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Wolfgang Suschitzky – A man named Su

A man named Su

| Michael Omasta :: Brigitta Mayr |

Wolfgang Suschitzky, aus Wien emigrierter Fotograf und Kameramann, feiert Ende August seinen 95. Geburtstag.

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Wolfgang Suschitzky, von seinen Freunden meist Wolf und von seinen Kollegen einfach Su genannt, ist der seltene Fall einer Doppelbegabung. Fotografie und Film, zwei künstlerisch grundverschiedene Ausdrucksformen, sind in seinem Werk von gleicher Wichtigkeit. Und das seit bald siebzig Jahren. Viele seiner Fotos haben sich in das ikonografische Gedächtnis des 20. Jahrhunderts eingetragen: die Aufnahmen der St. Paul’s Cathedral, die den Blitz über London wie durch ein Wunder völlig unbeschadet überstanden hat; das Porträt des feisten Gentleman mit Bowler, der vor der Buchhandlung Foyles steht und derart in seine Lektüre vertieft ist, dass er die Welt rundum vergessen zu haben scheint; oder jener Schnappschuss einer jungen Frau, von der wenig mehr als Beine, Schuhwerk und ein Rockzipfel zu sehen sind, derweil sie vom Gehsteig behände über eine Regenpfütze auf das Pflaster der Straße hinunterhüpft. Auch etliche der Filme, bei denen er die Kamera führte, haben schon längst Klassikerstatus erreicht: darunter No Resting Place von Paul Rotha, The Small World of Sammy Lee von Ken Hughes, Ulysses von Joseph Strick, Get Carter von Mike Hodges und, nicht zu vergessen, Theater of Blood, in dem sich Vincent Price als verkrachter Shakespearedarsteller ein mordlustiges Stelldichein mit der crème de la crème britischer Schauspielkunst liefert – Diana Rigg, Ian Hendry, Jack Hawkins, Harry Andrews, Milo O’Shea, Robert Morley et al.

Aber der Reihe nach. Wolf Suschitzky, am 29. August 1912 in Wien geboren, entstammt einer berühmten sozialdemokratischen Familie. Um die Jahrhundertwende hatten sein Vater Wilhelm und dessen Bruder Philipp in Favoriten die erste linke Buchhandlung von Wien eröffnet und zudem gemeinsam den Anzengruber-Verlag gegründet, der vor allem Werke mit sozialkritischer und pazifistischer Ausrichtung publizierte (darunter die maßgeblichen Schriften von Hugo Bettauer, Alfons Petzold, Rosa Mayreder, Josef Popper-Lynkeus, David Josef Bach); seine Tante, Olga Suschitzky, war als Tänzerin und Choreografin mit ihrem Ensemble auf diversen Wiener Bühnen erfolgreich; seine vier Jahre ältere Schwester Edith (später verehelichte Tudor-Hart) besuchte die Fotografie-Klasse am Bauhaus und animierte ihren Bruder, dieselbe Ausbildung an der Höheren Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt zu absolvieren.

Unter dem Eindruck des „Austrofaschismus“ verlässt Wolf Suschitzky das Land und zieht, nach Zwischenstopp in Amsterdam, weiter nach England, das ihm zur neuen Heimat wird. Sein Vater hat sich nach dem blutigen Februar ’34 das Leben genommen; dessen Bruder und dessen Witwe Adele führen das Geschäft weiter, nach dem „Anschluss“ jedoch wird der Verlag von den Nazis „arisiert“.

Binnen nur ein, zwei Jahren gelingt es Suschitzky, sich mit Fotoreportagen, einer damals in Großbritannien erst in Ansätzen entwickelten Form des modernen Bildjournalismus, einen Namen zu machen. Er beginnt als Freelancer für Bildmagazine wie Weekly Illustrated oder die Zeitschrift Lilliput zu arbeiten, später auch für Stefan Lorants legendäre Picture Post. 1937/38 entsteht seine berühmte Fotoserie der Charing Cross Road, jener Straße im Herzen Londons, wo sich, wie zur Zeit der mittelalterlichen Zünfte, als ganze Straßenzüge einer einzigen Profession vorbehalten waren, fast alle Buchhandlungen der Stadt befinden. Diese Bilder geben auch den Ausschlag, erinnert sich Suschitzky, dass er vom renommierten Dokumentarfilmer Paul Rotha als Kameraassistent verpflichtet wird: „Film hat mich immer interessiert. Rotha, einer der Gründerväter und Theoretiker des Dokumentarfilms, war damals Produzent bei einer Firma namens Strand Films. Ich hatte schon viel Interessantes und Positives über die britische Dokumentarfilmbewegung gehört. Besonders gefiel mir, dass sie es sich zum Ziel gesetzt hatte, Filme zum Wohl der Gesellschaft zu machen, etwa um krasse Ungleichheiten aufzuzeigen, die Notwendigkeit besserer Bildung für alle zu unterstreichen oder den Menschen Alltagsprobleme bewusst zu machen. Rotha meinte, wenn ich etwas über die Arbeit hinter der Kamera erfahren wolle, solle ich doch Paul Burnford assistieren, einem jungen Kameramann und Regisseur, der gerade an einer Zoofilmreihe zu arbeiten begann. Meine Aufgabe wäre es, seine Newman-Sinclair-Kamera nachzuladen, Stative und Ausrüstungskoffer zu schleppen, etc. Ich packte die Gelegenheit beim Schopf, die Arbeit an der Filmkamera zu erlernen.“

