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Dossier : Alles anderes, alles wie gehabt

Alles anderes, alles wie gehabt

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9/11 im Spiegel der Literatur.

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Wie können sie nur schlafen?“ Der einzige aufrecht Sitzende im Bett fragt sich das, die Augen entsprechend weit aufgerissen, auf dem Gesicht Bartstoppel, eine Zigarettenkippe im Mundwinkel. Umgeben ist er von lauter friedlich schlummernden Gesichtern. „Hat die Welt vielleicht schon aufgehört zu enden? Wollte vielleicht nur ich, dass sie endet, um meine Ängste seit dem 11. September rechtfertigen zu können? Oder hat doch nur meine kleine Welt aufgehört zu existieren? Andererseits: Ein Blick in die Nachrichten genügt, und es gibt gar keinen Zweifel,“ – sein Mund ist mittlerweile zum Schrei bereit – „der Himmel fällt herunter!!!“

Noch ist der Cartoon aus In the Shadows of No Towers, jenem Buch des New Yorkers Autors Art Spiegelman, in dem er seine Eindrücke zu den Attentaten auf die World Trade Center grafisch festgehalten hat, nicht zu Ende. Ganz unten auf der Seite – beinahe jede Seite des Bands hat vertikales Format, den Türmen des World Trade Centers angepasst – sind alle anderen wach, verstört und ein wenig verärgert über den Lärm – dafür schläft jetzt der Rabauke. In einer Sprechblase teilt er uns noch etwas mit: Sich zu beschweren, das bleibe in diesen Zeiten sein einziger Trost.

Persönliche Betroffenheit als eigenes Gut

Spiegelman trifft hier einen neuralgischen Punkt der neueren Literatur zu 9/11. Anstatt die Attentate als kollektive Erfahrung zu rekonstituieren, eine Aufgabe, die zumindest das US-Mainstreamkino mit Paul Greengrass’ United 93 und Oliver Stones World Trade Center im Moment zu übernehmen scheint, isolieren etliche Schriftsteller die verheerenden Anschläge zum individuellen Ereignis, das eine Vielzahl von widersprüchlichen, aber wiederum individuellen Reaktionen provoziert.

Spiegelman skizziert auf den wenigen großflächigen Seiten seines Buchs zwar eine Welt, die aus den Fugen ist. Es gibt Verweise auf den Holocaust, wenn er den Geruch über Ground Zero zu beschreiben versucht; auf die paradoxen politischen Reaktionen und konspirativen Theorien, die der Paranoiker in ihm dankbar entgegen nimmt. Doch bei alldem bleibt Spiegelman der New Yorker Intellektuelle, der er schon vor den Anschlägen war. Zwischen der Authentizität des subjektiv erlebten Terrorakts und der nationalen Aufwallung, die diesem folgte, droht er aufgerieben zu werden. Er rückt sich in seinen Comics selbst ins Bild und gerät angesichts der politischen Instrumentalisierung der Anschläge, der sukzessiven Einschränkung von Meinungsfreiheit, die sich als solidarisches Wir-Gefühl tarnt, immer mehr in Rage. Die wahre Herausforderung nach dem 11. September liegt für ihn darin, die persönliche Betroffenheit als sein eigenes Gut zu erhalten. Sein Trauma darf nicht zu dem einer ganzen Nation werden. Denn in einer verkehrten Welt bleiben auch viele Dinge gleich. Nicht nur die antisemitische Obdachlose gleich um die Ecke.

Anlass zur Selbsterkundung in Romanform

Die Verunsicherung, die aus dem Eindruck resultiert, dem gewohnten Leben nicht mehr so wie früher nachgehen zu können, steht auch im Mittelpunkt von Romanen, in denen 9/11 vielleicht weniger Thema als ein symbolischer Einschnitt ist – ein Riss, der von außen zugefügt, nunmehr innere Dynamiken bewirkt. In Jonathan Safran Foers Extrem laut und unglaublich nah verliert der neunjährige Erzähler seinen Vater bei den Anschlägen: der Beginn einer Irrfahrt durch New York, bei der nicht nur die Geheimnisse der Familie aufgedeckt, sondern auch Parallelen zur Bombardierung Dresdens oder zu Hiroshima gezogen werden. Bei Safran Foer ist die Katastrophe Anlass zur Selbsterkundung, innerhalb einer Genealogie des kollektiven Leids, wenngleich ohne konkrete politischen Bezüge.

