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Thomas Glavinic – Der Mensch hat viele mögliche Ichs

„ Der Mensch hat viele mögliche Ichs“

| Roman Scheiber |

Während das Drehbuch zu seinem Roman „Der Kameramörder“ entsteht, legt der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic sein neues Buch „Die Arbeit der Nacht “ vor.

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Er schreibt über historische Schachbegegnungen (Carl Haffners Liebe zum Unentschieden), menschliche Tötungsmaschinen oder darüber, Wie man leben soll. Dabei wechselt er behände den Schreibstil, passt den Sprachduktus dem jeweiligen Stoff an: Thomas Glavinic, aus Graz stammender, in Wien lebender Schriftsteller, bekam für seinen im Protokollstil gehaltenen Kurzroman Der Kameramörder den Glauser-Preis der Criminale 2001 (ray-Autor Günter Pscheider arbeitet derzeit mit Robert Adrian Pejo an einem Drehbuch). Am 5. August erscheint Glavinics neuer Roman Die Arbeit der Nacht bei Hanser.

Als Sie Ihren Roman Der Kameramörder schrieben, ahnten Sie da bereits, dass er sich zur Verfilmung eignen könnte?
Nein, darüber hatte ich nicht nachgedacht. Das Schreiben dieses Romans war insofern ein Glücksfall, als es nicht einmal eine Woche gedauert hat. Die Handlung hatte ich geträumt. Ein paar Tage später habe ich eine Seite probehalber geschrieben, dann wurden daraus zwölf Seiten, und nach sechs Tagen war das Buch fertig.

Was halten Sie generell von verfilmter Literatur?
Verfilmen kann man fast alles, es gibt sogar von Ulysses von James Joyce eine Verfilmung, die allerdings reichlich schräg ist. Ob der Film gut wird, hängt ja nicht vom Stoff, sondern von Regisseur, Schauspielern und anderen Faktoren ab. Stephen King ist kein schlechter Autor, aber Stanley Kubrick war der bessere Künstler – deshalb ist Shining so ein guter Film.

Wie gefällt Ihnen der Titel Austrian Psycho für die mögliche Verfilmung?
So wurden auch mehrere Rezensionen übertitelt. Da ich das Buch American Psycho nicht gelesen und die Verfilmung nach einer Viertelstunde abgedreht habe, kann ich damit wenig anfangen. Das war mir zu vorhersehbar. Ich habe stoßweise Bücher zu Hause, die sich wohl eher zu lesen lohnen. Zum Beispiel habe ich Krieg und Frieden noch nicht gelesen.

Als vorhersehbar wurde von manchen Kritikern auch das Ende des Kameramörders bezeichnet.
Der Schluss ist vollkommen vorhersehbar. Viele Leute waren dennoch überrascht, manche hatten zur Hälfte eine Ahnung, manche nach einer halben Seite. Dieser Enttäuschung muss ich entgegenhalten, dass ich keinen Krimi, sondern einen Roman schreiben wollte. Das Buch hat zwar den Glauser-Preis für den besten Krimi des Jahres 2001 bekommen, aber das war möglicherweise ein Missverständnis. Mir war die kriminalistische Auflösung am Schluss egal, wichtig war mir die, die sich über die Sprache vermittelt. Ich wollte ein Buch schreiben, in dem sich der Mörder über seine karge, eigentlich gewalttätige Sprache verrät.

Wie würden Sie selbst den Kameramörder verfilmen?
Theoretisch könnte ich mir vorstellen, alles mit einer subjektiven Kamera aus der Sicht des verrückten Erzählers zu drehen. Es gibt ja eine überzeugende Bühnenfassung von Thomas Maurer, die mit Videoprojektionen im Hintergrund gearbeitet hat. Man könnte auch einfach einen Menschen an einen Tisch setzen und erzählen lassen. Aber das soll alles nicht mein Problem sein. Ich möchte auch nie ein Drehbuch zu einem meiner Bücher schreiben, der Stoff ist für mich abgeschlossen. Da widme ich mich lieber einem neuen Roman.

