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Viennale – Festivalmania

Festivalmania

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Individuelles Leben unter Haftbedingungen beleuchten vier außergewöhnliche Dokumentarfilme der Viennale.

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Die Verwahrung im Gefängnis soll Übeltäter bestrafen und die Bürger vor ihnen schützen. Jene, die den Gesellschaftsvertrag missachten, werden ihrer Freiheit beraubt, eines angemessenen Einkommens, der Gesellschaft ihrer Familie und früheren Freunde, heterosexueller Beziehungen, ihrer persönlichen Gegenstände. Sie müssen auf engem Raum miteinander leben und sich strengen Verhaltensregeln unterwerfen.

Mit dem Schicksal straffällig gewordener Männer beschäftigen
sich vier Dokumentarfilme der Viennale (einer davon auch mit dem Schicksal weiblicher Opfer und Hinterbliebener), auf formal höchst unterschiedliche Weise. Gemeinsam ist diesen Filmen ein starkes Interesse an der Individualität ihrer Charaktere, die Funktion als Sprachrohr für diejenigen, denen sonst keiner zuhört, und nicht zuletzt die Auslotung der – zumeist bescheidenen – Möglichkeiten zur „Resozialisierung“ der
Delinquenten.

In eines der bestbewachten Gefängnisse Italiens, mitten in der pittoresken Landschaft der Toskana, begibt sich die Kamera von Mirjam Kubeschas Balordi. Die Insassen bereiten eine Aufführung von Bertolt Brechts Dreigroschenoper vor, Balordi beobachtet sie sowohl beim Proben als auch im Gefängnisalltag. Die Inszenierung verschreibt sich der Redefreiheit ihrer Hauptfiguren, dem Witz der Brecht‘schen Komödie und den sozialkritischen Liedern Kurt Weills. Die Montage spielt mit dem Wechsel zwischen Bühne und Alltag, zwischen der Selbstdarstellung der Inhaftierten als Außenseiter und ihrer Darstellung der Brecht-Figuren. Und während die Proben munter vorangehen, erfährt man immer mehr über die Erinnerungen und sozialen Hintergründe der Männer. In ihrer Alltagsrolle wirken viele von ihnen wie erwachsene Kinder, die trotzig über die Gesellschaft klagen, die sie ausgrenzt. In der anderen, sympathischeren Rolle bewältigen sie ihre triste Lage erotisch tanzend und singend. Brecht, der Utopist, verändert hier nachträglich die Welt: zumindest die kleine, abgeschiedene Welt von Balordi.

Intensiver noch als in Balordi arbeiten die Männer im Les Baumettes-Gefängnis von Marseille an ihrer eigenen, wechselseitigen Inszenierung. Zehn Gefangene von Les Baumettes bekamen von den Filmemachern Joseph Cesarini und Jimmy Glasberg die Kamera gleich selbst in die Hand gedrückt. Mitten im Gefängnis wurde eine Zelle von genau neun Quadratmetern als Drehort maßstabsgetreu nachgebaut. Während der elf Monate langen Dreharbeiten wurden die Inhaftierten jeweils zu zweit in diese Zelle gesperrt. Das Material, dass Roger Ikhlef im Schneideraum zum Film 9 m² pour deux (Neun Quadratmeter für zwei) verdichtet hat, spricht großteils für sich: Die notwendige Organisation jedes kleinsten Handgriffs auf engstem Raum wird sichtbar, die Psychodynamik zwischen den Insassen droht mitunter zu kippen. Und doch hatten die Teilnehmer dieses bemerkenswerten Experiments nicht das Gefühl, im künstlichen Innerhalb des realen Gefängnisses wirklich eingesperrt zu sein. „Hätten wir in der Zelle gedreht“, so ein Gefangener, „wäre ein Ausweichen gar nicht möglich gewesen. In der wirklichen Zelle wäre das unerträglich gewesen. Das Studio wurde zum Ort künstlerischer Freiheit.“

Auf eine entschieden andere Art der Psychodynamik konzentriert sich Rachel Libert in ihrem Film Beyond Conviction. Es steckt schon im Titel: Durch die bloße Inhaftierung übernehmen Täter nicht notwendig auch die ehrlich empfundene Verantwortung für ihre Taten; noch hilft deren Wegsperren den Opfern, das erlittene Unrecht zu verstehen. Außergerichtliche Konfliktlösung soll diesen Mangel beheben. Als eine spezifische Form von Mediation, unter Beiziehung Dritter, treten Opfer von Gewalttaten oder überlebende Angehörige in Kontakt mit den Tätern. In beidseitigem Einverständnis werden diese mit ihren Taten konfrontiert und versuchen, Antworten auf die quälenden Fragen der Opfer zu finden. Seit 1998 gibt es diese Möglichkeit im US-Bundesstaat Pennsylvania. Solche Konfrontationen sind in der Regel nicht öffentlich, drei davon sind ausnahmsweise Gegenstand von Beyond Conviction. Zwar ohne überflüssigen Begleitkommentar, aber mit ziemlich zudringlicher Kamera hält Libert diese kathartischen, emotionalen und tränenreichen Begegnungen fest. Die Resultate zu beurteilen, obliegt den Zuschauern.

Wie freiheitsbeschränkend ein Leben im Untergrund sein kann, demonstrierte Christian Petzold in seinem ausgezeichneten Spielfilm Die innere Sicherheit. Der Niederländer Alexander Oey macht es mit seinem Porträt eines früheren Mitglieds der linksradikalen „Revolutionären Zellen“ deutlich: dem beim spektakulären OPEC-Attentat 1975 in Wien eingesetzten und dabei verletzten Hans-Joachim Klein. Oey hat Klein in der Normandie aufgesucht und ihn zu prägenden Orten der Vergangenheit begleitet: nach Frankfurt, wo das nach dem Selbstmord der Mutter früh vernachlässigte Kind in der aufkommenden Studentenbewegung eine Ersatzfamilie fand; in die italienischen Berge, wo er sich nach seinem Ausstieg aus den „RZ“ verschanzte; ins ehemalige Konzentrationslager Ravensbrück, wo einst seine Mutter interniert war. De terrorist Hans-Joachim Klein zeichnet das Bild eines Menschen, den das Leben im Untergrund so zermürbte, dass er sich 23 Jahre nach der Tat den deutschen Behörden stellte. Seit 2003 ist Klein physisch wieder aus dem Gefängnis draußen, wird aber nach eigenen Worten „niemals wirklich frei sein“ können.