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Filmmuseum – Von den Dingen des Alltags

Von den Dingen des Alltags

| Roland Domenig |

Eine Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum würdigt den großen japanischen Regisseur Naruse Mikio.

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Von allen großen Meistern des klassischen japanischen Kinos ist Naruse Mikio* jener, dessen Werk am schwie-rigsten zu beschreiben ist. Weder verfügt er über eine unverkennbare stilistische Handschrift wie etwa Ozu Yasujiro oder Mizoguchi Kenji, noch über den Perfektionismus eines Kurosawa Akira; sein Werk lässt auch keine besondere thematische Konsistenz erkennen. Vielmehr könnte man Naruse als Eklektiker bezeichnen, denn seine Filmografie weist neben Melodramen auch Komödien, Kostümfilme, Kriminalfilme und Propagandastreifen auf. Die Tatsache, dass Naruse nicht nur im Ausland, sondern zu einem gewissen Grad auch in Japan in erster Linie als Regisseur von Melodramen wahrgenommen wird, hängt zu einem wesentlichen Teil mit dem Umstand zusammen, dass sich die Rezeption im Grunde auf ein knappes Dutzend seiner Filme beschränkt, die vorwiegend in den 50er Jahren entstanden sind und häufig auf Romanvorlagen der Schriftstellerin Hayashi Fumiko basieren. Die vom Österreichischen Filmmuseum ausgerichtete, mit 32 Filmen bislang umfassendste Werkschau von Naruse in Österreich, bietet nicht nur die Gelegenheit, seine bekannten Meisterwerke wie Floating Clouds (Ukigumo, 1955) oder Repast (Meshi, 1951) wiederzusehen, sondern auch selten gezeigte Werkewie seine Stummfilme oder die frühen Tonfilme, zu entdecken. Die Retrospektive umfasst rund die Hälfte der erhaltenen Filme – insgesamt drehte Naruse zwischen 1930 und 1967 87 Filme, wobei der Großteil der Stummfilmproduktion verloren ist – und gibt einen Einblick in eine filmische Karriere, die nicht nur von Höhen, sondern auch von etlichen Tiefen geprägt war.

Ungeliebte Komödien

Schon beim Start seiner Karriere hatte es Naruse nicht leicht. 1905 als jüngstes Kind einer nicht sehr wohlhabenden Handwerkerfamilie in Tokyo geboren, besuchte er nach der Grundschule eine zweijährige Handwerksschule, weil sich die Familie eine höhere Ausbildung nicht leisten konnte. Viele seiner späteren Filme spielen in diesem ihm sehr vertrauten Milieu der kleinen Leute, die sich nur mit Mühe und großer Anstrengung über Wasser halten können. Der frühe Tod des Vaters zwang den halbwüchsigen Mikio, sich nach der Schule selbstständig zu machen. Er fand 1920 eine Anstellung als Requisiteur in den Kamata-Studios der neu gegründeten Produktionsfirma Shochiku, die neue Produktionstechniken einführte und rasch zum bedeutendsten Filmproduzenten Japans aufstieg. Während Regisseure wie Ozu Yasujiro, Shimizu Hiroshi oder Gosho Heinosuke, die alle einige Jahre nach Naruse bei Shochiku begonnen hatten, bereits nach verhältnismäßig kurzer Zeit zu Regisseuren aufstiegen, dauerte es bei Naruse mehr als zehn Jahre, bis das Studio ihm endlich erlaubte, selbst Regie zu führen. Neben dem Fehlen einer höheren Bildung, auf die großer Wert gelegt wurde, trug auch die problematische Beziehung zum Studiochef Kido Shiro dazu bei, dass Naruse übergangen wurde. Kido schien sich vor allem an Naruses melancholischem Charakter zu stoßen, der zwar gut zu den Melodramen passte, die zu einer Spezialität von Shochiku wurden, nicht jedoch zu den quirligen Slapstickkomödien, mit denen Neulinge üblicherwiese beauftragt wurden, ihr Talent unter Beweis zu stellen.

Wie zu erwarten war, fühlte sich Naruse, als er 1930 endlich zum Regisseur befördert wurde, im Komödienfach nicht besonders wohl. Viel lieber hätte er wie sein Kollege Ozu Filme über einfache Leute und deren alltägliche Probleme gedreht, die zu einem Markenzeichen von Shochiku (und des japanischen Kinos) wurden, doch Kido verwehrte ihm dies. Naruse fügte sich und drehte die Filme, die ihm das Studio vorschrieb. Zeit seines Lebens blieb Naruse, der sich selbst vielmehr als Handwerker denn als Künstler betrachtete, ein typischer Studioregisseur, der nicht den Ehrgeiz hatte, seine eigenen Ideen wenn nötig bei den Studiobossen durchzuboxen, sondern jene Filme realisierte, die ihm zugewiesen wurden. Nicht zuletzt dadurch erklärt sich die the matische und stilistische Vielfalt in Naruses Werk.

