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Krieg und Frieden – Die Kamera als Zeitmachine

Die Kamera als Zeitmachine

| Andrea Winklbauer |

Sergej Bondartschuks als vierteilige DVD-Edition erschienenes Monumentalepos „Krieg und Frieden“ schlägt King Vidors Hollywood-Version.

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Es beginnt mit einem Glockenschlag. Das Bild ist schwarz. Symphonische Musik schwillt an und beschreibt ein Drama, das wir nicht sehen. Zweieinhalb Minuten dauert die Ouverture. Ein monumentaler Beginn für einen monumentalen Film. Dann wird es licht. Vor einem weißen Fleck erscheinen Keime, die überblendet werden mit Pflanzen, die überblendet werden mit Landschaft. Die Kamera zeigt Details am Boden und schwenkt dann in die Vogelperspektive, eine Flusslandschaft im Blick. Dazu hört man verfremdete Naturgeräusche, Kanonendonner, Schlachtenlärm, einen Schrei! – dann bricht der Ton ab.

So wie Sergej Bondartschuk seinen zweiten Film einleitet, könnte man vermuten, es handle sich um eine Darstellung der Menschheitsgeschichte, beginnend mit der Genesis. Man wartet nur noch auf die Off-Stimme, die einen dieser pathetischen Bibelsprüche von sich gibt. Und eine Art Spruch folgt tatsächlich: In der Stille nach dem Schrei lässt sich ein Mann vernehmen, der aus dem Off das große Wort gelassen führt: „Alle Gedanken, die Großes im Gefolge haben, sind immer einfach. Mein ganzes Denken geht dahin: Wenn sich die verderbten und schlechten Menschen zusammentun und zu einer Macht werden, so müssen die ehrlichen Menschen das Gleiche tun. So einfach ist das.“

Doch das Werk heißt nicht Die Bibel, sondern Krieg und Frieden, und war als Verfilmung von Leo Tolstois bekanntem Roman zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution das große Prestigeprojekt der Mosfilm während der Tauwetterperiode. Der kurze Text ist einem inneren Monolog einer seiner Hauptfiguren entnommen: Pierre Besuchow, den der Regisseur in seinem Film selbst verkörpert. Man könnte die Botschaft dieses Prologs einfach moralisch oder humanistisch verstehen und es damit bewenden lassen. Im Bewusstsein, dass es sich bei dem fast sieben Stunden langen, vierteiligen Epos um ein UdSSR-Staatsprojekt in Konkurrenz zur Hollywood-Verfilmung von King Vidor (1956) handelt, dem vier Jahre Produktionszeit (1962–66), ein kolportiertes Budget von 25 Millionen US-Dollar, die Unterstützung der Roten Armee und vermutlich sogar ein MIG-9-Kampfflugzeug zur Verfügung standen, lässt sich der Prolog im Sinn des Kalten Krieges deuten: Wenn ein Aggressor, sei es nun Napoleon, Hitler oder der US-Präsident, das Land der „ehrlichen Menschen“ überfällt, so müssten seine Bewohner nur zusammenhalten, um sich gemeinsam von ihm zu befreien.

Detailgetreue Rekonstruktion

Man ist sich also durchaus im Klaren über die Propagandaziele dieses Films. Doch dann beginnt die erste Szene. Ein helles Geklingel wie von Weihnachtsglöckchen liegt über den Bildern einer eleganten Abendgesellschaft im St. Petersburg des Jahres 1805. Die Kamera bewegt sich zwischen Herren im Empirefrack und Damen mit tiefem Dekolleté, als sei auch sie ein Gast. Gemessen sind die Bewegungen der Protagonisten ebenso wie die der Kamera. Die Entrücktheit dieser fernen Welt nimmt gefangen. In Sovscope 70, dem russischen Pendant zu Cinemascope, und in 70mm, also in zwei verschiedenen Verfahren für die Breitwand-Vorführung gedreht, ist dieser Film zunächst eine Aneinanderreihung stimmig komponierter Bilder. Die Interieurszenen, aber auch die zahlreichen Schlachtenszenen und anderen Außenaufnahmen sind voller gut recherchierter Details: Experten für verschiedene Bereiche wurden dazu herangezogen, das Aussehen der Wohnungen, der Kleidung, selbst der Formationen im Feld und der Marschschritte historisch getreu zu rekonstruieren. Das Ergebnis ist eine Stimmigkeit und Kleinteiligkeit, die an den Malstil des Biedermeier erinnert, aber auch mit dem Klassizismus der Zeit um 1800 verwandt ist.

