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Inland Empire – David Lynch im Gespräch

| Thomas Abeltshauser |

David Lynch über die neuen Möglichkeiten der digitalen Videotechnik, das Kino als abstrakte Sprache und was man mit einer Ideen-Schachtel voller Papierschnipsel anfangen kann.

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Sie scheinen mit Ihrem neuen Film Inland Empire zu Ihren Wurzeln zurückzukehren, vor allem zu Eraserhead.
Inland Empire erinnert tatsächlich an meinen ersten Film, aber genauso an viele andere. Es geht darum, bestimmte Ideen einzufangen – als ob jemand im Zimmer nebenan mit einem fertigen Puzzle sitzt und mir Teilchen für Teilchen zuwirft. Das sind die Ideen, die ich auffange, die ich sehe, höre, fühle und dann aufschreibe. Es werden immer mehr, und erst mit der Zeit enthüllt sich das Ganze. Diesen Prozess hatte ich auf jeden Fall bei Eraserhead und Inland Empire, aber auch bei Blue Velvet und Mulholland Dr. Sie alle entstanden auf ähnliche Weise. Meine Filme kommen nie als Ganzes, immer in Fragmenten. Aber wenn sie da sind, bleibe ich diesen Ideen treu und übersetze sie in Filmsprache.

Drehen Sie dann mit einem fertigen Skript oder improvisieren Sie viel?
Eraserhead hatte ich komplett geschrieben, es stand alles auf dem Papier. Was mich aufhielt, war allein das fehlende Geld. Bei Inland Empire hatte ich kaum etwas aufgeschrieben. Ich schrieb eine Szene, drehte sie und erst danach schrieb ich die nächste. Die Reihenfolge war immer: Idee haben, Szene schreiben, Szene drehen. Dadurch war mir auch anfangs gar nicht klar, dass ich einen Spielfilm drehen würde. Erst nach und nach kam irgendwann die Geschichte, und ich erkannte, wie die ersten Schnipsel mit den neuen zusammenhängen.

Sie haben über einen Zeitraum von drei Jahren sowohl in Hollywood als auch in Polen gedreht. In welcher Reihenfolge entstanden die Aufnahmen?
Die Hollywoodszenen waren zuerst da, aber die polnischen Sachen kamen zu einem relativ frühen Zeitpunkt dazu. Als ich zum ersten Mal nach Polen flog, hatte ich überhaupt nicht die Absicht, dort zu drehen. Ich war zum Camerimage Filmfest in Łodz eingeladen und verliebte mich sofort in die Gegend. Ein Ort kann Ideen heraufbeschwören. Hollywood tut das bei mir schon lange und nun fing auch Łodz an, mich zu inspirieren. Es ist nicht wichtig, woher wir kommen oder wie wir aufgewachsen sind. Man schnappt Ideen auf und verliebt sich in sie. Sobald das passiert, kommt die Sache ins Rollen.

Warum haben Sie auf Digitalvideo anstelle des klassischen Filmmaterial gedreht?
Ich bin aus sehr vielen Gründen von Digitalvideo fasziniert. Die kleinen Kameras, das leichte Gewicht, 40 Minuten lange Takes, Autofokus, dass man sofort genau sieht, was herauskommt, kleinere Filmcrews, schwächere Lichter, schnellere Umbauten … Beim herkömmlichen Film ist es genau umgekehrt, alles ist unglaublich langsam, schwer und riesengroß – ein Alptraum. Die Qualität des Filmmaterials mag noch so gut sein: Ich kann so nicht mehr arbeiten. DV wird immer besser werden, mit immer mehr Möglichkeiten der Bildmanipulation. Wie beim Filmton, der bereits heute komplett digital ist und dadurch quasi unbegrenzt bearbeitet und verändert werden kann. Auf der Bildebene wird es genauso sein.

Welchen Einfluss hat das auf die Dreharbeiten und wie reagieren Ihre Schauspieler darauf?
Anfangs war es seltsam, weil viele Darsteller an diese riesigen Panavision-Kameras gewöhnt sind, an die großen Filmcrews, die riesigen Filmstrahler, und all das Hochprofessionelle, das damit zusammenhängt. Dann kommen sie ans Set, und sie sehen diese scheinbaren Spielzeugkameras und sind erstmal geschockt. Aber dann erkennen sie sehr schnell die Vorteile und die Schönheit dieser kleinen Kameras, mit denen man einfach ohne Pause 40 Minuten drehen kann. Das kommt auch den Szenen zugute, weil ich so sehr viel Zeit mit den Schauspielern verbringe und die Kamera dabei dauernd läuft. Wenn etwas Magisches passiert, hat man es automatisch festgehalten. Es würde sonst sehr leicht verloren gehen, wenn man stoppen müsste, um einen neuen Film einzulegen oder durch etwas anderes gestört würde. Und so bin ich mittendrin und kann den magischen Moment festhalten, der nicht wiederholbar wäre. Es ist einfach wundervoll!