Frauenregisseur

Die frühen Filme Naruses sind gekennzeichnet durch das Experimentieren mit stilistischen und technischen Mitteln. Nach einer Reihe eher glückloser Filme stellten sich mit Apart from You (Kimi to wakarete) und Every Night Dreams (Yogoto no yume) 1933 erste Erfolge ein. Letzterer behandelt ein Thema, das Naruse später immer wieder aufgreifen sollte, nämlich die alltäglichen Sorgen einer jungen Frau, die in einer Bar arbeitet, um sich und ihr Kind zu versorgen, nachdem ihr Mann sie verlassen hat. Verlassene und hart arbeitende Frauen stehen auch im Mittelpunkt von Wife! Be Like a Rose! (Tsuma yo Bara no yô ni), den Naruse 1935 für P.C.L. drehte, das zu seiner neuen Heimat wurde. Naruse hatte im Jahr davor Shochiku verlassen, um ein Angebot des auf Tonfilme spezialisierten Vorläufers des späteren Toho-Studios anzunehmen. Bei Shochiku hatte Naruse ausschließlich Stummfilme gedreht und sich mit einer untergeordneten Rolle zufrieden geben müssen, bei P.C.L. genoß er größere Freiheiten und konnte endlich auch Tonfilme drehen, die sich in Japan insgesamt nur langsam durchsetzten. Der große Erfolg von Wife! Be Like a Rose! fand jedoch keine Fortsetzung, und es begann eine fast 15-jährige Schaffenskrise, die häufig auf die unglückliche Ehe mit der Schauspielerin Chiba Sachiko zurückgeführt wird, die aber nicht unwesentlich auch mit den Zeitumständen zusammenhängt – einer immer stärkeren staatlichen Kontrolle und Instrumentalisierung der japanischen Filmwirtschaft für Propagandazwecke während des Krieges sowie einer radikalen Neustrukturierung während der Besatzungszeit.

Erst im nach den Zwängen der Kriegs- und Besatzungszeit seinem Höhepunkt zusteuernden Studiosystem der 1950er Jahre fand Naruse jene Bedingungen vor, die ihn zu Höchstleistungen antrieb: ein hervorragend ausgebildetes und eingespieltes technisches Team, erfahrene Schauspieler und mit Mizuki Yoko, Tanaka Misue und Ide Toshiro kongeniale Drehbuchautoren; schließlich auch ein Publikum, das sich mit den realistischen Figuren der Filme identifizieren konnte.  In diesem für den Studioregisseur Naruse arbeitstechnisch äußerst fruchtbaren Umfeld entstanden die meisten seiner Hauptwerke: Repast, Lightning (Inazuma, 1952), Wife (Tsuma, 1953), Sound of the Mountains (Yama no oto, 1954), Late Chrysanthemums (Bangiku, 1954), Floating Clouds und Flowing (Nagareru, 1956). Im Zentrum seiner Filme stehen meist Frauen – Naruse arbeitete mit den führenden Schauspielerinnen seiner Zeit: Hara Setsuko, Tanaka Kinuyo, Takamine Mieko, Yamada Isuzu, Awashima Chikage und insbesondere Takamine Hideko –, was ihm den Ruf eines „Frauenregisseurs“ einbrachte. Anders als bei Mizoguchi, dem ebenfalls dieses Etikett angehängt wurde und der den Niedergang und das Elend seiner Heldinnen oft mit geradezu sadistischer Freude zelebriert, findet man bei Naruse vorwiegend starke Frauenfiguren. Auch wenn das Schicksal es nicht immer gut mit ihnen meint, und sie oft gerade nur das Nötigste haben, um ihr Auskommen zu finden, sind es in der Regel Frauen, die von Männern nicht abhängig sind, sondern, auf sich selbst gestellt, das Leben meistern. Naruse zeigt Frauen nicht als Opfer, die sich passiv in ihr Schicksal ergeben, sondern als aktive, selbstbewusst ihr Leben gestaltende Personen. Sie mögen schwere Schicksalsschläge erlitten und die Härten eines Lebens in Armut erduldet haben, unterkriegen lassen sie sich davon aber nicht.

Naruse präsentiert den Alltag dieser Frauen auf auffällig undramatische Weise, so undramatisch, wie der Alltag eben ist. Ein Kennzeichen von Naruses Nachkriegsfilmen ist der zunehmende Reduktionismus, mit dem er ans Werk geht. Er verzichtet auf alles Überflüssige und konzentriert sich auf das Notwendigste, auf das Wesentliche. Die auf diese Weise entschlackten Filme schaffen eine luzide Transparenz und ermöglichen einen unverstellten Blick auf die scheinbar unscheinbaren Dinge des Alltags, die dennoch zu den wichtigsten des Lebens gehören.