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Viennale – Die geöffnete Schatztruhe

Die geöffnete Schatztruhe

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Die Viennale-Retrospektive im Filmmuseum ist diesmal Jacques Demy und Agnès Varda gewidmet. Im Gespräch mit Gerhard Midding erzählt Varda über die außergewöhnliche Beziehung zwischen zwei Filmemachern.

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„Ich war Student, eine Weile arbeitslos, dann wurde ich Filmemacher. Ich traf eine Filmemacherin, sie schenkte mir Kinder. Nun male ich.“ So bekundet Jacques Demy in Jacquot de Nantes (1990) sein melancholisches Einverständnis mit dem eigenen Leben, das bald nach den Dreharbeiten beendet sein sollte. Es ist der erste von drei Filmen, die seine Witwe Agnès Varda in den 90er Jahren über ihn drehte. Die große Retrospektive
der Viennale zeigt, auf welch faszinierende Weise sich die filmischen Universen dieser beiden Außenseiter der Nouvelle Vague ergänzen und widersprechen. Einen Monat lang kann man im Filmmuseum erkunden, wie das formen- und assoziationsreiche Kino Vardas mit der schwebenden Musikalität und listigen Melodramatik Demys eine Ehe eingegangen ist, die in der Filmgeschichte einzigartig ist.

In Ihrem Film Jacquot de Nantes entdeckt man, dass Jacques Demys Werk voller autobiografischer Details steckt. Wie stand er dazu, dass jemand Anderes – Sie, seine Frau – seine Autobiografie verfilmt?
Ich muss Sie korrigieren: Eine Autobiografie umfasst ein ganzes Leben, aber Jacques erzählte vor allem von seiner Kindheit. Er sprach mit Vorliebe über die Zeit zwischen dem achten und dem achtzehnten Lebensjahr, also über die Okkupation und die unmittelbare Nachkriegszeit. Natürlich war es mir wichtig, die Augenblicke zu evozieren, die einige der schönsten Momente in seinen Filmen inspiriert haben.

Hauptsächlich erzähle ich aber von einem Jungen aus der Provinz, dem es gelingt, an der Filmhochschule angenommen zu werden. Am Ende der meisten amerikanischen Bildungs- romane steht ja der Erfolg. Hätte ein Hollywood-Regisseur diese Lebensgeschichte verfilmt, hätte der Film in dem Moment aufgehört, als Jacques Demy 1964 in Cannes die Goldene Palme für Die Regenschirme von Cherbourg gewinnt. Mich interessieren jedoch nicht die Triumphe des späteren Filme-machers, sondern deren Ursprünge.

Das ist, wenn Sie erlauben, ein einzigartiges filmisches Abenteuer: Es ist tatsächlich sehr selten, dass ein Regisseur die Kindheit eines anderen rekonstruiert. François Truffaut erzählte in Sie küssten und sie schlugen ihn eine fiktive Version seiner eigenen Kindheit. Aber Jacques interessierte das nicht. Für ihn war die Kindheit eine Schatztruhe, aus der er winzige Stücke herausnahm, um sie in seinen Filmen einzufügen. Meine Version dieser Kindheit habe ich mit Jacques‘ voller Zustimmung gedreht – obwohl unsere Auffassungen vom Kino mitunter ja durchaus gegensätzlich waren. Ich erinnere mich noch genau, wie er einmal zu mir sagte: „Wie kann ich mit einer Frau verheiratet sein, die The Sound of Music nicht mag?

Werden diese Erinnerungen je in Buchform erscheinen?
Nein, das hätte Jacques nicht gewollt. Er hat gewissermaßen ins Unreine geschrieben, sich dabei nie Gedanken gemacht, wie er als Autor eine Beziehung zu einer möglichen Leserschaft herstellen könnte. Es gibt einige Passagen, die außerordentlich schön geschrieben sind. Aber es sind zum Beispiel überhaupt keine Dialoge darin.

Was ist für Sie das Hauptthema? Die Quellen schöpferischer Prozesse?
Nein, das ist erst das zweite Thema. Das erste Thema ist: Was weckt in einem Jungen, dem sämtliche sozialen und kulturellen Grundlagen dazu fehlen, den Wunsch, Filme zu drehen? Sein Vater wollte, dass er Mechaniker wird, aber er versteifte sich auf diesen Wunsch. Woher nimmt man die Energien für diesen Kampf, zumal, wenn einem kaum Mittel zur Verfügung stehen, ihn zu realisieren. Ein Bild aus Jacques‘ Erzählungen hat sich mir vor allem eingeprägt. In der Autowerkstatt seines Vaters sollte er einen Reifen wechseln, und vergaß dabei, den Schlauch aufzuziehen. Sein Vater war wütend: „Wo bist du nur mit deinen Gedanken?“ Und er antwortete: „In Hollywood.“ Und zwanzig Jahre später war er dann tatsächlich in Hollywood, mit mir zusammen.

Aber Ihre Frage nach den Inspirationsquellen ist natürlich wichtig, denn im Bezug auf das Kino wird sie kaum gestellt. Es wird viel darüber spekuliert, weshalb Flaubert und Proust geschrieben haben: Aber man beschäftigt sich selten mit der Frage, weshalb Bresson, Dreyer oder Wenders Filme gedreht haben. Bei Bergman weiß man es, weil er selbst sehr viel darüber gesprochen hat. Aber sonst bleibt die Frage nach der Inspiration von Filmautoren offen. Und hier gibt es nun einen Einblick, vor allem in die Spiele der Kindheit, die eine wichtige Quelle für die künstlerische Arbeit sind.