Diese „Tableaux“ stehen aber nur ganz selten still. Entweder ist die Bewegung in die Szene eingeschrieben, oder die Kamera bewegt sich, oder beides. Bei der Darstellung der Schlachten von Austerlitz und Borodino und in vielen anderen Szenen ersetzen Kamerafahrten und ungewöhnliche Blickwinkel von unten, subjektive Kamera, Doppelbelichtungen, Überblendungen und Luftaufnahmen oder Fahrten in die Luft, was heute durch spektakuläre Computeranimationen erzielt wird. In Krieg und Frieden sind – ganz in der Tradition von Sergej Eisenstein, Dziga Vertov u.a. – Kameraarbeit und Montage die aufregendsten „Spezialeffekte“, auch wenn die Pyrotechnik zur Darstellung der Schlachten und des brennenden Moskau von Experten hoch gelobt worden ist. Mit filmischen Mitteln holt Bondartschuk den Zuseher in sein Werk: Unvermittelt wechselt die Erzählperspektive von der dritten zur ersten Person der subjektiven Kamera; was wir vor uns haben, wird von der Erzählung zum Erlebnis. Eben sahen wir noch Dolochow betrunken auf dem Fensterbrett balancieren, eine Flasche Rum in seiner Hand, die er in sich hineinschüttet. Da folgt ein Bild, das den entsetzten Pierre zeigt. Er schließt kurz die Augen – und für eine Sekunde haben auch wir nur ein schwarzes Bild.

Strategie der Verunsicherung

Wie sehr es Bondartschuk, dessen Treue gegenüber der Romanvorlage überwiegend gelobt wird, um filmisches Erzählen ging, bestätigt auch sein Umgang mit dem Ton in einer Szene, in der eine weitere Figur, der alte Fürst Bolkonski, vorgestellt wird. Wir hören klassische Musik, gespielt von einem Streichorchester, sehen dazu aber Bilder von einem Landsitz und einem herbstlichen Park, in dem der Fürst spazieren geht. Während die Männerstimme aus dem Off über ihn erzählt, biegt der Fürst an einer Wegkreuzung ab. Die Kamera folgt ihm und hat plötzlich ein – wie Bolkonski – im Stil des späten 18. Jahrhunderts gekleidetes Streichensemble im Visier, das die Musik spielt, die wir für charakterisierende Untermalung hielten. Bondartschuk überrascht mit der unvermittelten Synchro   die Strategie, den Zuseher immer wieder zu verunsichern: Ist das nun erzählt oder „erlebt“?

Zusammen mit dem Bemühen um historische Treue in der Ausstattung bis ins kleinste Detail, verbürgt diese gestalterische Erzählweise Bondartschuks Absicht, seine Version von Krieg und Frieden trotz der großen zeitlichen Entfernung zur Epoche der napoleonischen Kriege mit Unmittelbarkeit zu erfüllen. Die im Historienfilm stets spürbare Distanz zwischen „Ereignis“ und Aufzeichnung durch die Kamera wird aufgehoben. Die Virtuosität im Umgang mit dem artifiziellen Medium hat in Bondartschuks Historienfilm den paradoxen Effekt, dass der Zuseher sich immer wieder auf die Positionen der Protagonisten zurückgeworfen sieht. Es gelingt ihm, durch die Differenzierung zwischen der äußeren Erzählung von Geschichte und den inneren, subjektiven Erfahrungen der Menschen, die sie erleben, den Realitätscharakter seiner Darstellungen zu stärken.

