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Dossier Alexander Kluge – Aus dem Inneren Brunnen

Aus dem Inneren Brunnen

| Jörg Becker |

Alexander Kluges neues Buch Tür an Tür mit einem anderen Leben erweist sich als Sammlung von 350 außergewöhnlichen Erzähleinheiten – nur einen Schnitt voneinander entfernt.

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Der Familienclan ist vom Land aus Singkiang nach Shanghai gekommen. In einer engen Straße am Boden hockend, sortiert man Elektroschrott, Plastik, Alteisen – Materialien, die beim Umbau der Stadt, den täglichen Veränderungen, anfallen. „Sie sammeln Fundstücke der technischen Welt, so wie in anderen Weltteilen Leute Krabben pulen oder, mit mehr Körperbewegung, Ähren lesen.“ Es sind Leute vom Land, eine Sorgfalt für Dinge der Erde ist ihnen eigen. Die Straße wird in wenigen Wochen nicht mehr existieren, die Wolke mit den giftigen Schwaden wird aber auch nach dem Abriss des Altstadtviertels noch über die Baustellen ziehen. Der Clan, ein Sammlervolk, das Siedlervolk zu werden bereit ist, hat in der Stadt keinen legalen Status und nährt sich „von den Früchten der Zweiten Natur“. Sie wollen „Bodenhaftung“ behalten. Der im Kontext merkwürdige Ausdruck wird im Dialog mit zwei chinesischen Soziologen diskutiert. Die beiden Beobachter können sich vorstellen, dass der beim unaufhörlichen Umbau des „gesellschaftlichen Bodens“  zu giftigen Luftschwaden aufgewirbelten Techno-Müll der letzten Generationen von der „Geschichte aller toten Geschlechter von Technikern und Ingenieuren“ zeuge. Sich von solchen „Seelenresten“ ernährend, hofft die Familie, in den Kreislauf der Stadt aufgenommen zu werden.

„In der Zweiten Natur“ steht am Beginn des ersten Kapitels „Wir Glückskinder der Ersten Globalisierung“ und weist bereits alle Merkmale von Kluges Erzählweise auf: Kluge gibt ein Bild vor, militärisch gesagt: die Lage, und montiert filmisch die Zusammenhänge, wirtschaftliche Faktoren und geografische Bedingungen dazu. Kluge geht von seinen wahren Akteuren aus, nah an ihren Motiven, an der subjektiven Gegenkraft, den Erwartungen und Hoffnungen der Menschen, in denen er besonders ihre Abwehr, den Protest gegen die objektiven Verhältnisse ausfindig macht, welche getrennt marschieren und vereint schlagen. Und er verfasst Dialoge von Experten, deren spezielle Perspektive stets den Sinn für Absurdität belebt. In der Wiedergabe von Fakten sind zentrale Kapitel, etwa über den Irak, Geschichten aus dem Orient, Polen 1944 oder die Lage im Winter 1941 oft nüchtern beschreibend, protokollarisch, um dann in fiktive Dialoge umzuschlagen. Es sind ebenso faktenreiche Texte, die eine naturpoetische Seite haben. Diese Welterzählungen könnte man auch unter dem Titel „Geschichte und Eigensinn“ fassen (so der Titel des von ihm mit Oskar Negt geschriebenen theoretisch grundierten Buches).

Kluge montiert das Denken an Menschen in den größten vorstellbaren Zusammenhängen – als „Bürger des Universum“ bis etwa zu der phantastischen Idee, aus fernen Galaxien hätte man die Menschheitsgeschichte innerhalb von Stunden verfolgen können. Und als „Privatbesitzer seiner Lebensläufe“ in den Grenzen seiner Haut, seiner Gefühle und Begriffe. Mit diesen hatte sein Erzählen einmal angefangen (Lebensläufe, 1962), und die Technik des Zeitraffers ist seit Abschied von gestern (1965) in die meisten seiner Filme eingebaut. Als Kluge, von Theodor W. Adorno vermittelt, Assistent bei Fritz Lang war, hatte er sich stärker für Strahlung der Sonne abseits vom Set interessiert als für die eigentlichen Dreharbeiten.

Zu einer Zeit, da die zweite Erderwärmung der Weltbevölkerung alsbald problematische Anpassungsleistungen abzuverlangen droht, handelt Alexander Kluge von der ersten globalen Erwärmung, in deren Folge unsere Ahnen sich aus ihren Eishöhlen über den Erdball auszubreiten begannen. Kluge spricht von „Hoffnungsvorrat“, der seit jener Enteisung in uns steckt. Dieses anthropologische „Wir“, das enzyklopädische Erzählen in erdgeschichtlichen Dimensionen, begleitet einen bei der Lektüre der Prosastücke dieses Bandes durchweg. „Glücksvorrat“ ist für Kluge nicht aufzehrbar, sondern regenerativ und bildet seine vertrauenswürdige Größe. Wenn ein Mensch von der Wirklichkeit ausgeschlossen wird, sagt er, wird er in Parallelwelten, Tür an Tür, abrücken. Was Kluge „Antirealismus des Gefühls“ nennt, dass Menschen eine Wirklichkeit leugnen, die sie missachtet, ist Voraussetzung seines Erzählens.

