‚Sie kennen mich wohl aus den Illustrierten. Ich bin Orson Welles, der Regisseur.’ Ich stand auf und reichte ihm die Hand und sagte: ‚Wie geht es Ihnen? Ich würde gern Ihre Filme sehen.’ – ‚Diesen Wunsch werden wir Ihnen austreiben’, sagte Mister Welles. Und dann erhitzten sich Apparate, die Kamera-Augen glühten und sogen mein Gemüt in sich hinein, um es überall hin zu senden, wo ein Fernsehempfänger im trauten Heime stand. ‚Es ist eine einfache Schutzimpfung für unsere Landsleute. In winzigen Dosen überall hin verstreut, macht der Bazillus gegen die Ansteckung immun’, sagte der Vorsitzende der Einwanderungskommission, und ehe ich es gedacht, war alles vorüber, und ich fühlte mich behaglich, leicht und frei. Es war eine entscheidende körperliche Veränderung mit mir vorgegangen. Ich war dick, schwer und kräftig geworden.“ (Eine Hinrichtung, geschrieben zwischen 1945–1950, in: Auf dem Phantasieroß, S. 291)

Anfang ohne Ende

„Man kann alles in einem Film unterbringen; man muss alles in einen Film unterbringen.“ Von der Art dieses Godard-Statements aus dem Jahr 1967 erscheint die Haltung Koeppens, der unbedingter Autor ist, ohne Schemata, und der Schreiben als Lebensform betrachtete, auch wenn er nicht schrieb. Äußerst rar sind Koeppens theoretische Statements, deduzierbar, nie vorgegeben. Der ideale Roman, wie er ihn begriff, versuchte in einer weitgehenden Aufhebung der Zeit eine Simultaneität allen Geschehens herzustellen. „Jeder Vorgang gegenwärtig, jetzt und hier, kein Vorher und kein Nachher. Weder Vergangenheit noch Zukunft. Oder anders: die Zukunft von morgen war schon gestern und vorgestern und von Anbeginn.“ Die drei Romane der 50er Jahre folgen diesem Konzept der Gleichzeitigkeit, das Geschehen von Tauben im Gras findet an einem einzigen Tag statt. Nach den drei Reisebüchern, die durch klare Themen und Terminvorgaben gelingen können, sind Koeppens überbordende Einbildungskraft und der Traum von den großen Textkaskaden der Fertigstellung hinderlich; nichts ist wirklich abgeschlossen. Der Gedanke, dass ein Buch nie fertig sein, und man ein Leben lang daran arbeiten könnte, behinderte ihn als Alp ebenso sehr wie er ihn als Wunschtraum fasziniert hat. Koeppen: „Was ein Roman ist oder sein soll, wissen wir nicht. Behaupten wir also kühn, er kann alles sein.“

 

Wolfgang Koeppen: Werke
Hg. v. Hans-Ulrich Treichel.
14 Bände. Zuerst erscheint: Band 4:

Tauben im Gras.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 320 S.
(Editionsplan 2006–2011; Band 13: Drehbücher, Texte fürs
Theater ist für das erste Halbjahr 2011 angekündigt)

„Ich bitte um ein Wort…“
Wolfgang Koeppen – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel
Hg. v. Alfred Estermann und Wolfgang Schopf.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 584 S., 16 s/w-Abb.

„Ich wurde eine Romanfigur“
Wolfgang Koeppen 1906–1996
Von Hiltrud und Günter Häntzschel.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, Großformat,
176 S., zahlreiche Abb.