Für mich persönlich gibt es aber auch noch ein drittes Thema, das etwas versteckt ist, im Film wie ein gelegentliches Seufzen zu spüren ist: Wie erträgt man es, von der Kindheit eines Menschen zu erzählen, der einem sehr nahe steht, und zugleich sehr, sehr krank ist?

Den Quellen gehen Sie nach, in dem Sie pointiert Lebensaugenblicke mit Ausschnitten aus den späteren Filmen montieren. Wie haben Sie diese Szenen ausgewählt?
Die kurzen Ausschnitte – insgesamt machen sie nicht einmal zwei Minuten aus, in einem Film von fast zwei Stunden Länge – sind Anekdoten, kleine Streifzüge durch seine Filme, sie sind gedacht als ein Augenzwinkern für die Cinéphilen, mehr nicht. Sie dürfen nicht glauben, ich hätte eine Hommage gedreht. Wenn die Zuschauer „Hommage“ hören, dann schauen sie sich einen Film nicht an! Deshalb habe ich Jacquot im Untertitel eine „évocation“ genannt, ein Wachrufen von Erinnerungen.

Es hat mich verblüfft, dass Details aus Demys späteren Filmen bereits in seinen ersten Trickfilmen auftauchen, etwa das Hinuntergleiten auf dem Treppengeländer, das man in Lola sieht.
Das Treppengeländer war Teil von Jacques‘ Heimweg von der Schule, deshalb hat er es automatisch in seinem Dekor für den Trickfilm Attaque Nocturne verwendet. Diese Dekors sind ja eine interessante Mischung: Die Dächer sehen so aus, wie er sich die Dächer von Paris vorstellte, die Treppen und Portale stammen hingegen aus Nantes. Die Vorstellungswelt des 14-jährigen Jacques war stark geprägt vom französischen Vorkriegskino, von René Clair und Marcel Carné. Die Dekors, in denen Szenenbildner wie Lazare Meerson und Alexandre Trauner damals ein Bild von Paris entwarfen, vermischten sich in seinem Kopf mit urbanen Ansichten, die ihm aus dem Alltag vertraut waren. Ich wollte aber noch mehr rekonstruieren: die Geräusche der Zeit. Mit meinem Toningenieur ging ich auf die Suche nach den Geräuschen der Schubkarren, der Holzschuhe auf dem Pflaster. Natürlich spielen die Chansons der Epoche eine wichtige Rolle, denn sie sagen ungeheuer viel über die damalige Mentalität aus. Charles Trenet und Jacques Prévert haben damals das Chanson in einer Weise revolutioniert, wie es später die Nouvelle Vague im Kino getan hat. Und Sie wissen natürlich, welch entscheidende Rolle die Lieder in Demy-Filmen spielen.

Mir ging es also um die Rekonstruktion der Töne und Bilder, die nach Jacques‘ Erzählungen auch in meiner Phantasie zu existieren begannen. Das Bild des Alltagslebens der Familie Demy ist von dieser Subjektivität geprägt. Nantes ist traditonell ein Ort starker sozialer Gegensätze, die Gewerkschaftsbewegung spielte dort immer eine wichtige Rolle, wie Sie in Ein Zimmer in der Stadt sehen können. In Jacques‘ Kindheitserinnerungen existieren diese sozialen Spannungen aber nicht. Die sind vielmehr geprägt von dem Bild der Arbeiterklasse, das er aus den Filmen des „poetischen Realismus“ kannte, wie beispielsweise Die zünf-tige Bande von Julien Duvivier: eine fröhliche Gemeinschaft, in der man trotz Geldmangels gern lachte und sang.

Eine Frage noch zum Wechsel von Schwarzweiß und Farbe. Zunächst ist die Farbe geknüpft an Momente des Schauspiels, später sind aber auch die Szenen zwischen Jacquot und dem Nachbarsmädchen Reine in Farbe gehalten. Demy war ja ein kühner Farbfilmregisseur; mir scheint, Ihr Stilprinzip spiegelt auch hier den Prozess der Inspiration.
Schwarzweiß habe ich gewählt, weil die Filme der Kriegszeit schwarzweiß waren und dadurch selbstverständlich unsere Vorstellung von der Epoche beeinflusst haben. Momente wie die Theateraufführungen, Puppenspiele oder den Anblick von Filmplakaten hingegen wollte ich hervorheben, weil sie Jacques‘ Phantasie anregten. Als dann später das Nachbarsmädchen, das schon etwas reifer und älter ist, Lippenstift aufträgt, bin ich sicher, dass das für Jacques eine farbige Erinnerung ist. Die ganze Szene, der ganze Raum muss für ihn mit einem Mal in kräftige Farben getaucht gewesen sein. Ein Moment, der Jacques und mich sehr amüsiert hat, kommt etwas später, als Reine ihm erklärt, sie habe keine Lust, in seinen Filmen mitzuspielen. Von da an ist ihm klar, dass er fortan Trickfilme drehen will! Regisseure erleben so etwas ständig. Man denkt „Schauspieler sind unmöglich!“ und wünscht sich, auf sie verzichten zu können.