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Theo Lingen

Theo Lingen

„Dann machen wir halt eine Party in Strobl"

| Roman Urbaner |

In puncto Beliebtheit und Arbeitseifer konnten sich unter den Filmkomödianten der NS-Ära nur wenige mit Theo Lingen messen. Im Mai 1945 schwang er sich aber in Strobl am Wolfgangsee auf sein Fahrrad und geriet mitten in ein antifaschistisches Heldenstück.

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Das Salzkammergut pflegt mit Hingabe seine Eigenarten, seine Lederhosen, seine Seen und seine Legenden. In zahllosen Anekdoten lebt seine Glanzzeit als Sommerfrischeparadies des Habsburgerreichs fort; und um die düstere Phase, als allerlei Nazi-Prominenz über die Almwiesen und Uferpromenaden der „Alpenfestung“ flanierte, während die Welt in Trümmer ging, ranken sich bis heute Gerüchte, Mythen und Geschichten.

Eine jener Episoden, die sich in den letzten Kriegstagen 1945 zugetragen haben sollen (und die auch Hugo Portisch zum Besten gegeben hat), dreht sich um den näselnden Filmstar Theo Lingen (1903–1978), der sich 1939 mit seiner Familie in Strobl am Wolfgangsee niedergelassen hatte. Und sie klingt so unwahrscheinlich, dass man geneigt wäre, sie ins Reich der Märchen zu verweisen, hätte sie der Salzburger Historiker Reinhard Heinisch nicht vor gut fünfzehn Jahren auf Herz und Nieren geprüft. In einem Aufsatz über die NS-Inhaftierung des belgischen Königs Leopold III. kam er nämlich nebenbei auch ausführlich auf Theo Lingen zu sprechen. Denn als der belgische König, der in den letzten Kriegswochen gemeinsam mit seiner Familie ins Salzkammergut transferiert und in einer leer stehenden Villa einquartiert worden war, Anfang Mai 1945 von einem Trupp amerikanischer Soldaten befreit wurde, hatte dies kein Geringerer als der deutsche Schauspielstar in die Wege geleitet.

Die Haftbedingungen für den Monarchen, der es zu Kriegsbeginn vorgezogen hatte, sich in Hitlers Gewahrsam zu begeben, statt sich der belgischen Exilregierung anzuschließen, scheinen nicht besonders streng gewesen zu sein: Spaziergänge und Bergwanderungen in der dezenten Begleitung freundlicher SS-Offiziere waren angeblich an der Tagesordnung. Als die Alliierten 1945 immer näher rückten, wusste dennoch niemand zu sagen, ob die Internierung der vornehmen Gefangenen im letzten Moment nicht doch noch ein gewaltsames Ende nehmen würde.

Auch Theo Lingen musste fürchten, das drohende Blutbad der letzten Kriegstage könne seine Familie in Gefahr bringen. Der Spaßvogel mit dem exakt gezogenen Scheitel und der hohen Stimme galt zwar als einer der gefragtesten Schauspieler des Dritten Reichs, seine glanzvolle Karriere in der Unterhaltungsmaschinerie des NS-Regimes hatte er allerdings nur einer Sondergenehmigung Joseph Goebbels’ zu verdanken. Lingen war nämlich mit der Opernsängerin Marianne Zoff, der Ex-Gattin Bertolt Brechts, verheiratet, die als „Halbjüdin“ stets das Damoklesschwert von Deportation und Verfolgung über sich und ihrer Familie wusste.

Mit Fahrrad und weißer Fahne

Vor diesem Hintergrund entschloss sich der Filmstar von Goebbels‘ Gnaden im Mai 1945 plötzlich – gemeinsam mit dem zur Tat drängenden jungen Adeligen Georg Fürstenberg, dessen Familie gute Kontakte zum belgischen Königspaar unterhielt – zur späten heroischen Tat. Dass diese dann auch leicht komödiantische Züge aufwies, kann man wohl nur als eine seiner Profession geschuldete Ironie des Schicksals verstehen. Als die ersten amerikanischen Einheiten ins Salzkammergut vorstießen, war die Gefahr in Strobl nämlich noch keineswegs ausgestanden. Seinem Marschbefehl gehorchend, machte der amerikanische Tross unerwartet schon am Westende des Wolfgangsees in St. Gilgen Halt. Am anderen Seeufer wusste niemand, wie sich die SS-Mannschaft, der die Bewachung der belgischen Königsfamilie befohlen war, in den kommenden Tagen verhalten würde. Angeblich hatten die SS-Männer, fest entschlossen, ihre Haut so teuer wie nur irgend möglich zu verkaufen, bereits rund um die Villa Stellung bezogen. Unmittelbar zuvor soll der SS-Scherge Ernst Kaltenbrunner persönlich die Internierungsvilla inspiziert haben. Bei dieser Gelegenheit sei der Königsfamilie auch eine (zum Glück nicht weiter verteilte) Schachtel mit „Vitaminpillen“ übergeben worden, die sich nachträglich als Zyankali erwiesen hätten.