Risse im weltanschaulichen Fundament

Das unterscheidet den Roman von Ian McEwans Saturday, der zwar in London angesetzt ist, aber dennoch ein Lebensgefühl beschreibt, das ohne die Nachwirkungen des 11. September kaum denkbar wäre. McEwan erzählt einen Tag aus dem Leben des Neurochirurgen Henry Perowne, einem geradezu vorbildhaften Repräsentanten der bürgerlich-liberalen Kultur. Schon am Beginn des Romans, wenn der Held schlaflos am Fenster stehend meint, ein Flugzeug mit brennendem Triebwerk zu sehen, schreibt sich in die Selbstgewissheit dieses Daseins ein leiser Zweifel ein. Die innere Unruhe, das Gefühl einer latenten Bedrohung – es ist der Tag der großen Anti-Kriegsdemonstration in London – verlässt Perowne nicht mehr. McEwan dringt mit kunstvollem Realismus in ein Denken vor, in dem bislang unerschütterliche weltanschauliche Fundamente zwar nicht umgestürzt werden, dafür aber zumindest merkbar Risse zeigen. Perownes Rationalismus ist wie altes Uhrwerk ein wenig aus dem Takt. Dass es schließlich ein viel profaneres Ereignis sein wird, das seine Familie bedroht, ist weniger ironische Wendung als ein weiteres Indiz einer Wahrnehmung, die von untergründigen Ängsten besetzt ist.

Zombies im Flammenmeer

Auf einer weitaus größeren Skala diffuser Ängste, die für die Zeit nach 9/11 charakteristisch sind, operiert der jüngste Roman Stephen Kings, Puls. Ein über Handys übertragener Impuls lässt Menschen zu triebhaften, Zombie-ähnlichen Wesen degenerieren, die sich nach einer kurzen Zeit der Orientierungslosigkeit zu Horden organisieren und mittels Telepathie kommunizieren. King entwirft ein Horrorszenario, das gleichermaßen aus dem Schatz des Zombie-Films plündert – besonders George A. Romeros Tetralogie steht hier Pate – wie es ein Recycling aktueller Terrorgefahren betreibt. Der Rückgriff auf ein Genre, das schon immer für politische Gegenwarten gewappnet schien, erweist sich in Puls als kluger Schachzug. Das postapokalyptische Geschehen gerät zur Bewährungsprobe für zivilisatorische Werte: An welche ethischen Grundsätze hält man sich in einer Ausnahmesituation? Schon immer vermochte die fantastische Literatur solche Fragen plastischer auszuloten. King lässt ein ganzes Stadium voll ruhender Zombies in einem Flammenmeer aufgehen und holt mit solchen präventiven Gegenmaßnahmen, die zumindest auf einer imaginären Ebene mit Massenvernichtungsszenarien vergleichbar sind, den „Krieg gegen den Terror“ ins Landesinnere zurück.

Wo King die Erschütterungen von 9/11 zeitlich und räumlich weiter denkt, da kehrt Jay McInerneys The Good Life an den unmittelbaren Schauplatz zurück. Der „toxic twin“ von Skandalautor Bret Easton Ellis, für seine Beschreibung exzessiver Lebensstile ebenso bekannt wie für eigene Eskapaden, hat die vielleicht bislang gültigste „9/11 novel“ geschrieben.

Ausbruch nach dem Einschnitt

Der Roman beginnt am 10. September 2001. McInerney breitet zwei unterschiedliche Milieus aus: ein Dinner bei den Calloways, einer hippen New Yorker Intellektuellenfamilie, und eine Charity-Veranstaltung, bei der die McGavocks zugegen sind. Letztere leben an der Upper East Side, das bedeutet in Manhattan: in einer anderen Welt, nämlich jener der vermögenden Wasp-Oberklasse.

Die Anschläge selbst sind in The Good Life nicht präsent, dafür aber die Folgen im Selbstverständnis der New Yorker. Luke McGavock entkommt nur durch Zufall dem Tod und betrachtet das als Zeichen, unter sein bisheriges Leben einen Schlussstrich zu ziehen. Corinne Calloway findet in Hilfsdiensten rund um Ground Zero eine willkommene Abwechslung von ihrer Rolle als Mutter, die sie ohnehin nicht ausfüllt. Es kommt ein wenig so, wie es kommen muss: Die beiden treffen aufeinander und verlieben sich. Der historische Einschnitt durch die Attentate wird zur Möglichkeit, sich den Unzulänglichkeiten des bisherigen Daseins zu stellen, mehr noch: zur Gelegenheit, aus scheinbar unverrückbaren Verhältnissen auszubrechen. Weil das aber die umgekehrte Bewegung zu jener Grundstimmung ist, die nach dem 11. September in New York vorherrschte – die eines Zusammenrückens und Beharrens auf gemeinsam geteilte Werte – liegt genau darin auch die Stärke des Romans. McInerney führt sein Paar genau zu jenem Moment hin, der alles in beider Leben verändern könnte und zeigt dann doch auf, dass vielleicht gar nicht so viel anders sein wird als vor dem 11. September. Was antwortet darin noch mal ein Feuerwehrmann auf die Frage, wo er zur Zeit der Anschläge war: „Ich fürchte, da hab ich noch geschlafen.“