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The Departed – Der Feind im Spiegel

Der Feind im Spiegel

| Roman Scheiber |

Ein Höhepunkt zum Ende des Kinojahres: Mit „The Departed “ erweist das Team um Martin Scorsese dem Hongkong-Thriller Infernal Affairs seine Reverenz.

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Zwei Männer sitzen einander im Büro des einen gegenüber. Es ist der Zeitpunkt, an dem beide das Ärgste überstanden zu haben glauben. Dennoch müssen sie sich Mühe geben, keinen gehetzten Eindruck zu machen. Die Atmosphäre ist von Misstrauen erfüllt. Ohne es zu wissen, ist jeder der beiden schon seit Monaten auf der Suche nach dem jeweils anderen. Die zwei sind erstens Cops, und zweitens Maulwürfe mit spiegelverkehrtem Grabungsverhalten – der eine von der Mafia ins Dezernat eingeschleust, der andere vom Dezernat in die Mafia. Sie hatten dieselben zwei Bosse, bei der Polizei und bei der Bande, die im Versteckspiel der beiden ihr Leben lassen mussten. Der Undercovercop steht nun vor dem größeren Problem als der Maulwurf in der Dienststelle: Ausgerechnet von diesem slicken Kerl braucht er eine neue Identität.

Es ist der Zeitpunkt, an dem ein doppelbödig konstruierter Thriller eine neue Wendung nimmt, noch einmal an psychoaktiver Dynamik gewinnt, die spannungsgeladene Erzählung einem Finale furioso entgegensteuert.

Genauer gesagt: zwei doppelbödig konstruierte Thriller. Die Beschreibung der Szene passt auf Infernal Affairs (Wu jian dao, Hongkong 2002, Regie: Andrew Lau und Alan Mak) genauso wie auf The Departed (USA 2006, Regie: Martin Scorsese). Und im Remake ereignet sich – wie in einigen anderen Szenen haarklein dem Original nachempfunden – in der darauf folgenden Filmminute Nämliches: Kurz hintereinander durchschauen beide das Schauspiel des anderen. Ein Kniff, der entschieden zur Originalität des folgenden Showdowns beiträgt, bei dem das Remake, um noch eins draufzusetzen, geradezu tarantinoesk vom Original abweicht.

Doppeltes Doppelspiel

In der damals als bester asiatischer Actionthriller seit Jahren gefeierten Hongkong-Version spielt Andy Lau den korrupten Polizisten und Tony Leung den verdeckten Ermittler in der Triaden-Gang. In der Hollywood-Hommage geben sich Matt Damon als böser und Leo DiCaprio als guter Bulle des South Boston Police Department, das längst von der irischen Mafia unterwandert ist, die Ehre. Wobei gut und böse sich irgendwann ununterscheidbar in jenseits auflösen. Wurde Infernal Affairs ob seiner Kompaktheit und Intensität bejubelt, verdient Scorseses eine Stunde üppigere Inszenierung Lob für genuine Charakterzeichnung, souveränes Timing und die Vertiefung narrativer Details.

Martin Scorsese, einschlägig sozialisiert und mehrfach ausgewiesener Kenner mafiöser Strukturen, begab sich mit The Departed gewissermaßen auf gewohntes Terrain. Hymnische Kritiken in US-Medien liefen in signifikanter Häufung darauf hinaus, er habe seit GoodFellas (1990) keinen so guten Film mehr gemacht.

Dem muss widersprochen werden. Ganz abgesehen davon, dass Scorsese mit Infernal Affairs über eine weidlich genutzte Inspirationsquelle verfügte; dass ihm mit seinem alten Mitstreiter hinter der Kamera, Michael Ballhaus, mit dem Autor des makellosen Drehbuchs, William Monahan, oder mit dem Score-Verantwortlichen Howard Shore ausgezeichnete Kollaborateure zur Seite standen; und auch abgesehen davon, dass er ein exquisites Aufgebot an Starschauspielern dirigieren durfte: Mit Verlaub hat Scorsese, allen anders Kanonisierenden zum Trotz, nicht seit GoodFellas, sondern seit Casino (1995) keinen so guten Film mehr gemacht.