In dieser angespannten Situation fassten Lingen und Fürstenberg also den Entschluss, dem bangen Zuwarten ein Ende zu machen: Sie kletterten auf ihre Fahrräder und fuhren, dem Hörensagen nach eine weiße Fahne schwenkend, ans andere Seeufer. In St. Gilgen angelangt, platzten sie außer Atem ins US-Hauptquartier und versuchten, den Kommandanten im Namen der „Widerstandsbewegung“ doch noch zum Vorrücken nach Strobl zu bewegen. Um nicht ganz mit leeren Händen zu erscheinen, hatten sie im Ort selbst bereits reinen Tisch gemacht: „Vorsorglich haben wir in Strobl alle Spitzen des Nationalsozialismus eingesperrt“, ließ sich Fürstenberg später zitieren, den Bürgermeister, den Ortsgruppenführer und was es halt sonst noch an Zelebritäten gegeben hat, ohne Gewalt. Wir haben ihnen gesagt, es ist eh vorbei und besser, wenn ihr schon konfiniert seid, damit es nicht die leiseste Gefahr eines bewaffneten Widerstands gibt. Wir mussten das als Alibi gegenüber den Amerikanern nutzen und ihnen sagen können, dass sie nichts zu befürchten haben, wenn sie mit uns kommen.“

In der Tat war es in Strobl zuvor zu einem unblutigen Machtwechsel gekommen. Der ehemalige NS-Bürgermeister Hans Girbl gab, von Heinisch zu den Ereignissen befragt, zu Protokoll, dass er sich am „Zusammenbruchstag“ mit einigen Mitarbeitern im Gemeindeamt befunden hatte, als sich im Nebengebäude ein Grüppchen örtlicher Freiheitskämpfer versammelte, um aufgeregt das weitere Vorgehen zu besprechen. Dann habe im Gemeindeamt das Telefon geklingelt, und Theo Lingen habe mit zitternder Stimme erklärt, dass er als Anführer der Widerstandsbewegung in Strobl mit dem Bürgermeister die kampflose Übergabe erörtern wolle. Noch zwei Mal habe der Schauspieler telefonisch angefragt, bevor sich die Freiheitskämpfer tatsächlich bis ins Gemeindeamt vorwagten. Dort hätten sie sofort die Telefonleitungen durchschnitten und ihn unter Schlägen unsanft in den Gemeindekotter abgeführt.

Die Party von Strobl

Doch der amerikanische Kommandant zeigte nicht das geringste Interesse, nach Strobl vorzurücken. Auch von dem Hinweis, dass sich dort mit dem belgischen Königspaar noch immer prominente Gefangene in der Gewalt der SS befänden, ließ sich Captain Benecke nicht weiter beirren. „Wie stellen Sie sich denn das vor?“, soll er erwidert haben. „Wir haben einen Marschbefehl, der lautet auf St. Gilgen, und weiter fahre ich nicht.“ Erst ein spontaner Einfall habe schließlich doch noch Wirkung gezeigt: „Dann kommen Sie doch inoffiziell! Machen wir eine Party in Strobl, da gibt es viele hübsche Mädchen, die laden wir alle ein“, sollen die beiden Abgesandten ausgerufen und damit einen rasanten Meinungsumschwung bewirkt haben. Auf ihren Wunsch hin machten sich die US-Soldaten daraufhin mit einem Panzer auf nach Strobl und stürmten unterwegs die Internierungsvilla. Die Wachmannschaft ergab sich ohne Gegenwehr; anderen Berichten zufolge hatten sich zumindest einige der SS-Männer vorübergehend im Keller eingeschlossen, ehe auch sie sich in ihr Schicksal fügten.

Die versprochene Party fand nach der Befreiung der belgischen Königsfamilie tatsächlich statt. Und auch von der Gelegenheit, Kontakte zu den Strobler Dorfschönheiten zu knüpfen, wurde dabei offenkundig reichlich Gebrauch gemacht (was sich etwa im solcherart angebahnten Eheglück von Captain Benecke niederschlug). Nur wenig später sollte Lingen und Fürstenberg schließlich noch eine zweite Tat von historischer Tragweite gelingen: Ihrer Einflussnahme auf den US-Kommandanten war es nämlich zu verdanken, dass in Strobl schon im Juni 1945, fünf Jahre früher als in den anderen Gemeinden, ein neuer Bürgermeister gewählt werden konnte. Und in der Tat gilt dieser Urnengang in der kleinen Wolfgangsee-Gemeinde als die allererste demokratische Wahl im befreiten Österreich. Theo Lingen hatte zwar auch hier die Fäden in der Hand; die Behauptung aber, er selbst habe nach der Wahl als erster Strobler Nachkriegsbürgermeister das politische Erbe von Hans Girbl angetreten, ist nicht mehr als ein hartnäckiges Gerücht.

Ansonsten drang die Kunde von Lingens antifaschistischen Taten lange Zeit kaum über die Grenzen des Salzkammerguts hinaus. Er selbst scheint später nicht erpicht darauf gewesen zu sein, sie an die große Glocke zu hängen. Am Wolfgangsee hingegen ist die Episode als „Heldentat von Strobl“ in die Annalen eingegangen. Und in Strobl erinnert eine Bronzebüste an den prominenten Bürger, die ihren Ehrenplatz, vermutlich nicht ganz zufällig, am Theo-Lingen-Platz gefunden hat.