ray Filmmagazin » Themen » „Vom Tode eines Kindes und der Geburt eines Brauchbaren“

Berlin Alexanderplatz – „Vom Tode eines Kindes und der Geburt eines Brauchbaren“

„Vom Tode eines Kindes und der Geburt eines Brauchbaren“

| Jörg Becker |

Die Ausstellung „Berlin Alexanderplatz“ bietet einen Rundgang durch Roman und Film.

Werbung

Tritt man in den zentralen Raum der Kunst-Werke, Institute for Contemporary Art in Berlin-Mitte, findet man sich in einem Innenhof, umgeben von 14 transluzenten Folien, fortlaufend bespielt mit lebenden Bildern. Auf jeder einzelnen Fläche läuft eine der 14 Folgen von Fassbinders Berlin Alexanderplatz, der 1980 vom WDR in dieser Einteilung und einer Gesamtlänge von 15 Stunden 39 Minuten ausgestrahlt worden war – kontrovers aufgenommen, auch weil damals unter den mangelhaften Bedingungen der TV-Ausstrahlung präsentiert, die darunter litt, dass der Monitor die dunklen Partien des Films schluckte und wie ein Spiegel funktionierte. Nun erst wird die hervorragende Lichtsetzung und Farbgestaltung von Berlin Alexanderplatz sichtbar, die Aura sternförmiger Lichtreflexe, strahlender Leuchtflächen hatte Kameramann Xaver Schwarzenberger größtenteils mit einem Seidenstrumpf über der Kameraoptik erreicht. Von außen gesehen, laufen die Folgen seitenverkehrt, aber hinter dieser Kulissenfassade, mit der richtigen Seite und in bester Qualität sind die Teile in den jeweils abgeschlossenen Räumen zu verfolgen.

Es ist so, wie man sich vorstellt, dass es sein müsste: Ein Film – in einer Ausstellung – ergibt eine Film-Ausstellung, in welcher der Film permanent läuft. Man kann von einer Folge zur nächsten gehen, Folgen wiederholt ansehen, man kann sich auch ganz auf Fassbinders Epilog – „Vom Tode eines Kindes und der Geburt eines Brauchbaren“ – am Schluss konzentrieren, auf diese überhöhte, metaphorische Gesamtschau aus dem Universum des Autors, ein plakatives Fresko mit teils überdeutlichen motivischen Referenzen (von den Insignien Christi bis zu Jean Genets Film Un chant d’amour, 1950), exzessiver Bilderfindung und libido-gerichteten Trauminszenierungen. Entlang des Rundgangs, von dem die Türen zu den dunklen Vorführräumen wegführen, verläuft eine Bilderreihe von Standfotos aus insgesamt 224 Filmszenen. Vereinzelte, insbesondere aus dem Epilog, laufen als Schleife auf Monitoren in Nebenräumen, es sind Szenen, die eine Verbindung mit zeitgenössischer künstlerischer Praxis aufweisen, Impulse Fassbinders wirken hinein in Bühnenbilder zu Tanzchoreografien, Aktions- und Videokunst, musikalische Collagetechnik (Peer Raben), Szenen, in denen Schauspiel in Performance übergeht. Der Kurator Klaus Biesenbach nennt in seinem Katalogtext „Schwarze Bilder“ u.a. Johannes Kahrs, Jonathan Meese und Christoph Schlingensief, Pina Bausch, Marijke van Warmerdam, Paul Pfeiffer und Doug Aitken. Viele der Szenen des Films wurden tatsächlich nur einmal gedreht, unter Aufbietung höchster Konzentration, denn die eine, einzige Chance wurde für immer festgehalten.

Gegen Ende amalgamiert der Stoff Berlin Alexanderplatz, im Jahr 1929 publiziert, mit der filmischen Neuaufnahme 50 Jahre später durch Musikeinsatz von Janis Joplin, Lou Reed und Kraftwerk in den Toncollagen. Fassbinder selbst scheint an einer Stelle seine Bildfindungen, kalt, mit sadistisch gelangweilter, fast amüsierter Gleichgültigkeit zu betrachten, lässt Margit Carstensen und Helmuth Griem Szenen kommentieren, die im Schlachthof spielen. „Schlachthof“ – die große Metapher der frühen Moderne: Ausschlachtung von Körper und Arbeitskraft. Schlächter und Opfer kommen zusammen; Menschenleiber, im Schlachthaus gehäuft. Darunter Franz Biberkopf, mit dem sich Fassbinder zeitlebens identifiziert haben mochte, seit er den Roman mit vierzehn zum ersten Mal gelesen hat. „Franz“ verkörperte Fassbinder bereits in Liebe ist kälter als der Tod 1969. Die Ausstellung zeigt Seiten aus seinem Arbeitsexemplar von 1977 des Döblin-Romans, darin viele dicke Anstreichungen, direkte Textübernahmen in den Film. Franz begegnet vielen Frauen, gebunden aber ist er an Reinhold, sein Zutrauen gilt unerschütterlich einem Verräter, der ihm den Körper versehrt und die Geliebte umbringt. Beide Männer tragen die Zeichen des Erlösers: Als Franz im Epilog gekreuzigt werden soll, erscheint die Szene vor einer Reproduktion von Hieronymus Boschs Garten der Lüste – eine Landschaft der Liebe liegt da neben dem Garten Eden, bis die Bosch-Szenerie ausgelöscht wird durch eine Atomdetonation (Kraftwerks Radioactivity). Man hört die Stimme des Regisseurs, Döblin lesend: „Es ist zu feiern, was der Schmerz mit Franz Biberkopf tut …“