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The Science of Sleep – Für immer zwölf

Für immer zwölf

| Bettina Schuler |

In „The Science of Sleep“ versetzt der französische Videoclip- und Filmregisseur Michel Gondry den Zuschauer in seine Kindheit zurück und liefert Einblicke in eine fantastische Welt aus Wolle und Pappmaché…

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Werde groß und mündig, aber bleibe in deinem Innersten immer ein Kind.“ Das sind die Regeln, die Peter Pan in dem gleichnamigen Buch von James Matthew Barrie für die fantastische Welt von Nimmerland aufstellt. Auch Michel Gondry hat sich der ewigen Kindheit verschrieben: I’ve Been Twelve Forever lautet nicht nur der Titel einer 75-minütigen Dokumentation über den Regisseur, sondern es ist auch sein Arbeits- und Lebensmotto. Eine Mischung aus tschechischen Märchenfilmen, Augsburger Puppenkiste und Effekten aus Trickfilmkiste von Georges Méliès, das ist der Stil des 43 Jährigen, der nach seinem Kinodebüt The Human Nature (2001), der zauberhaften Liebesgeschichte Eternal Sunshine of a Spotless Mind (2004) und der wenig verspielten Dokumentation Dave Chapelles’s Block Party (2005) nun mit The Science of Sleep wohl seinen persönlichsten Film präsentiert. Nicht nur, weil er bei diesem Projekt das Drehbuch ohne Charlie Kaufman verfasste und der Film erstmals in seiner Heimat Frankreich spielt, sondern auch, weil die Figur des Stéphane (Gael García Bernal) eindeutig sein eigenes, nicht altern wollendes Ego widerspiegelt.

Stéphane ist ein verträumter Bursche, der nach dem Tod seines Vaters aus Mexiko zurück zu seiner Mutter in eine Pariser Wohnung kehrt, um dort einen langweiligen Job als Grafiker bei einer Kalenderfirma anzunehmen. Aus Frust über den grauen Alltag der Realität zieht er sich in jeder freien Minute in die Traumwelt des Schlafes zurück. Dort lässt er in einem Fernsehstudio aus Eierkartons und Pappmaché die Ereignisse des Tages Revue passieren und von geladenen Gästen – darunter seine Mutter und sein verstorbener Vater – ausgiebig kommentieren. Erst als er auf seine ähnlich verträumte Nachbarin Stéphanie (Charlotte Gainsbourg) trifft, die in einer selbst gebastelten Welt aus Stofftieren und einem Meer aus blauem Zellophan lebt, beginnt er sich in der Realität wohl zu fühlen. Doch immer, wenn die beiden Verliebten einander zaghaft annähern, verdeckt ein verwirrender Traum das Glück in der Realität – bewegt einer der Beiden sich auf den Anderen zu, macht der Andere einen Schritt zurück. „Parallel synchronized randomness“, wie Stéphane es nennt. Nur im Traum wird
diese Pattsituation endgültig aufgelöst.

Versionen der Liebe

Ebenso wie in Eternal Sunshine steht in The Science of Sleep die eine große Liebe im Mittelpunkt des Geschehens, von der man die Finger nicht lassen kann, mit der man aber auch auf Grund von alltäglichen Missverständnissen, Macken und Charaktereigenschaften immer wieder aneinander gerät. Es geht nicht ohne sie, und es geht nicht mit ihr. Eine ausweglose Situation, die nur durch die Leichtigkeit des Traumes aufgelöst wird. In Eternal Sunshine zieht Clementine (Kate Winslet) vor diesem ausweglosen Dilemma die seelische Notbremse: Sie lässt von einem Unternehmen jeden Gedanken an Joel (Jim Carrey) und ihre Beziehung mit ihm löschen. Doch die Kraft ihrer Träume und Herzen überlistet die Maschinen der Techniker. In The Science of Sleep aber gelingt es den beiden Verliebten nicht, ihre Beziehung in die Realität zu retten; allein im Traum sind sie glücklich vereint. Gondry erzählt gewissermaßen zwei Versionen der Liebesgeschichte von Stéphane und Stéphanie: auf der Ebene der Realität ihr Scheitern wegen leidiger Missverständnisse und Eitelkeiten, in der Welt des Traums die Leichtigkeit und das Beflügelt-Sein des ersten Liebesrausches. Die Liebe, die in Eternal Sunshine aus dem Unterbewusstsein der Protagonisten in die Realität gelangt, bleibt in The Science of Sleep im Traum gefangen.

