ray Filmmagazin » Drama » Abscheu oder Mitgefühl

Der freie Wille – Abscheu oder Mitgefühl

Abscheu oder Mitgefühl

| Barbara Schweizerhof |

Matthias Glasner mutet in „Der freie Wille“ dem Zuschauer zu, die Lebenswelt eines verurteilten Triebtäters aus dessen Perspektive zu betrachten. Er entschuldigt den Täter nicht, aber er zeigt ihn als hassenden und liebenden Menschen.

Werbung

Die Stimmungslage, mit der man einen Film wie Der freie Wille zu sichten beginnt, ist bestenfalls eine der gemischten Gefühle; wahrscheinlich überwiegen sogar die abwehrenden. Es gleicht einer Art Gewissensprüfung, der man sich als Zuschauer selbst unterzieht, sobald man weiß, dass es um einen Triebtäter und seine Taten, die Vergewaltigung von Frauen, geht: Will ich das sehen? Warum eigentlich? Will ich mich der Perspektive des Täters aussetzen? Meist folgt an dieser Stelle schon eine gewisse Empörung, wird der Entschluss gefasst, sich nicht „einfühlen“ zu wollen in den Täter, ihn nicht zu entschuldigen und auf gar keinen Fall Mitleid mit ihm zu empfinden.

Nach den 160 Minuten, die Matthias Glasners Film dauert, sieht es im Grunde nicht viel anders aus: Der Film verweigert konsequent die Auflösung der widersprüchlichen Empfindungen hin zur Eindeutigkeit. Manche stört vielleicht gerade das; geht man doch lieber mit klaren, übersichtlichen und geordneten Gedanken und Gefühlen aus dem Kinosaal. Andererseits liegt im Halten der Ambivalenzen gerade die große Stärke des Films: Er bringt seine Zuschauer dazu, ein unbekanntes Terrain zu durchschreiten. Was auch immer man vorher über Vergewaltiger und Triebtäter zu wissen glaubte oder auch nur im Stillen dachte – das sieht nach diesem Film ein wenig anders aus.

Verstörende Eröffnung

Quälend – und damit emotional noch am leichtesten einzuordnen – ist bereits die Eröffnungssequenz, in der der von Jürgen Vogel gespielte Tellerwäscher Theo Stöhr in den Dünen eine Fahrradfahrerin überfällt und vergewaltigt. Die Szene dauert lang. Aber man achte darauf, wie sie gemacht ist: Die desaturierten Farben der Aufnahmen, eine sich fließend bewegende Handkamera, die wie eine hartnäckige Verfolgerin beim Täter bleibt, der Verzicht auf rasante Schnitte – all das führt dazu, dass es hier nicht zu jener erotischen Aufladung kommt, die Vergewaltigungsszenen im Kino nicht selten erzeugen.

Keinerlei Sex-und-Gewalt-Faszination, die im Kino oft die Chiffre „Leidenschaft“ oder zumindest „Potenz“ vertritt, kommt auf. Im Gegenteil, der Film bringt das Erbärmliche, Feige, vollkommen Unheroische dieses Überfalls zum Vorschein. Theo Stöhr ist hier auch nicht in Ansätzen ein „toller Hecht“, sondern ein tatsächlich Getriebener, der zugleich merkwürdig hilflos scheint. Und damit beginnen die Ambivalenzen – und vielleicht auch die Furcht des Zuschauers vor der eigenen Empathie-Fähigkeit: Was ist, wenn man doch nicht nur Verachtung und Abscheu für den Täter empfindet? Einerseits macht die Eröffnungsszene klar – und das war die Absicht des Regisseurs –, dass es im Folgenden nicht darauf hinauslaufen wird, den Täter zu entschuldigen. Andererseits aber deutet sich an, dass es sehr wohl darum geht, sich als Zuschauer, mit allem gebotenen Widerwillen, wenigstens streckenweise an seine Stelle zu versetzen.

Das Tier in mir

Der eigentliche Film setzt neun Jahre später ein, Theo Stöhr wird aus der Haft entlassen. Betreut von einem illusionslosen Sozialarbeiter (André Hennicke), findet er Unterkunft und einen Job in einer Druckerei. Weiter regieren die dunklen, abgedeckten Farben im Film; es ist kein freudiger Aufbruch in die Freiheit, den Theo Stöhr hier unternimmt, sondern von Anfang an gibt es dieses Gefühl von großer Anstrengung. Stöhr muss sich anpassen, muss sich beherrschen. Man sieht ihn beim Körpertraining und beim Masturbieren vorm Fernseher, beides betreibt er zu manisch, um Entspannung daraus zu gewinnen. Die Stadt wirkt anonym und auf zeitgenössische Fußgängerzonen-Weise freudlos und öde. Jede Art von Genuss, Gemütlichkeit und Entlastung scheint nur mühsam herstellbar für den Ex-Sträfling und gleichzeitig immer schon gefährlich, weil zu nah an den eigentlichen inneren Antrieben, die er unter Verschluss halten muss.