Psychologischer Suspense

An der Besetzung von The Departed gibt es wenig auszusetzen, außer man vermeint Mark Wahlberg zu jugendlich als Vertrauten des von Martin Sheen gespielten Polizeichefs Queenan. Jack Nicholson findet als Clanboss Frank Costello zu alter Form: fies, grauslich, eitel, mit sichtlichem Spaß an den vom Drehbuch frei gehandhabten Benimmregeln. Wie es dem Alphatier der Mafia von Boston schon selbst fast unangenehm ist, den Rookie Billy Costigan (DiCaprio) persönlich auf Herz und Nieren zu prüfen, sprich: zu prügeln, das hat Witz.

Für den Part der Polizeipsychologin Madolyn wurde, wie man das in Branche flapsig nennt, ein „unverbrauchtes Gesicht“ (Vera Farmiga) gecastet. Als Geliebte von Colin Sullivan (Damon) und gleichzeitig von Billy Costigan bildet Madolyn den im Vergleich zur Hongkong-Version stärker verankerten Mittelpunkt einer indifferenten, dem psychologischen Suspense immens zuarbeitenden Dreierbeziehung – natürlich weiß der eine auch auf dieser Ebene nichts vom anderen.

All diese Figuren, einschließlich des herrlich unherzlichen Ray Winstone als Nummer zwei des Costello-Clans, führt Scorsese in einer Gelassenheit ein, die im Polizeifilmgenre ihresgleichen sucht. Die dichte Hongkong-Action des Originals zerdehnt The Departed passagenweise, und entwickelt daraus eine kongeniale Melange von Cop- und Mafiathriller, deren Erzählbewegung sich vor allem entlang von Billy, der komplexeren der beiden Hauptfiguren, entfaltet.

Gruppendruck

Noch bevor Billy überhaupt bei der Polizei sozialisiert wird, schickt ihn sein Boss Queenan schon als V-Mann zu Costello. Die Ansprüche, die Costellos Clan an ihn stellt, überlagern so von Beginn an jene seiner Einheit. Als Individuum ist Billy vor allem von diffusen gesellschaftlichen Aufstiegshoffnungen geprägt. Als dem Mafiaverband Angeschlossener muss er – wie bei der Polizeitruppe – kollektiv verbindlichen Verhaltensweisen folgen. Wie zuvor bei der Polizei muss er Initiationsriten über sich ergehen lassen. Und selbstverständlich wird von ihm dort wie da verlangt, sich an unterer Stelle in die Hierarchie einzuordnen. Bei Adorno heißt es: „Die Menschen sind nicht nur einem ihnen Äußerlichen, Drohenden überantwortet, sondern dies ihnen Äußerliche ist zugleich eine Bestimmung ihres eigenen Wesens, sie sind sich selbst äußerlich geworden.“

Während Billy dem doppelten Druck von außen nur mit Hilfe von Madolyn verschriebener Valium-Überdosen standhält, und insofern sich selbst immer äußerlicher wird, macht der schon als Kind von Costello versorgte Mafioso Colin im Massachusetts State Department locker Karriere. In der Special Investigation Unit angelangt, kann er seinem exzentrischen Mentor wertvolle Informationen liefern. Steht ein größeres Drogengeschäft an, weiß Colin, wann seine Einheit davon Wind bekommt. Doch bald wird die Anwesenheit seines Spiegelbilds im Costello-Clan seine Loyalität ins Wanken bringen. Bei der nächsten Übergabe verringert sich die Reaktionszeit. Die Handlung komprimiert sich, die Kamera von Michael Ballhaus wird drängender, der Schnitt schneller.

