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Dossier Alexander Kluge

Im Gespräch mit Peter Berling und Claus Philipp

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Alexander Kluge und Peter Berling im Gespräch mit Claus Philipp über das Prinzip der Fälschung, das Fernsehen als Fenster im Wohnzimmer und die Kunst der Improvisation.

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Claus Philipp: Herr Berling, können Sie sich an die erste Sendung erinnern, die Sie mit Alexander Kluge in einer Rolle eines Interviewpartners gemacht haben?

Peter Berling: Ich kann mich noch an den Ort erinnern, das war Venedig. Es war während des Festivals am Lido. Wir kamen drauf, dass es ganz toll ist, wenn wir uns völlig improvisiert unterhalten, und diese Idee wurde dann zu einer Endlosserie. Ich glaube, wir haben inzwischen 150 solche Filme gemeinsam gemacht, geboren. Der erste, an den ich mich erinnern kann, war Der vierte Operntenor.

Alexander Kluge: Ja, Der vierte der Tenöre. Da gibt es die drei Tenöre, die wir alle kennen und deren Qualitätsstimmen wir bewundern – und jetzt gibt es einen vierten. Was macht man, wenn einer ausfällt? Wenn einer krank wird? Das ist ein nahe liegender Gedanke. Das Prinzip dieser Sendungen ist, dass ich nicht weiß, was Berling antwortet, er wiederum nicht weiß, was ich frage. Wir haben uns dann entschlossen, zu sagen, er ist ein Opernsänger und hat seine Stimme völlig verloren – denn sonst müsste er ja etwas singen in dem Stück.

Peter Berling: Ja, es war eine totale Stimmbandresektion, glaube ich.

Alexander Kluge: Totale Stimmbandresektion, das heißt, er hat nur noch Geräte um sich herum, die auf Knopfdruck Töne produzieren.

Peter Berling: Aber mit der Kenntnis von 80.000 Libretti im Kopf.

Alexander Kluge: Im Kopf. Und dieser Sänger, der nicht singt, ist der vierte der Tenöre und erzählt jetzt über die Erfahrungen, die man macht, wenn man Springer ist. In einer Fabrik gibt es eine Arbeitskraft, die immer dann eingesetzt wird, wenn eine andere ausfällt. Das nennt man einen Springer. Und er war der Springer des großen Gesanges.

Claus Philipp: Sie deuten an, dass das eigentlich nicht sehr viel Vorbereitung erfordert.

Peter Berling: Das ist mir auch am liebsten. Ich will ins Studio gehen und die erste Frage, mit der muss ich mich auf der Stelle auseinandersetzen – ich will keine Vorbereitung haben.

Claus Philipp: Sie kennen also bis dahin Ihre Rolle nicht?

Peter Berling: Ich ahne es vielleicht fünf Minuten vorher, wenn die Kopfbedeckung ausgesucht wird. Dann denke ich, aha! – das könnte ein Oberst der Volksarmee sein, oder das könnte ein Kardinal sein, oder was auch immer. Manchmal gibt es auch einen Wikingerhelm, das ist sehr gewitzt. Aus dieser Spontaneität entstehen eine Glaubwürdigkeit und eine Intensität. Ich habe da die herrliche Geschichte: Der Vater eines Freundes von mir, ein bekannter Conferencier, der sich im Fernsehen irrsinnig gut auskennt, ruft ganz aufgeregt seinen Sohn an und sagt: „Schalt mal sofort das Fernsehen ein, das ist ja unwahrscheinlich, es gibt einen vierten Operntenor.“ Und der Sohn sagt: „Vater, das ist der Berling.“ – „Aber nein, jetzt schalt mal sofort ein, was für ein Quatsch. Ich red von dem vierten Operntenor, schalt jetzt mal ein.“ Sagt der Sohn: „Ich brauche nicht einzuschalten, ich weiß, dass das der Berling ist.“ Der Vater: „Mit dir kann man nicht reden!“ – und legt auf.

Alexander Kluge: Das ist etwas, was es nur im Fernsehen gibt. Dass Fernsehen, als Fenster in die Wohnzimmer hineinragend, immer sagt: Wenn was passiert, werden wir es mitteilen.

Claus Philipp: Wir werden es zeigen, wie es ist.

Alexander Kluge: Wir werden zeigen, wie es ist. Das ist ein Versprechen des Fernsehens. Das ist das fünfte Fenster, wenn vier Fenster in einem Zimmer sind.

Claus Philipp: Ihre Arbeitsmethode, Herr Kluge, ist aber nicht nur unbedingt eine Antwort auf die Gegebenheiten des Fernsehens. Auch als Schriftsteller versuchen Sie sich ja oft in der Kunst des Fakes. Diese Methode, fiktive Dialoge zu entwickeln – ist das etwas, zu dem Sie das Fernsehen vermehrt ermutigt hat?

Alexander Kluge: Nein. So etwas wie eine aktuelle Realität gibt es ja gar nicht. Ich möchte das mal auf dem Gebiet des Films beleuchten: Wir haben einmal einen Film gemacht, Edgar Reitz und ich: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Dort gibt es eine Szene, in der Häuser, die von studentischen Wohngemeinschaften besetzt worden waren, im Lauf des Tages niedergerissen wurden. Am Spätnachmittag gab es dann einen Angriff der protestierenden Studenten auf einem Hügel, wo diese Baufirma so eine Art Fahne drauf gesteckt hatte – es wird also, wie früher im Krieg, eine Fahne erobert, und es gibt eine riesige Polizeischlacht. Wir waren nicht freiwillig da, weder mein Kameramann noch ich hätten uns wirklich getraut. Wir waren unfreiwillig dort und mittendrin, konnten uns nur hinschmeißen – und wir haben weiter gefilmt. Und dann holte ich noch schnell meine Hauptdarstellerin, die „Beischlafdiebin“ – sie spielt eine Beischlafdiebin in diesem Film –, und die kommt jetzt mit einem Koffer mitten durch die Polizeischlacht gelaufen. Das ist authentisch, verstehen Sie? Unsere Aufregung ist authentisch, und so kommen wirkliche Verhältnisse zueinander.