Durch die Digitaltechnologie kann dafür heute aber auch jeder Depp mit einer Videokamera einen Film drehen und ins Netz stellen.
Sicher! Aber auch jeder hat Papier und Bleistift – und wie viele großartige Geschichten werden geschrieben? Natürlich ist es toll, solche Werkzeuge zu haben, deren Kosten immer weiter sinken. Aber es kommt doch auf die Ideen an und wie man diese übersetzt, auf die Geschichte und wie man sie erzählt. Es wird sicher interessant, was da Neues entsteht, wenn immer mehr Menschen Zugang zu diesen Mitteln haben.

Sie selbst haben große Teile Ihrer künstlerischen Arbeit ins Internet verlagert. Auf Ihrer Website davidlynch.com passieren viele merkwürdige Dinge. Unter anderem verkünden Sie jeden Tag das Wetter.
Los Angeles ist ein merkwürdiger Ort für Wettervorhersagen. Der Witz ist, dass das Wetter immer dasselbe ist. Aber das stimmt nicht, es ändert sich. Kein Vergleich zu Deutschland, aber trotzdem: Es ändert sich.

Es scheint so, als sei Ihre Website eine Art Versuchslabor für Ihre Filmprojekte …
Das ist sie auf eine Art tatsächlich. Das Internet ist weltumspannend. In einem Chatroom spricht man mit Leuten aus aller Welt. Und es ist ein Ort für Kurzfilme. Man kann dort experimentieren und Sachen entwickeln, von denen man anfangs noch gar nicht weiß, wohin sie führen. Es hat sehr viel ins Rollen gebracht.

Liegt im Internet die Zukunft des Kinos?
Sicherlich, das sieht man schon im Vergleich mit der Musik. Womit die Plattenfirmen schon seit Jahren zu kämpfen haben, droht nun auch der Filmbranche. Vielleicht hat die Filmindus­trie von der Musikbranche gelernt, ich hoffe es für sie. Aber ich weiß es nicht. Eines Tages wird es nur noch eine Sekunde dauern, um einen Dreistundenfilm wie Inland Empire herunter zu laden. Was dann mit den großen Studios, den Riesengagen und 100 Millionen Budget-Filmen passieren wird? Keine Ahnung. Aber letztendlich wird das Internet die Heimat von allem sein.

Was fasziniert Sie persönlich am Internet?
Die technischen Möglichkeiten. Ich liebe diese ganzen Programme wie Flashanimationen und all das. Und es wird noch immer besser. Ich liebe die digitale Welt. Es ist ein wahrlich magisches Reich.

Ist es auch eine Strategie, sich weiter vom Studiosystem zu lösen, im besten Sinne Independent-Kino zu machen? Den Verleih Ihres neuen Films haben Sie in den USA gleich selbst übernommen.
Die Promotion zu einem Film und der Kinosaal sind die letzten Stationen eines langen Prozesses. Eigentlich ist der Zuschauer die letzte Station, aber der Kinosaal ist der Ort, wo der Zuschauer ist. Der Eigenverleih hat natürlich ökonomische Gründe – nur so kann ich die Kontrolle behalten, denn niemand wollte den Film in dieser Form ins Kino bringen. Aber es geht mir auch um die Atmosphäre im Saal, zu spüren, wie das Publikum auf Bilder und Töne reagiert. Ich wollte den Kreis schließen. Normalerweise haben wir Filmemacher ja keinen Kontakt zum Publikum oder zu den Kinobesitzern. Es war eine wirklich gute Erfahrung.

Was ist für Sie das Besondere an Hollywood?
Mich interessiert nicht so sehr Hollywood als Symbol oder Geisteshaltung, sondern als eine Art Traum. Da unterscheide ich mich nicht sehr von vielen anderen. Dieser Ort, der bei Millionen von Menschen Träume entfacht, hat etwas Besonderes. Hollywood ist eine Traumfabrik, die Hoffnungen produziert, aber auch Verzweiflung und Horror. Ein wundervoller Ort.