Bevor wir zu Ihrem neuen Roman kommen: Einer der Gründe für den Preis war die Medienkritik, die im Kameramörder enthalten ist. Welche Haltung haben Sie zum Fernsehen?
Ich bin Konsument, wenn auch kein kritikloser. Mit dem Kameramörder bin ich nicht selten missverstanden worden: Medienkritik an sich ist mir persönlich nicht so wichtig. Ich würde keine Essays über die Programmgestaltung von ORF oder RTL2 schreiben. Wenn ständig Mist im Fernsehen läuft, sollen die Leute eben mehr lesen, das ist doch gut! Der Kameramörder sollte ein Buch werden, das in sich funktioniert, die medientheoretischen und sozialen Implikationen haben für mich nicht so eine wichtige Rolle gespielt. Außer, dass die Handlung sozusagen in eine höhere gesellschaftliche Wahrheit eingebettet ist.

Gewissen US-Bestsellerautoren wird nachgesagt, sie hätten die Gabe, in filmischen Szenen zu schreiben, weshalb sich ihre Bücher so gut zur Verfilmung eigneten. Stellen Sie das auch an sich selbst fest?
Die denken und schreiben tatsächlich in Szenen und verlieren sich nicht in Innerlichkeit, wie es in der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahrzehnte häufig zu lesen war. Natürlich sind US-amerikanische Autoren dadurch nicht automatisch die besseren Autoren. Aber es hilft dem Leser, der ja aus dem gelesenen Wort Bilder erzeugt, wenn der Schriftsteller in Bildern denkt. Ich persönlich sehe meine Bücher, bevor ich sie schreibe.

Sind Sie ein intuitiver Schreibtyp?
Insofern ja, als ich manche Entscheidungen unbewusst treffe, also nicht genau weiß, warum ich dies oder jenes mache. Ich weiß nur, ich gehe den richtigen Weg. Wenn ich falsch abbiege, merke ich das bald, so nach zwei, drei Seiten, und spule zurück.

Glauben Sie, mit Ihrem neuen Roman Die Arbeit der Nacht einen Bestseller landen zu können?
Was ist ein Bestseller? In Österreich ein Buch, das sich 4.000 Mal verkauft. Viel ist das nicht. Ich spekuliere lieber nicht mit Erfolg und Verkauf, ich lasse die Dinge auf mich zukommen.

Ihrem Kollegen Daniel Kehlmann ist – durchaus überraschend für einen historischen Roman – mit Die Vermessung der Welt ein Vielfaches dessen gelungen …
Das fand ich nicht überraschend, weil fast jeder Stoff ein Bestseller werden kann, wenn einer nur gut genug schreibt. Das Buch ist einfach brillant, deshalb ist es ein Bestseller geworden.

Mit welcher Lesart von Die Arbeit der Nacht können Sie etwas anfangen: Traumforschungsbuch? Angststudie? Ein Stück über die Einsamkeit? Oder ein Liebesroman?
Mit eins habe ich Schwierigkeiten, mit zwei, drei und vier kann ich etwas anfangen. Ich glaube nicht, dass man das Buch einem Genre zuweisen kann, aber es hat Elemente eines Liebesromans. Die Liebe ist vielleicht eines der Hauptmotive. Es geht auch um Einsamkeit und Angst. Und um das, was man sieht, wenn man die Augen zumacht. Was die Traumforschung angeht: In der Literatur ist es eben möglich, die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen zu lassen. Das gilt auch für dieses Buch. In der Situation, in der meine Hauptfigur ist – es sind ja alle anderen Menschen verschwunden –, ist Wirklichkeit und Traum vielleicht nicht mehr ganz so leicht unterscheidbar. Träume sind hier sozusagen Ergänzungen zur Wirklichkeit.