„Was heißt ‚Wirklichkeit’ im Nachhinein?“ Kluge erzählt von den Möglichkeiten politischen Scheiterns; interessiert sich für Handlungen, die etwa durch plötzliche Kriegserklärungen sich auf einmal als inadäquat und abseitig herausstellen; erörtert aus der Perspektive fingierter Experten sonderbare Rüstungsvorhaben; berichtet von der Rückkehr Napoleons und der Versteigerung seines Eckzahns bei Sotheby’s. Am Beispiel des Privaten, das nie weniger politisch ist, beschreibt er, wie „Im Zauber der Eile“, der gedrängten Zeit, eine Liebe entsteht, die ohne solche Druckverhältnisse den Beteiligten aus der Vorstellung gerät.

Einzigartig ist Kluges Einfühlungsvermögen, ein politisch-strategisches Denken von Militärs und strategischen Planern in Dialogen zu entwerfen – etwa das eines US-Neokonservativen, der die Wahl einer Wirklichkeit vorschlägt, die zu dem passe, was man repräsentieren wolle: Entschlossenheit. Dazu wäre zum Beispiel der Gedanke an einen militärischen Rückzug nicht geeignet. Die Vorstellung, dass Information, die lange Zeit hindurch gelagert würde, irgendwann in Wirklichkeit umschlagen und zu einem Krieg führen könne, verleiht den so genannten Experten eine dämonische Seite.

Das Thema „modernes Raubtier des globalen Unternehmertums“ wird unter dem Aspekt des Darwinschen Evolutionsverständnisses eingebracht, das völlig aufgehoben erscheint dadurch, dass die Kriterien der Auslese auf die Entwicklung der Informationsmedien übergehen. Daneben erzählt Kluge vom gesundheitlichen Risiko, das ein Unternehmensberater durch die von ihm veranlasste Entlassung qualifizierter Fachkräfte eingehe, die „eine Sache um ihrer selbst willen tun“. Ein anderes Sammelthema: „Was bleibt in der Geschichte übrig?“ – nach dem Rückzug von Napoleons Armee aus Russland etwa ein verwundeter französischer Korporal, den eine russische Bäuerin aufnimmt. Generationen später regiert der Nachkomme aus jener Verbindung den Parteibezirk östlich von Minsk.

Tür an Tür mit einem anderen Leben ist als Bauprinzip dieser Erzähl-Collage zu verstehen; in der das welthistorisch Gleichgültige und das so genannte Große stets nur einen Montage-Schnitt voneinander entfernt sind. Der Schnitt erhöht die Anschaulichkeit, und es gibt eine Anlagerung. Vor allem geht aus den Geschichten hervor: Alles hätte auch anders kommen können. Über die Lust an der Erkenntnis erhält Geschichte die Möglichkeit ihrer ausgeschlagenen Wege zurück, in der Vorstellung gelangen wir noch einmal „zurück vor die Abzweigung“ (Robert Musil). Ein besonderes Vergnügen besteht dabei in der Vernetzung und in dem zunehmenden Eindruck, dass die am weitesten entlegenen Sujets, Gegenstände des Wissens und Empfindens, gleichermaßen in Reichweite sind und austauschbar; Dinge, die man nie mehr in Prosa, sondern nur noch in wissenschaftlicher Fachliteratur erwarten würde.

Vorne im Buch ist ein Foto Alexander Kluges als Kind wiedergegeben, unterschrieben mit „Der Zuhörer unter dem Tisch“. Der Junge am Fußboden ist ins Spiel mit einer Spielzeugeisenbahn versunken, selbstvergessen (nimmt indessen alles auf, was oberhalb erzählt wird). Im Schlusskapitel dann ein unvermutetes Bekenntnis, gemäß der erzählerischen Freiheit in einem Gesprächs mit Martin Walser versteckt: „Mein wahres Motiv“, das sich wie ein Wasserzeichen unter jede der 350 Erzähleinheiten (mit durchschnittlich eineinhalb Seiten) schiebt. Auf die Frage, warum er Geschichten schreibe – in ihrer Direktheit, so Kluge, eine Frechheit, weil sie impliziere, dass er das ebenso gut auch lassen könne – die umweglose Antwort des Autors: „Mir war klar, dass eigentlich alles, was ich tue, der Herstellung eines Friedens zwischen meinen beiden Eltern, der Rücknahme der Scheidung, dient. Wäre ich in Verhandlungen erfahren gewesen, wie ich es heute bin, wäre es mir gelungen, die beiden auseinander strebenden Geister in der Krise von 1941 zusammenzuführen.“ Die Forschung nach der Parallelwelt, nach einem zweiten Leben, würde um die Möglichkeit der Wiederherstellung dieses Bundes kreisen. Diplomatie, Abrüstung, Vernunft.  Der unbändige Erzählwille kommt daher. „Dann beruht also der ganze Elan der Aufklärung, für den Sie bekannt sind, auf einem privaten Motiv?“ – „Und einem aussichtslosen dazu.“