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Privatbesitz – „Es bereitet Vergnügen, etwas nur mit einem Bild zu erzählen“

„Es bereitet Vergnügen, etwas nur mit einem Bild zu erzählen“

| Karin Schiefer |

Schlicht, direkt und von schmerzhafter Treffsicherheit ist das Kino des jungen belgischen Filmemachers Joachim Lafosse, der in „Nue Propriété (Privatbesitz)“ Isabelle Huppert als Mutter eines Zwillingsbrüderpaars alle Facetten ihrer Kunst entlockt.

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Joachim Lafosse ist ein Grenzgänger. Dort, wo im weiten Land der Beziehungen Grenzen überschritten werden, wo sie ignoriert oder gar nicht erst gezogen werden, dort spürt er den Stoff für seine Dramen auf, die er mal auf der Bühne, mal vor der Kamera inszeniert – wie Folie privée (2004) und Ça rend heureux (2006). Für seine jüngste Arbeit Nue propriété (Privatbesitz) fand der 31-jährige Filmemacher beim Festival von Venedig 2006 große Anerkennung: Pascale (Isabelle Huppert) zieht nach der Scheidung ihre beiden Kinder, François und Thierry, alleine im Haus ihres Ex-Mannes groß. Ein neuer Mann ist bereit zum Aufbruch, der Traum, endlich wieder ein eigenes Leben führen zu können, nimmt realistische Züge an. Für einen Neuanfang müsste sie nur das Haus verkaufen – ein Vorhaben, das den niemals beigelegten Konflikt mit ihrem Ex-Mann neu aufflammen lässt und Eltern wie Kinder in eine fatale Serie von Auseinandersetzungen drängt.

Nue Propriété ist von zwei Konflikten geprägt – jenem zwischen der Mutter und den zwei Söhnen, und jenem zwischen den beiden Brüdern, die noch dazu Zwillinge sind.
Der ursprüngliche Konflikt ist der zwischen den Eltern, der über die beiden Brüder zum Ausbruch kommt. Einer von ihnen steht auf der Seite des Vaters und will, dass das Haus nicht verkauft wird. Der andere ist eher dafür und will mit der Mutter wegziehen. Daraus entsteht ein Loyalitätskonflikt, die Gewalt, die zwischen den Brüdern eskaliert, geht auf den ungelösten elterlichen Konflikt zurück. Wenn ein Kind ohne die Möglichkeit groß wird, gleichzeitig Vater und Mutter ähnlich zu sein, dann kann es nicht richtig wachsen. Darunter leiden die beiden Brüder. Sie leben in einem Konflikt, der darauf zurückgeht, dass sie ihren Eltern nicht ähnlich sein und vor allem nicht die Kinder beider Eltern sein dürfen.

Der Film trägt eine Widmung – „unseren Grenzen“. Es geht also ums Überschreiten, Setzen, Respektieren von Grenzen.
Eine Beziehung wird erst dann lebbar, wenn jeder die Grenzen des anderen respektiert. Sobald ich eine Situation in ihrer Perversion erkenne, mit einem Überschreiten, einem Fehlen von Grenzen, beginnt mich das zu interessieren. Nichts ist für mich berührender, als wenn sich Menschen treffen, um die Grenzen zu diskutieren, die sie teilen wollen. Daran fehlt es in dieser Familie. Die Kinder legen ihrer Mutter gegenüber ein elternhaftes Verhalten an den Tag, die Mutter hat wiederum ein zu amikales Verhältnis zu ihren Kindern. Sie duscht in ihrer Gegenwart, die Brüder nehmen gemeinsam ein Bad – ihr Bezug zum Nacktsein, zur Intimsphäre wird nicht respektiert. Es gibt für mich nichts Beklemmenderes, als mit Menschen zu tun zu haben, die diesen Respekt nicht kennen.

Das Brüderpaar im Film wird tatsächlich von einem Brüderpaar gespielt – Jérémie und Yannick Renier. Was hat Sie zu dieser Entscheidung bewogen?
Zunächst gibt es da einen alten Wunschtraum: Ich wollte immer einmal mit meinem Bruder spielen. Aber wie es so ist: Wir teilen nicht dieselben Leidenschaften, und er hat gar nichts mit Kino zu tun. Beim Schreiben sagte ich mir sehr bald, es wäre toll, mit zwei Brüdern zu arbeiten, und da sind mir sofort Jérémie und Yannick eingefallen. Es war kompliziert, ihnen klarzumachen, dass es nicht darum ging, ihre Familiengeschichte aufzurollen, sondern einem Drehbuch zu folgen. Ihnen war wichtig, dass die Rollengewichtung ausgewogen war, ich konnte gut verstehen, dass Yannick nicht „den Bruder von …“ in einer kleineren Rolle spielen wollte.