Ohne einen unmittelbaren Vergleich ziehen zu wollen: Die Geschichte hat mich an ein Element aus manchen Filmen von David Cronenberg erinnert, wo ein fantastisches oder übernatürliches Setup in radikaler Erzählkonsequenz und logischer Emotionalität weitergedacht wird.
Das klingt, als sollte ich mir Filme Herrn Cronenbergs ansehen, die könnten mir gefallen.

Noch eine Parallele zu Cronenberg: Die Figur Ihres Romans wirkt wie eine Ratte im Tierversuch.
Das kann man vielleicht so empfinden. Ich glaube allerdings, dass wir alle Versuchsratten sind. Auch wenn das vielleicht eine pessimistische Sicht der Dinge ist.

Bezieht sich Ihre pessimistische Sicht auf alle Menschen?
Jeder Mensch muss sich bewusst sein, dass auch in ihm ein Rassist und Gewaltverbrecher steckt, der unter bestimmten Umständen herauskommt. Auch wenn es banal klingt, und Banalität in diesem Zusammenhang nicht leicht erträglich ist: In einer Welt, in der Auschwitz möglich ist, sollte man sich über das menschliche Potential an Niedertracht keinen Illu-sionen hingeben.

Was können Sie mit dem Begriff „transformierende Identität“ anfangen? An einer Stelle Ihres Romans heißt es, der Mensch verändere sich so stark, dass er im Lauf von drei Jahren zu einer anderen Persönlichkeit wird.
Naja, auf alle Menschen trifft das natürlich nicht zu. Der Mensch hat viele mögliche Ichs. In vielen meiner Romane spielen mögliche oder abgelegte Ichs von mir eine wesentliche Rolle. „Spielen“ ist hier wohl das Schlüsselwort, das Spielerische stand für mich zumindest beim Kameramörder im Vordergrund.

Wird der Autor Glavinic von Buch zu Buch ein anderer?
In erster Linie geht es darum, mich künstlerisch zu entwickeln. Ich möchte mich nicht wiederholen oder 30 Jahre lang dasselbe machen und mich dennoch einen Avantgardisten nennen. Das wäre absurd, aber so etwas gibt es in der österreichischen Literatur. Die Herausforderung besteht für mich darin, den Stoff zu bewältigen. Es ist nicht ganz einfach, einen umfangreichen Roman mit nur einer handelnden Figur zu schreiben, man hat recht beschränkte Möglichkeiten der Variation. Ich war neugierig, ob mir das gelingt. Der wechselnde Duktus meiner Bücher erklärt sich aus den unterschiedlichen Stoffen.

Wer war Thomas Glavinic, als er zu schreiben begonnen hat?
Was vermutlich die meisten Autoren waren: ein Kind. Mit elf Jahren habe ich das Drehbuch zu einem Seeräuberfilm geschrieben, inspiriert von einer damals populären Fernsehserie namens Jack Holborn mit Patrick Bach.

Können Sie sich mittlerweile erklären, warum Sie im Alter von 13 Jahren eine Klotür aus dem Fenster des dritten Stocks eines Grazer Gymnasiums geschmissen haben?
Nein, das war auch eine Entscheidung, die sich in einem unbewussten Bereich abgespielt hat. Obwohl ich zwischen Vandalismus und Romanschreiben ansonsten wenig Gemeinsamkeiten erkennen kann. Vielleicht hatte ich mir ja intuitiv einen Schulverweis gewünscht, der dann auch erfolgt ist. Im Nachhinein war es das Beste, was mir passieren konnte, weil ich mich in diesem Grazer Gymnasium ohnedies nicht wohl gefühlt hatte. Danach kam ich an eine andere Schule. Dort habe ich begonnen, mich selbst zu erziehen, und es scheint, dass ich letztlich doch noch ein einigermaßen zurechnungsfähiger Mensch geworden bin.

Ein geflügeltes Wort in Künstlerkreisen heißt „My art keeps me sane“. Gilt das auch für Sie?
Sagen wir es so: Hätte ich nicht meine tägliche Arbeit am Schreibtisch, dann würde ich mich eines Tages in der einen oder anderen Form des betreuten Wohnens wiederfinden.