Während man ihn dabei beobachtet, wie er versucht, ein „normales“ Leben zu führen, macht sich die nachhaltige Wirkung der quälenden Eröffnungssequenz erst richtig bemerkbar: Jede Szene ist von der bedrohlichen Spannung geprägt, Theo Stöhr könnte rückfällig werden. Alltägliche Dinge wie das Dekolleté einer Serviererin, ein Unterwäschen-Reklame-Plakat oder eine unauffällige Passantin auf der Straße verlieren ihre Neutralität. Die typische Kleinstadt mit ihren unbelebten Straßen, Tiefgaragen und leeren Einkaufspassagen wird unter Stöhrs lauernden Blicken zum bedrohten Raum. Genauso wenig wie der Zuschauer scheint auch der therapierte Täter zu wissen, was die Wirklichkeit in ihm alles auslösen kann.

Es ist diese unerbittliche Gerichtetheit nach vorn, auf das hin, was passieren könnte, die dem Film seine Wucht verleiht. An keiner Stelle beschäftigt er sich mit der sonst üblichen Motivsuche in Kindheitstraumata und Ähnlichem. Über die Vergangenheit von Stöhr erfährt man so gut wie nichts. Den Titel „Der freie Wille“ muss man deshalb als Frage auffassen: Gibt es für diesen getriebenen Täter eine Möglichkeit, dem Rückfall willentlich zu widerstehen?

Einsame Romanze

In der Druckerei lernt Stöhr eines Tages die Tochter seines Chefs kennen, Nettie (Sabine Timoteo). In einem anderen Film wäre das der Beginn einer romantischen Komödie: Nettie lässt Theo gegenüber fallen, dass sie Männer hasst, und der kann darauf mit bezeichnender Erleichterung antworten, er seinerseits könne Frauen nicht ausstehen. Es tut seltsam gut, dass der Film seinen Figuren soviel Komplexität einräumt: Wie bei klassischen Romanzen ermöglicht das Hindernis der prinzipiellen gegenseitigen Abneigung nämlich den Brückenschlag des „zwanglosen“, weil jenseits von Konventionen stattfindenden, Kennenlernens.

Vermittelt durch Nettie erfährt der Zuschauer, zu welch liebevollen Gesten der sonst wie gepanzert erscheinende Theo fähig ist. Sie ist gerade im Begriff, sich von einem psychisch übergriffigen Vater (Manfred Zapatka) zu lösen, in dessen klebrig-sentimentaler Anhänglichkeit sich ein Missbrauchsverhältnis andeutet. Auch hier erfährt man nichts Näheres, keine Aufklärung über Vergangenes – allein die Tatsache, dass Nettie keinen Groll, kein Rachebedürfnis gegenüber ihrem Vater an den Tag legt, deutet darauf hin, dass der ausgeübte Zwang im Vater-Tochterverhältnis weniger physischer als emotionaler Natur ist und war.

Theo und Nettie haben über die Ablehnung des anderen Geschlechts hinaus viel gemeinsam: Beide erscheinen wie unfreiwillig zu sozialer Isolation verurteilt und leben mit einer tief verinnerlichten Einsamkeit, aus der sie auch das Zusammensein nicht wirklich erlöst. Sich gegenseitig Anfassen, Streicheln und erst recht der sexuelle Körperkontakt ist so spannend wie hochproblematisch. Sabine Timoteo und Jürgen Vogel spielen das mit viel Mut und zeigen doch immer das genau erforderliche Maß an Scham und Scheu. In einer Szene zeigt Glasner sie zusammen in der Badewanne, und für wenige Minuten stellt sich so etwas wie Erlösung ein. Aber die Hoffnung, diese beiden, ein Mann, der Frauen missbraucht und eine Frau, die missbraucht wurde, könnten sich gegenseitig helfen, bleibt schwach, zumal sich ihr auch die beiden Hauptfiguren nie wirklich hingeben.

Ambivalenz ohne Ende

Eine asymmetrische und doch gegenseitige Liebe entsteht da: Während er es oft eher vermeidet, sie anzuschauen, wie um nicht dem lauernden Blick zu verfallen, den er auf seine Opfer wirft, beobachtet umgekehrt Nettie Theo mit zunehmender Paranoia. Bald setzt sie sich mit von ihm vergewaltigten Frauen in Verbindung und geht ihm nachts heimlich auf der Straße nach. Durch ihre Beobachtungen vermitteln sich auch dem Zuschauer intimere Einblicke in Theos zerrissenen Seelenzustand: Seine Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen ist vom Zwiespalt geprägt, etwas von ihnen zu wollen und sie gleichzeitig zu hassen – nicht zuletzt für die Bedürftigkeit, die sie in ihm auslösen und die er als Fremdbestimmung erlebt. Es ist Jürgen Vogels präzisem Schauspiel zu verdanken, dass das sichtbar wird.

Der Film nimmt sich seine Zeit – und die braucht er auch angesichts der widersprüchlichen Gefühle, die er weckt. Die Liebesgeschichte zwischen Theo und Nettie stellt weniger die  Rettung dieser beiden Figuren in Aussicht, als dass sie eine Zuspitzung ihrer persönlichen Konflikte bewirkt – und der Zuschauer sieht sich unweigerlich involviert. Selbst die Lösung, die der Film am Ende doch noch anbietet, kann ihn aus dem Dilemma von Empathie und Abscheu nicht mehr befreien.