Filmischer Kindergeburtstag

Trotz der unglücklichen Liebesgeschichte hinterlässt der Film ein Gefühl von Kindergeburtstag mit Schokoladenkuchen, Zauberkünstlern und einer Sternschnuppe in der Nacht. Selten hat man einen so verspielten und liebevoll ausgestatteten Film gesehen, der vor detailverliebten Ideen strotzt, und es trotzdem schafft, eine runde Geschichte über knapp zwei Stunden zu erzählen. Und der sich noch dazu traut, seine Figuren drei verschiedenen Sprachen – Französisch, Englisch und Spanisch – reden zu lassen. (In der deutschen Synchronfassung bleiben leider nur noch Deutsch und Französisch übrig.)

Es sind die kleinen Details, die Gondrys Filme zu etwas Einzigartigem machen, für die bereits seine Videos verehrt wurden und dank derer man das Universum des Michel Gondry auf den ersten Blick wieder erkennt: The White Stripes, Daft Punk, Björk, die Namen von Gondrys musikalischen Auftraggebern sind groß. Trotz einer Vielzahl an Clips hat Gondry für jeden Einzelnen etwas ganz Eigenes entworfen, passend zur jeweiligen Musik und zum jeweiligen Stil: Ob die verträumten Welten aus Wasser und Gestein in Björks Video Joga, das Ballett aus Badenixen, Skeletten und Mumien zu dem Daft Punk-Song Around the World oder die Männchen aus Wolle und Strick in dem Steriögram-Clip Walkie Talkie Man, kein Video gleicht dem anderen. Und doch haben sie alle den gewissen Gondry-Touch gemeinsam: einen Mix aus Drama, Fantasy, Komödie und natürlich Trickfilm.

Man könnte den Franzosen als Autoren-Trickfilmer bezeichnen, der anders als Hollywood-Kollegen wie Tim Burton für seine fantastische Welt keines millionenschweren Budgets bedarf, sondern wie ein Heimwerker aus kleinen Dingen seine eigene wundersame Welt zaubert. Wie seine Videoclip Regiekollegen Chris Cunningham und Spike Jonze perfektioniert Gondry in seinen Kinofilmen Tricks und Effekte, mit denen er in seinen Clips experimentiert. Doch im Gegensatz etwa zu Cunninghams düsteren Welten zeichnen sich Gondrys Clips stets durch etwas kindlich Naives aus: eine bunte Spielwiese aus Wolle, Holz und Legosteinen.

Leichte Sicht auf die Welt

In The Science of Sleep wirft man aber nicht nur einen Blick in den Werkzeugkasten des Filmemachers, sondern wird auch mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit des Kinos katapultiert: Das Surreale aus den Filmen von Georges Méliès, die fabelhaften Choreografien aus den Hollywood-Musicals von Busby Berkeley (die Gondry bereits in seinem Chemical-Brothers-Video Let Forever Be anklingen lässt) oder auch die unglaublichen Stop-Motion-Tricks eines Charly Bowers, sie alle finden ihren Platz in der wunderbaren Gondry-Welt. Nur selten kehrt er in The Science of Sleep noch auf die reale Ebene der Filmhandlung zurück, viel lieber verliert er sich in den kindlichen Traumwelten seiner Protagonisten.

Wie in The Human Nature, in dem er die Liebesgeschichte zwischen dem verwilderten Puff (Rhys Ifans) und der extrem behaarten Lila (Patricia Arquette) erzählte, eröffnet Gondry mit seiner außergewöhnlichen Erzählform und durch seine beiden Helden Stéphane und Stéphanie dem Zuschauer einen andere, leichtere Sicht auf die Welt. War es bei Lila auf Grund ihrer starken Körperbehaarung eine gezwungene Flucht in die Natur, die sie davor rettet, an sich und ihrem Schicksal zu verzweifeln, so ist die Parallelexistenz in der Traumwelt bei Stéphane und Stéphanie frei gewählt. Durch ihr Abdriften in die Welt der Kindheit, der Tagträume und Illusionen versuchen sie das letzte Stück Kind in sich zu retten, um nicht endgültig gefangen zu sein in der grauen Welt der Erwachsenen, zu der sie eigentlich schon längst gehören. Auch wenn insbesondere Stéphane ständig aneckt und im Grunde ein Loser ist, so erhaschen Kollegen, Freunde, Familie und letztendlich auch der Zuschauer durch ihn einen Einblick in die wunderbare Welt des Traums. In eine Welt voller Überraschungen und Magie, den sie ohne ihn nie bekommen hätten. Nach Michel Gondrys Filmen fühlt man sich für kurze Zeit tatsächlich wieder, als sei man zwölf Jahre alt.