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Das Mädchen, das die Seiten umblättert – Denis Dercourt im Gespräch

| Karin Schiefer |

Der Filmemacher und Musiker Denis Dercourt zieht im leisen Thriller „La tourneuse de pages (Das Mädchen, das die Seiten umblättert)“ die feinen Fäden einer Rache zwischen einer gefeierten und einer gescheiterten Pianistin.

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Welche Bedeutung hat ein Notenumblätterer in Wirklichkeit für einen professionellen Musiker?
Eine viel geringere als im Film. Ich bin davon ausgegangen, dass für jemanden, der Lampenfieber hat, alles eine Bedeutung bekommt. Ausgangspunkt war die Geschichte einer Rache, und als sich die Frage stellte, wie Melanie sich rächen könne, kam ich auf diese Idee. Außerdem wollte ich eine Geschichte erzählen, die eine physische Beziehung zwischen zwei Frauen zeigt, ohne dass sie sich im Klischee oder einer Männerphantasie verfängt. Wenn man so etwas macht, dann muss man sich auf die weibliche Seite seiner selbst einlassen.

Diese Notenumblätterin ist eine Figur zwischen Schutz- und Racheengel, und auch alles andere könnte jeden Moment kippen. Die Geschichte scheint auf einem Prinzip der Fragilität aufzubauen?
Fragilität ist rein technisch ein sehr effizientes Mittel zur Identifikation. Ohne Identifikation gibt es keinen Suspense. Ich halte das für den entscheidenden Punkt und stelle mir permanent die Frage, wie es mit der Identifikation steht. Sie entsteht mit der kleinen Melanie im Moment ihres Missgeschicks, mit Ariane in dem Moment, wo wir von ihrem Unfall erfahren. Man darf bei dieser Art von Filmen nicht zu dick auftragen, es ist besser, zu reduzieren. An diesen Stellen kommt es zu einer Beziehung zwischen dem Zuschauer und dem Film.

Sie spielen mit dem Kontrast zwischen der feinsinnigen Welt der Musik und der physischen, brutalen Welt des Fleischers?
Was ich schreibe, geschieht ja nicht bewusst. Ich schreibe keineswegs in einer intellektuellen oder psychologischen Weise. Auf der Leinwand ist es sehr wichtig, die Grausamkeit zu leben. Das ist das Prinzip der Katharsis. Der Kontrast zwischen der Welt des Fleischers und der des Schlossherrn rührt auch daher, dass ich etwas Märchenhaftes schaffen wollte, etwas sehr Einfaches mit einfachen Gegensätzen. Darin liegt sicherlich auch ein Grund, dass der Film weltweit so gut funktioniert.

Spielt das Kino von Claude Chabrol für Sie eine wichtige Rolle?
Ja, aber nicht bei diesem Film. Ich glaube, ein Unterschied zu Chabrol besteht darin, dass er den sozialen Aspekt viel stärker betont, bei mir ist das Soziale eine Gegebenheit. Ich habe vielmehr an Hitchcock gedacht. Wir befinden uns da auf alle Fälle in sehr archetypischen Gefilden. Mein Genre-Vorbild ist The Silence of the Lambs, wo alles im Keller geschieht. Wenn sich die Kamera in die Tiefe bewegt, steigen wir mit hinab.

Die junge Déborah François hat man in einer komplett anderen Rolle in L’Enfant der Brüder Dardenne kennen gelernt. Was hat Sie an ihr interessiert?
Entdeckt hat sie mein Produzent, er schickte mir die DVD von L’Enfant, ich fand das gut, aber ich sah keinen Zusammenhang mit der Rolle, für die wir suchten. Nach dem ersten Cast-ing war ich dann wie von den Socken. Sie war achtzehn, und sie beherrscht jede Nuance, jeder Millimeter Lippenbewegung ist Absicht. Wir haben unheimlich viel am Lächeln gearbeitet. In den angelsächsischen Ländern kommt sie unglaublich gut an, dieses Undurchsichtige an ihr, mit einer sehr nach innen gekehrten Sexualität. Ich mag es, heiße Dinge auf sehr kühle Weise zu filmen. Deshalb mag ich Cronenberg so sehr.