Was hat Sie an Łodz so fasziniert?
Mir gefallen sehr viele unterschiedliche Orte, aber ich kannte Łodz zuvor nicht und es hat mich einfach umgehauen. Das Filmfestival findet im Winter statt, es war also dieses eigenartige Winterlicht, diese Wolken, die Architektur, die Leute, die Stimmung des Ortes … Ich liebte es einfach.

Sie haben nach der Kunsthochschule Mitte der 60er Jahre in Philadelphia gelebt. Das Łodz in Inland Empire erinnert in seiner Morbidität ein wenig daran …
Auf eine gewisse Weise tut es das, ja. Aber Philadelphia hatte eine ganz andere Atmosphäre. Vor allem die Innenräume haben mich sehr beeinflusst. Und die Luft in dieser Stadt… Philadelphia wird ja „Stadt der brüderlichen Liebe“ genannt, dabei ist es ein Höllenschlund, eine kranke und kaputte Stadt voller Angst, Gewalt und Hass. Unglaubliche Dinge passieren dort.

Gibt es auch Orte, an denen Sie keine Inspiration haben?
Nach einem Jahr an der Boston Museum School ging ich nach Salzburg, um bei Kokoschka zu studieren. Und wissen Sie was? Es war mir einfach zu sauber dort und ich bin sofort wieder abgehauen. Aber nun war ich ja schon mal in Europa, also machte ich mich mit meinem Studienfreund Jack Fisk auf die verzweifelte Suche nach einem Ort, der uns irgendwie gefangen nahm. Wir fuhren nach Athen. Als ich dort in einem sehr merkwürdigen Hotelzimmer aufwachte, war die Zimmerdecke voller Eidechsen. Ich bekam das Gefühl, dass ich vielleicht am falschen Ort sei.

Ihre Filme handeln wiederholt von Identitätsverschiebungen. Haben Sie eine Ahnung, warum Sie das so beschäftigt?
Nein, es sind wirklich die Ideen, in die ich mich verliebe – aber mit unterschiedlichen Blickwinkeln. Mein Blick auf Hollywood ist in Mulholland Dr. ein anderer als in Inland Empire. Und diese Ideen scheinen irgendwoher zu kommen. Es hat nichts mit Fantasie zu tun. Ich muss sie nur einfangen, und dann verliebe ich mich in einige von ihnen. Und wenn man sich verliebt, ist es ein schöner Tag.

Träumen Sie diese Ideen?
Nein, mir kam fast noch nie eine Idee im Traum. Aber ich liebe diese Traumlogik, dieses Traumgefühl. Manchmal entsteht durch eine Idee eine Geschichte, die dieses Gefühl transportiert, diese Art von Abstraktion, die man nicht adäquat in Worte fassen kann, zumindest kann ich das nicht, vielleicht ein Dichter … Aber Kino ist eine wunderschöne Sprache, in der man Abstraktionen ausdrücken und Wunder und Gedanken und Gefühle auslösen kann, wie man es auf keine andere Art erreichen kann.

Damit verbunden ist auch das Rätselhafte Ihrer Filme, die Mystery …
Wir sind alle Detektive. Wir haben unsere Welt, in der ich – wie wahrscheinlich jeder andere auch – Hinweise finde: Wir sehen, fühlen und ahnen Dinge. Es scheint, als ob wir Teil eines Mysteriums seien, und wir alle grübeln und machen uns unsere Gedanken darüber. Und jeder zieht seine eigenen Schlüsse.

Was machen Sie mit all den Ideen, die Ihnen zufliegen, deren Sinn Sie aber nicht sofort erkennen?
Ich stecke sie in eine Box und warte, bis eine andere Idee dazukommt, die dazupasst oder einen Gedanken auslöst. Manchmal finde ich etwas, das ich vor 10 Jahren einmal aufgehoben habe, und plötzlich verkuppelt es sich mit zwei neuen Ideen. Man weiß nie, wozu etwas gut ist.

Wie kann man sich das vorstellen?
Ganz banal, so wie es klingt: Ich habe zuhause eine Schachtel, gefüllt mit Papierschnipseln.

Und dann gibt es andere Schnipsel, wie Ihre Kurzfilmserie Rabbits, die Sie auf Ihre kostenpflichtige Website davidlynch.com gestellt haben, und die nun Teil von Inland Empire wurde.
Ja, genau. Das fing dort an. Alles, das man anfängt, ist vielleicht nie zu Ende. Es setzt andere Dinge in Bewegung.