Kris Cuppens ist ein Schauspieler, mit dem Sie schon oft zusammengearbeitet haben. Warum?
In Folie privée, meinem ersten Langfilm, spielt er die Rolle eines Mannes, der die Trennung von seiner Frau verweigert, sein Kind nicht verlieren will und sich schließlich mit ihm davonmacht. Kris ist jemand, der nicht die Bequemlichkeit sucht, der Risiko eingeht und großzügig ist. Er bringt mich aus dem Gleichgewicht und zwingt mich, nachzudenken. Er ist ein Zerstörer, das ist sehr interessant.

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Isabelle Huppert?
Es war ein großer Wunsch, ich wagte es aber nicht wirklich auszusprechen. Ich hatte das Projekt mehrmals eingereicht, und nach der vierten oder fünften Ablehnung hat meine französische Produzentin gemeint, ein Star könnte hilfreich sein. Ich hätte mir nie gedacht, dass Isabelle Huppert zusagen würde. Als ich mich für die Renier-Brüder entschieden hatte, haben wir Probeaufnahmen gemacht, wo ich sie ermutigt habe, wirklich die Grenzen auszureizen. Fünf, sechs Schauspielerinnen haben das als sehr arg erlebt. Isabelle Huppert schien mir deshalb die richtige Wahl, weil sie mir das Gefühl gab, den beiden Ungeheuern die Stirn bieten zu können, und das war auch tatsächlich der Fall.

Eine der Stärken Ihres Filmes sind die Dialoge. Kommt diese Betonung der Dialoge von Ihrer Arbeit fürs Theater?
Ich bin nicht begeistert von dem, was ich zur Zeit im Kino sehe. Besonders auf Festivals sieht man viele einander sehr ähnliche Autorenfilme, eine Form taucht dabei immer mehr auf: der Film ohne Dialog, wo sozusagen alles mit dem Kino ausgedrückt wird. Das nervt mich, weil das Leben nicht so ist, und es interessiert mich nicht wirklich. Alles nur mit Bildern sagen zu wollen, halte ich in vielen Fällen für anmaßend. Außer man ist wirklich brillant.

Nue Propriété macht unweigerlich ein Naheverhältnis zum Kino der Brüder Dardenne spürbar, selbst wenn sie in der Kameraarbeit einen völlig anderen Ansatz verfolgen.
Richtig. Die Kamera wird genau gegenteilig eingesetzt. Unsere Nähe liegt vielmehr in den Themen, im Bezug zu den Figuren. Ich glaube, wir teilen eine Leidenschaft für die Schauspieler, für einfache, naturalistische Geschichten und vielleicht für das, was ich die Traurigkeit der menschlichen Existenz nenne, von der wir nicht geheilt werden. Es ist aber nicht unsere Absicht zu heilen. Wir wollen zeigen. Dem Symptom nicht aus dem Weg gehen, sondern ihm direkt ins Gesicht schauen, um schließlich vielleicht etwas zu entdecken, das nicht das Symptom, sondern der Ursprung des Ganzen ist.

Ihre Kamera ist sehr ruhig und reduziert mit langen, fixen Einstellungen.
Mein Vater ist Fotograf, und ich finde, es bereitet großes Vergnügen, etwas nur mit einem Bild zu erzählen. Es ist ein noch größeres Vergnügen, diesem ein weiteres hinzuzufügen und damit eine Erzählung zu beginnen und noch einmal ein größeres ist es, 24 Bilder pro Sekunde zu haben. Aber ich komme immer auf diesen Ursprung zurück, den die Fotografie darstellt und ich verspüre immer mehr Lust, in diese Richtung zu gehen.

Interessant ist Ihr Umgang mit Musik. Ein ganzer Film ohne Musik, am Ende setzt sie plötzlich auf sehr intensive und verstörende Weise ein.
Das ist sehr einfach erklärt. Wenn das Leben hart ist, tut es gut, Musik zu hören. Es ist eine Art, Abstand zu gewinnen. Musik ist ein menschliches Konstrukt. Diese Musik erzählt hier von der Traurigkeit, die Einstellung entfernt sich vom Haus, man wendet sich etwas anderem zu, kann diesen Ort endlich verlassen. Die Traurigkeit wird bleiben, aber sie ist positiv, weil sie erlaubt zu wachsen. Sie führt dazu, dass man Filme macht. Seit ich den Film gemacht habe, habe ich beinahe Lust, meinerseits das Risiko einzugehen, ein schlechter Vater zu sein, derjenige zu sein, der kritisiert wird.

Sie verweigern am Ende jede Andeutung über François’ weiteres Schicksal.
Es geht ja nicht um die Frage, was ist mit François passiert, sondern darum, warum es passiert. Ich wäre der glücklichste Filmemacher, wenn die Zuschauer sich nach dem Film damit auseinandersetzen, warum es so weit gekommen ist. Das ist, glaube ich, die richtige Frage.