Arbeiten Sie grundsätzlich sehr viel mit den Darstellern?
Nicht besonders viel. Es gibt ganz einfach eine Annäherungsarbeit. Ich weiß sehr genau, was ich will, das ist meist sehr ungewöhnlich und das erfassen sie sehr schnell. Da es bei mir überhaupt keine Psychologie gibt – Psychologie geht mir wirklich auf die Nerven –, liegt es an den Darstellern, Dinge herauszufinden. Ich sage nur, ob es gut ist oder nicht. Aber ich bin sicherlich jemand, der in Bezug auf das Tempo einen sehr strengen Rahmen legt. Ich verlangsame alles.

Machen Sie viele Takes?
Nein, sehr wenige. Bei meinen ersten Filmen machte ich überhaupt nur einen Take, bei diesem etwas mehr. Da kommt der Musiker in mir durch, im Konzert wird auch nur einmal gespielt. Aber es führt zu einer sehr großen Spannung am Set. Es gibt zwei Methoden, Spannung zu erzeugen – man macht nur eine Einstellung oder man macht jede Menge. Alles, was dazwischen liegt, kennen die Leute, und das macht sie lahm. Der erste Take ist sehr oft der beste, zwischen dem ersten und vierten ist kein enorm großer Unterschied, zwischen dem vierten und dreißigsten möglicherweise schon.

Wie erklären Sie das Ende?
Das Ende war nicht einfach, und wir haben auch andere Versionen in Erwägung gezogen. Hätten wir eher ein Genre-Ende gemacht, wäre der Film weniger gut beim Publikum angekommen. Jetzt werfe ich mir das ein wenig vor, dass ich es nicht durchgezogen habe. Wenn man mit Codes operiert, sollte man sie bis zum Ende durchziehen. Das ist wie eine Sonate zu schreiben und sie dann nicht wie eine Sonate zu beenden. Wir ließen es bis zum Dreh offen. Alles war rundum weiß, das war sehr schön, es hatte etwas von Fassbinder an sich.

Was hat Sie als Musiker gereizt, Kino zu machen, und was entdecken Sie am Kino, das die Musik nicht hat?
Mein Vater ist Produzent, seit 1930 ist meine Familie im Filmgeschäft. Ich begann sehr früh mit der Musik, schrieb aber immer Texte. Einmal wurde einer inszeniert, und ich war fasziniert von der Inkarnation des Textes. Da schlug ich meinem Bruder vor, einen Kurzfilm zu produzieren, das war’s. Die Tätigkeit des Musikers besteht darin, den ganzen Tag lang Meisterwerke zu spielen, insbesondere österreichische. Das ist natürlich toll, aber ich habe auch Lust, Eigenes zu machen. Da ich kein Komponist bin, sind meine Filme diese kleinen, eigenen Dinge. Ich bin eher ein kreativer Künstler als ein Interpret. Und was das Schreiben betrifft, so gibt es eine sehr enge Verbindung. Schönbergs Harmonielehre ist ein Handbuch für filmisches Schreiben. Wir sind beim filmischen Schreiben von den aristotelischen Regeln des Theaters besessen, ich glaube aber, dass in Wirklichkeit die Regeln des Films den musikalischen Regeln mit den Prinzipien der Kadenzen, die sich nie ganz auflösen, viel näher sind. Ich schreibe nach einem Prinzip von Spannungen. Ich sehe meinen Film an, schaue nach, wo es sich auflöst oder wo ich noch gerne mehr Spannung hätte. Ich schreibe wie ein Musiker, das ergibt sehr lineare, etwas kontrapunktische Stränge. Film und Musik vereinen sich jedenfalls sehr leicht. Und wenn ich mit Musikern arbeite, dann sagen sie oft: Sie unterrichten uns, als wären wir Schauspieler, und die Schauspieler sagen oft: Wir sind doch keine Musiker.