Was hat es mit den Hasen auf sich? In Lewis Carrolls Alice in Wonderland spielt auch ein Hase eine wichtige Rolle …
Ich weiß es nicht. Ich mag Hasen … das reicht doch, oder? Sie hoppelten einfach so herein. Carroll hatte damit nichts zu tun. Aber es ist natürlich interessant, dass dort auch ein Hase … Hasen müssen irgendwas Abstraktes an sich haben.

Würden Sie zustimmen, dass Sie sich mehr und mehr vom klassischen Erzählkino entfernen?
Nein, das tue ich nicht. Ich glaube fest an Handlung und Erzählstrukturen, aber es gibt sehr unterschiedliche Arten des Erzählens. Ich mag Geschichten, aber solche, die einen gewissen Grad an Abstraktion haben. All meine Geschichten hatten das, aber Inland Empire in dem Bezug sicher am meisten.

Nach der Premiere auf den Filmfestspielen in Venedig haben Sie gesagt, Sie wüssten selbst nicht, worum es in Ihrem Film geht. Haben Sie kokettiert oder wissen Sie es tatsächlich nicht?
Nein, ich weiß sehr genau, was er für mich persönlich bedeutet. Anfangs, als mir Ideen kamen, wusste ich nicht, was daraus werden würde. Aber je mehr Ideen ich hatte, umso deutlicher wurde das Ganze und ich fand die Bedeutung für mich. Aber warum muss ich es in Worte fassen? Worte reduzieren es und machen es weniger. Der Film ist das Ganze. Die Leute sehen ihn und haben ihre eigene Interpretation, mögen ihn oder eben nicht. Das ist die Magie des Kinos und das ist, was wichtig ist.

Es gab auch Gerüchte, Sie würden den Film neu schneiden. Es war von einer Zweistundenfassung die Rede.
Es wurde nichts verändert. Auch wenn der Film in dieser Länge für die Verleiher ein Alptraum ist: Ihn zu kürzen wäre wie einem Mann, den man für zu groß hält, die Beine abzuhacken oder vielleicht den Hals oder Teile des Torsos. Das geht einfach nicht!

Sie haben immer wieder mit Finanzierungsschwierigkeiten zu kämpfen. Wie gehen Sie mit Rückschlägen um, etwa als der Fernsehsender ABC Ihre Serie Mulholland Dr. bereits nach dem Piloten gestoppt hat?
Damals war ich nicht besonders deprimiert, im Gegenteil: Ich war sogar ein bisschen euphorisch. Falls sie Mulholland Dr. als Serie gekauft hätten, wäre ich für sehr lange Zeit daran gefesselt gewesen. Es hätte unglaublich viel Energie und Konzentration erfordert und ich hätte nichts anderes tun können. Auf diese Art bekamen wir die Möglichkeit, einen Kinofilm daraus zu machen. Rückblickend sollte es wohl so sein. Es war richtig. Oft entsteht aus scheinbar Negativem etwas sehr Positives. Nach Dune war ich allerdings sehr frustriert, weil mir klar wurde, dass ich mich verkauft hatte. Es war ein Riesenprojekt, und ich hatte nicht die letzte Kontrolle. Als der Film dann an der Kinokasse floppte, war ich richtig fertig. Als ich an diesem Tiefpunkt dann mit Blue Velvet anfing, hatte ich ein Gefühl von totaler Freiheit – und dass ich nichts zu verlieren hatte.

Sie werden von Teilen der Kritik als einer der wichtigsten Filmemacher unserer Zeit verehrt, andere halten Sie für einen Blender. Wie wichtig sind Ihnen diese Urteile?
Es gibt keinen Film, der es jedem recht machen kann oder gar jedem gefällt. Kritiker sind Menschen, die ihre berufliche Erfahrung haben und über das schreiben, was sie sehen. Es gilt sich klarzumachen, dass man als Filmemacher seine Arbeit so gut wie möglich gemacht und den Prozess genossen hat. Und dann nimmt man, was kommt. Und seien wir ehrlich: Oft ändern sich im Laufe der Zeit die Einschätzung von Filmen stark. Sehen Sie sich nur die unzähligen Preisverleihungen mit all dem Trara an. Wenn man sich das mit gebührendem Abstand nach einiger Zeit ansieht, fragt man sich „Wie konnten wir nur auf diesen Quatsch reinfallen?“