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Crazy, Not Insane

Dokumentarfilm

Crazy, Not Insane

| Pamela Jahn |
Warum töten Menschen? Ein Dokumentarfilm von Alex Gibney geht der Frage mit Hilfe der Gerichtspsychologin Dorothy Lewis nach.

Ted Bundy gilt in den USA als Rockstar unter den Serienmördern: ein knallharter Killer und Soziopath zwar, der das Land zwischen 1974 und 1978 in Angst und Schrecken versetzte, aber mit weichem Kern, gutaussehend, charmant und intelligent. Mindestens 28 Frauen hat er zunächst umworben, dann verschleppt, vergewaltigt, ermordet und ihre Leichen teilweise auf bestialische Weise verstümmelt. Und das sind nur die Fälle, die ermittelt wurden. Am 14. Januar 1989 wurde er dafür im Florida State Prison auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Dennoch sind die Menschen, vor allem Frauen, bis heute fasziniert von dem Mann, dem Phänomen und dem Kontrast zwischen Liebhaber und Monster, der Bundys Aura beflügelte – eine Aura, auf die sich seither viele Serienmörder in der Literatur wie im Film stützen, und die zuletzt Zac Efron in seiner Darstellung des eleganten Massenmörders in der Netflix-Produktion Extremely Wicked, Shockingly Evil and Vile auszuspielen verstand.

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Eine der letzten Personen, die mit Bundy vor seiner Hinrichtung sprach, war die Gerichtspsychologin Dorothy Lewis, die zuvor als Zeugin der Verteidigung in seinem Prozess ausgesagt hatte. Bundy hatte explizit nach ihr verlangt, wollte noch etwas loswerden, das er niemandem sonst anvertrauen würde. Denn sie allein, schien es ihm, hätte ihn nicht von vornherein als „böse“ abstempelt, sondern nach den Gründen gesucht, die ihn letztlich zu seinen Gräueltaten verleitet haben. Die Nachzeichnung des Gesprächs, das Lewis mit Bundy in der Todeszelle führte, gehört zu den eindringlichsten Momenten in Alex Gibneys neuer Dokumentation Crazy, Not Insane, in der er Lewis und ihre unermüdliche Aufklärungsarbeit in Sachen Kriminalpsychologie, Täterprofil und Ursachenforschung ins Zentrum rückt.

Bundys Fall ist nur einer von vielen, die Lewis in ihrer Karriere beschäftigt haben. Insgesamt 22 Serienmörder (darunter weitere berüchtigte Todeskandidaten wie Arthur Shawcross und Johnny Frank Garrett) und unzählige „herkömmliche“ Einzeltäter hat sie auf neurologische Funktionsstörungen hin untersucht, um herauszufinden, wo Zusammenhänge bestehen und wie sich traumatische Kindheitserfahrungen wie Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung im jeweiligen Täterprofil widerspiegeln. Ihre Befunde erweisen sich dabei also so faszinierend wie aufschlussreich, aber auch herausfordernd, und zwar nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen, sondern vor allem in Hinblick auf ein Rechtssystem wie das amerikanische, das in erster Linie auf Bestrafung und Vergeltung ausgerichtet ist und nicht, wie es Lewis vorschlägt, auf Prävention.

In der Vergangenheit musste sie für ihre Arbeit viel Kritik einstecken. Eine größere persönliche Belastung scheint es jedoch für sie zu sein, dass sie Bundy zunächst falsch einschätzte und erst im Nachhinein auch bei ihm die Vorstellung vom immanenten Bösen in Frage stellte. Das merkt man am leichten Zittern in ihrer Stimme, das zum Vorschein kommt, wenn sie heute über den Fall spricht, mittlerweile in ihren Achtzigern, aber als Gesprächspartnerin noch immer so klug, scharfsinnig und eloquent, dass man sich unmittelbar in den Bann ihrer Argumentation gezogen sieht.

Für Gibney, der erst vor kurzem auf HBO mit seiner Dokumentation Totally Under Control auf die verheerenden Versäumnisse der US-Regierung unter Trump hinwies, stellt die kluge Psychiaterin mit ihren klaren Auffassungen, den wertvollen Erfahrungen und dem massenhaften Archivmaterial ein willkommenes Sujet her, um diesmal auch seine kreative Seite als Dokumentarfilmer etwas deutlicher in den Vordergrund zu stellen. In einer dynamischen Komposition bringt er neben Videoaufzeichnungen aus dem Gerichtssaal und dem Todestrakt zudem grobgezeichnete Schwarzweiß-Animationen ins Spiel, um die Tonbandaufnahmen zu illustrieren, anhand derer Lewis einige Fälle und Schlüsselpunkte in ihrer Karriere nachzeichnet, während Laura Dern ernst und unaufgesetzt Lewis‘ literarischer Stimme Nachdruck verleiht. Darüber hinaus kommen weitere Hautakteure aus dem professionellen Umfeld von Lewis zu Wort, zu denen auch der FBI-Spezialagent Bill Hagmaier gehört, der den Angeklagten Bundy im Todestrakt interviewte.

Am stärksten bleiben jedoch ihre eigenen Aussagen, wenn sie beispielsweise hinterfragt, warum immer wieder Menschen, auch wenn sie mehrfach gemordet haben, mit der Todesstrafe geahndet werden, anstatt nach Wegen zu suchen, die Umstände vorzubeugen, die sie zu ihren Gräueltaten veranlasst haben. Ihre Arbeit zeigt immerhin, dass es auch anders gehen kann. Dass Mörder gemacht und nicht geboren werden. Und dass es langfristig ratsam ist, einem System abzuschwören, das allein auf Rache drängt, und es stattdessen viel wichtiger wäre, den Mut zu haben, zukünftig mehr auf Menschlichkeit zu setzen.