Auch mit einem weiteren Problem des Historienfilms kommt Bondartschuk gut zu Rande: der raumzeitlichen Abgeschlossenheit der Vergangenheit. Wie Orson Welles in Citizen Kane nutzt Bondartschuk in Krieg und Frieden sehr gern die Tiefen und den Raum feudaler Wohnsitze. Da sind Szenen, in denen ausgeklügelte Kamerafahrten konventionelle Montagetechniken überflüssig machen. Den meisterlichen Höhepunkt bildet eine Szene, in der der unentschlossene Pierre Besuchow zur Verlobung mit einer Heiratsschwindlerin genötigt wird. Beide sitzen auf einer Bank, und durch die geöffnete Flügeltür sieht man den Nachbarraum, in dem die Mutter seiner Zukünftigen sich mit einer weiteren Frau über das Geschehen nebenan unterhält. Im Roman werden die beiden Gespräche notgedrungen abwechselnd erzählt. Im Film scheint der Ablauf durch ein Raumkontinuum zu mäandern, das nach allen Seiten hin offen dargestellt ist.

Poesie gegen Konvention

All das sind große Unterschiede zur Erzählweise der konventionellen Hollywood-Verfilmung, in der trotz vergleichsweiser Kürze von drei Stunden mancher Handlungsstrang ein wenig klarer ist. Beispielsweise erfährt man nur in der Version von King Vidor, wie Andrej Bolkonski, der Sohn des alten Fürsten, nach der Schlacht von Austerlitz gerettet wurde. Dagegen bleibt die Poesie Bondartschuks unüberboten, etwa als der alte Bolkonski stirbt und unvermittelt noch einmal das Bild des herbstlichen Parks zu sehen ist, diesmal menschenleer. Dass der Tod des alten Mannes das endgültige Ende einer längst abgelaufenen Epoche darstellt und nur wenige Menschen den Verlust überhaupt bemerken werden, ergibt sich allein aus diesem Bild.

Die Hollywood-Version punktet mit attraktiven, exzellenten Darstellern wie Audrey Hepburn, Henry Fonda, Vittorio Gassman und Anita Ekberg. In Bondartschuks Film sind die Menschen nicht ganz so schön, aber nicht weniger eindrucksvoll. Besonders bemerkenswert ist seine eigene Performance, die Darstellung des unattraktiven, intellektuellen Pierre. In seinem Empirefrack, mit steifem Hemdkragen, sieht der sonst so virile russische Leading Man wie ein unglücklicher dicker Junge im Sonntagsanzug aus. Bei Vidor spielt Henry Fonda den Pierre Besuchow. Und natürlich gelingt auch diesem mitunter das Kunststück, als linkischer Langeweiler dazustehen. Etwa als King Vidor im Gegensatz zu Bondartschuk konkret wird und eine Situation im Schlafzimmer der Frischvermählten zeigt, eine Art Morgen „danach“, in der Anita Ekberg als schöne Hélène den unbeholfenen Ehemann mit Launen von sich hält.

Die Hollywood-Version von Krieg und Frieden ist achtbar. Doch die Mosfilm-Variante übertrifft sie an Dichte, Subtilität, gestalterischem Einfallsreichtum und durch die Versuche, der Historie den Anschein der Gegenwärtigkeit zu geben. In der UdSSR wurde das Werk als die echte Verfilmung des russischen Nationalepos gefeiert. Doch auch im Westen fand man daran Gefallen: 1969 erhielt Krieg und Frieden als erster russischer Film den Auslands-Oscar.

 

Krieg und Frieden
(WoJna i mir)


Literaturverfilmung, UdSSR 1967
Regie Sergej Bondartschuk
Drehbuch Sergej Bondartschuk, Wassili Solowiow
nach dem Roman von Leo Tolstoi
Musik Wjatscheslaw Owtschinnikow
Kamera Aleksandr Schelenkow, Anatoli Petritskij
Mit Sergej Bondartschuk, Ljudmilla Saweljewa, Wjateschlaw Tichonow,
Gennadi Iwanow, Irina Gubanowa, Antonina Schuranowa
4 DVDs, 408 Minuten + 83 Minuten Bonusmaterial von wechselnder
Qualität; empfehlenswert: Geschichten eines Films – Filmpublizist Ralf Schenk über den russischen Filmklassiker »Krieg und Frieden«
(Dokumentation 2006, ca. 20 Minuten).
24-seitiges Begleitheft mit umfangreichen, allerdings nicht durchgehend
verlässlichen Informationen zum Film.
Icestorm Entertainment