Claus Philipp: Herr Berling, jetzt kann man ja das, was Sie mit Herrn Kluge haben, eine glückhafte Zusammenarbeit nennen.

Alexander Kluge: Glückliche. Glückhaft, das ist eine Panzerdivision.

Claus Philipp: … eine glückliche Zusammenarbeit. Abgesehen davon, wenn Sie sagen, Sie wollen vorher nicht informiert werden und merken Ihre Rolle erst, wenn der Helm hereinkommt

Peter Berling: Das ist einfach die Provokation, dass ich mich viel intensiver auf das, was kommt, einstelle, als wenn ich in langen Diskussionen etwas auslote, das sowieso zu nichts führt. Jeder Versuch, vorher sozusagen einen Gesprächsverlauf festzulegen, funktioniert so nicht. Das Wichtigste ist Spontaneität, aus der heraus Fragen und Antworten sich aufeinander türmen.

Alexander Kluge: Das ist doch auch in Wirklichkeit so. Nehmen Sie mal an, Sie lernen jemanden kennen, sind im Moment verliebt. Und jetzt haben Sie sich vorbereitet – was gibt das für einen Mist? Wenn Sie jedoch unvorbereitet jemanden ansprechen, kommen da manchmal die schönsten Beziehungen heraus.

Claus Philipp: Das ist ja der reinste Anti-De Niro. Wenn Martin Scorsese mit Robert De Niro einen Gangster, etwa Al Capone, inszenieren will, dann muss der quasi zwanzig Wochen Capone-Unterhosen tragen, damit er sich in die Rolle wirklich hineinversetzen kann.

Alexander Kluge: Unterschätzen Sie nicht De Niro und Martin Scorsese …

Peter Berling: Ja, ich habe zwei Filme mit Scorsese gemacht, und das ist gar nicht so.

Alexander Kluge: Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, der Scorsese bereitet sich unendlich vor, rennt herum und so weiter – und dann improvisiert er doch.

Peter Berling: Ja, genau das ist es. Im letzten Moment gibt sogar Scorsese den Leuten völlige Freiheit, das zu machen, was sie gerade wollen. Nachdem er unendliche Zeit damit verloren hat, auszutüfteln, was am besten wäre. Ich glaube, ein guter Regisseur kann auch gar nicht anders sein. Er kann sich ruhig den Kopf zerbrechen, er muss seine Leute so gut kennen, dass er ihnen zutrauen kann, letztlich das zu machen, was er selbst will.

Claus Philipp: Sie treffen zum Teil für Ihre Fernsehsendungen sehr viele tatsächliche Experten: Wissenschaftler, Intellektuelle, Künstler – bis hin zum US-Strategen Richard Perle. Wie würden Sie den Befriedigungsfaktor an Information zwischen den wirklichen Gegenübern und den erfundenen in Relation setzen?

Alexander Kluge: Ich sage ganz ehrlich: Fake, also die erfundenen, die Eulenspiegel-Geschichte, ist das, was mir Lust macht. Andererseits muss ich sagen, Richard Perle zu treffen – das ist der größte Lobbyist, den die Amerikaner haben. Der hat im Grunde die Weltraumwaffen entwickelt und war dann unter Bush auch Chef des Planungsausschusses des Pentagon. Hat dann – als einer, der die Politik des Pentagon ausrichtet, dass man im Jahr 2040 gegen China Krieg führen kann – von der Volksrepublik China noch 600.000 Dollar entgegengenommen. Das stürzte ihn. Wenn ich den befrage, fühle ich mich wichtig, aber ich muss Ihnen sagen, Genuss ist es nicht. Und ich bin mir auch nicht sicher, dass der mir genau sagt, was der macht.

Claus Philipp: Also vielleicht lügt der auch.

Alexander Kluge: Der lügt deutlich mehr, als ich in jeder Lügengeschichte erfinden kann. Umgekehrt ist er ein netter Mensch, und ich habe hier in meinem neuen Buch, Tür an Tür mit einem anderen Leben, ein Porträt von ihm gemacht: Das moderne Raubtier. Das ist nämlich ein Raubtiertyp, der überhaupt nicht an etwas reißt, frisst, oder was haben will, sondern das Raubtierhafte und das Gefährliche an ihm ist, dass er etwas als Lobbyist anleitet, anschließend liegen lässt und die Kausalketten vereint marschieren, während er schon am nächsten Projekt ist. Also Nachlässigkeit, negatives Eigentum, sich nicht mehr  für das interessieren, was man tut – das ist der gefährliche Mensch der Zukunft.

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus einem Gespräch, das am 31. Juli 2006 in Salzburg (Das Kino) im Rahmen der Salzburger Festspielreihe „Magazin des Glücks – Salon zur Erforschung der Grundlagen des Komischen“ stattfand. Das vollständige Gespräch wird im Mai/Juni dieses Jahres erscheinen in: Sebastian Huber/Claus Philipp (Hg.): Alexander Kluge, Magazin des Glücks. Edition Transfer, hg. von Christian Reder. Springer, Wien – New York 2007.