Great Expectations

Gewalt, Macht, (Selbst-)Vertrauen. Schon lange nicht wurden die großen Themen in einem von Scorsese inszenierten Film in solcher Leichtigkeit abgehandelt wie hier, zumal im Vergleich zu den vorherigen fiktionalen Arbeiten unter seiner Regie, Gangs of New York und Aviator: „What helps make The Departed at once a success and a relief isn’t that Scorsese is back on the mean streets where he belongs“, bemerkte dazu die New York Times, „what’s at stake here is the film and the filmmaking, not the director’s epic importance.“

Endlich hat ein „Scorsese-Film“ wieder einmal die enormen Erwartungen voll erfüllt, die sich an ein mit diesem Label etikettiertes Werk knüpfen. Das bluttriefende Epos über die Auseinandersetzungen irischer Einwanderer in den 1850er Jahren, Gangs of New York, vermochte das nach Meinung dieser Zeitschrift (Ausgabe Februar 2003) nur zum Teil: „Gangs of New York hätte der Film sein können, der die Themen Scorseses aus mittlerweile mehreren Jahrzehnten in einem neuen und gleichzeitig alten Territorium einzigartig zusammenfügt: die Gewalt, die alle Filme Scorseses durchzieht, exzessiv wie in Taxi Driver und GoodFellas, oder sublim wie in The Age of Innocence, mit dem Gangs of New York die gar nicht unschuldige Welt des 19. Jahrhunderts teilt; das Milieu der Gangster und der Großstadt sowieso, und hier der Weg, um nicht zu sagen die Mission des Einzelnen, der nur ein einsames Ziel kennt: die Codes und die Amoral der Betrüger. All diese Eckpfeiler, die Scorsese in seinem Oeuvre stets aufs Neue variiert, finden sich auch in Gangs of New York, doch scheint es, als seien ihnen – vor allem im letzten Drittel des Films – die politischen, gesellschaftlichen und historischen Implikationen abhanden gekommen.“

Vor allem die tragischen Implikationen kamen im Biopic über Howard Hughes, den obsessiven Experten in Belangen der Film- und Flugzeugproduktion, zu kurz. Scorsese besetzte die Titelrolle erneut mit Leo DiCaprio und erlitt eine Bruchlandung: Weder konnte The Aviator (2004) dem inneren Konflikt des berühmten Millionärswaisen Tiefe verleihen, noch war DiCaprio den dunkleren Schattierungen der Rolle gewachsen. Umso verwundbarer wirkt DiCaprio in der dritten Zusammenarbeit mit seinem Vorbild Scorsese. Als Billy Costigan unterscheiden ihn nur die Pillen, die er vor dem Einsatz schluckt, von einem Tier, das nicht weiß, wie ihm geschieht.

Mikado-Partie

„War, children, it’s just a shot away“, klagen die Rolling Stones, bevor Frank Costello in einer Rückblende den kleinen Colin mit einem exemplarischen Auftritt beim Greißler in seine Sphäre zieht. Wenn es später zur Sache geht in The Departed, dann kommt mit der Kamera auch der Sound auf Touren, dann haben John Lennon und Roger Waters Pause. Irgendwie hat es sogar eine Art irischer Punkrock auf die Tonspur geschafft – der allerdings klingt, als hätten sich The Pogues in ein Industrial-Konzert verirrt.

Über den Dächern Bostons dagegen ist Ruh: Wie in Infernal Affairs spielen sich die entscheidenden Szenen hoch über der Stadt ab, die plötzliche Weite der Szenerie vermittelt noch stärkere Konzentration auf die Antihelden. Auf dem Dach begibt sich denn auch der Anfang vom Ende. Unter freiem Himmel stehen Billy und Colin, die die gleiche Ausbildung an der Kadettenschule, aber eine grundverschiedene soziale Prägung erlebt haben, einander gegenüber, die Waffe auf den anderen gerichtet. Dann geht’s im Aufzug nach unten.

Wer Unter Feinden ist (so der deutsche Verleihtitel von The Departed), ist zu erhöhter Aufmerksamkeit gezwungen. Ein Mikadostäbchen falsch herausgezogen, und das Tarngebäude stürzt ein. Das Problem der Antagonisten in The Departed ist, auch aus dieser Sicht, ein doppeltes: Man kennt den Gegenspieler nicht. Und man erkennt nicht gleich, an welchem Hölzchen der gerade zieht. Scorseses Inszenierung schüttet das Mikadohäufchen nicht einfach aus, sondern schlichtet die Stäbchen kunstvoll ineinander. Das schwarze kann erst ganz am Ende freigelegt werden.