Fotografie und Film: Beides ist von nun an sein Metier, und mitunter ergänzt eins das andere ganz hervorragend. So etwa im Fall einer Fotoserie, die er 1941 für Illustrated von einer aufstrebenden jungen Schauspielerin macht: Deborah Kerr, die in den Pinewood-Studios gerade ihren ersten großen Film dreht. Als Suschitzky die Gegebenheiten vor Ort sieht, überlegt er kurz, wie er die Geschichte am besten in Bilder setzen kann, und fragt sicherheitshalber aber noch mal in der Redaktion nach: „Darf ich sie auch im Gras liegen haben?“ Postwendende Antwort: „Eine so bildhübsche Frau dürfen sie überall liegen haben!“ Und so können wir uns bis heute an einem Foto erfreuen, das 66 Jahre nach seinem Entstehen noch immer die Wärme jenes Sommernachmittages ausstrahlt, einen beinahe den Duft des frischen Grases riechen lässt, vor allem aber die jugendliche Anmut dieses kommenden Weltstars zeigt, der während der Fotosession mit Wolf ganz relaxt in seinem Drehbuch weiterliest.

Mit dem Ausbruch des Kriegs erhält Suschitzky als Ausländer vorübergehend Arbeitsverbot im Filmbereich und nimmt eine Stellung in einer medizinischen Firma an. 1942 wird er von Rotha zum „Director of Photography“ befördert und dreht Kurzfilme für das Ministry of Information. 1944 ist er Mitbegründer der Kooperative DATA (Documentary Technicians Alliance), die zum Motor des sozialkritischen Dokumentarismus britischer Prägung wird und etwa die Mining Review produziert, eine Art monatliche „Wochenschau“ speziell für die Bergarbeitergemeinden. Sie wird in 300 Kinos im ganzen Land gezeigt und befasst sich mit neuen technischen Entwicklungen im Bergbau, mit den Kumpel und ihren Familien, deren sozialem Umfeld, ihren Kulturvereinen und ihrer gewerkschaftlichen Organisation.

Parallel zu diesen Filmarbeiten beginnt Wolf Suschitzkys ungemein reiches fotografisches Œuvre immer deutlicher Kontur anzunehmen: die Nebensache, wenn man so will, wird zur Hauptsache. Er dokumentiert nicht nur Arbeitsabläufe in den walisischen Stahlwerken, den Schiffswerften von Newcastle, den tristen Kohlerevieren in Schottland oder auf den riesigen Schleppkähnen im Herzen Londons, sondern auch die sozialen Hintergründe einer heute in dieser Form nicht mehr existenten industriellen Kultur. „Meine Art zu fotografieren ist oft als dokumentarisch bezeichnet worden“, bestätigt Suschitzky, „aber das ist ein Etikett, mit dem ich sehr gut leben kann. Ohne die Fotografie wüssten wir viel weniger über fremde Länder und Landschaften und die Menschen, die dort leben. Wir wüssten nicht so viel über das Universum oder das Molekül und hätten nie die Schönheit von Dingen kennen gelernt, die zu klein sind, um sie mit freiem Auge zu sehen.“

1950/51 fotografiert er seinen ersten Spielfilm, sein Titel könnte ebenso gut als Motto für Wolf Suschitzkys eigenes Leben stehen: No Resting Place, eine Geschichte über das Wanderleben irischer Landarbeiter, der Familie Kyle, die sich dem herrschenden Gesetz verweigern und dafür leiden müssen. Wo immer sie auch hinkommen, begegnet man den so genannten „Tinkers“ mit Ablehnung. Einer von ihnen begeht im Affekt einen Mord und wird von der örtlichen Polizei gejagt. Die lose geknüpfte Erzählung wird durch Suschitzkys lebendige Kameraarbeit mit ihren äußerst kargen, dabei vielschichtigen Einstellungen perfekt unterstützt. „Keine einzige Szene wurde im Studio gedreht. Wenn wir laut Drehbuch eine Polizeistation brauchten, haben wir uns eine richtige Polizeistation ausgeborgt. Damals waren an Originalschauplätzen gedrehte Filme so selten, dass der Direktor der Government Films Bank, die uns Geld für den Film gegeben hatte, nach Irland kam, um uns beim Drehen zuzuschauen. Der Film hatte eine wunderbare Besetzung, irische Schauspieler, die in erster Linie vom Abbey Theatre in Dublin kamen: Jackie McGowran, der irische Komödiant Noel Purcell, der da eine ernste Rolle als Polizist spielte; der einzige englische Schauspieler war Michael Gough.“ Zwar lässt Paul Rotha als Regisseur das Pathos eines Rossellini oder de Sica vermissen, aber den Einfluss, den der italienische Neo-realismus auf seine Macher hatte, vermag der Film nicht zu verleugnen. Alles weitere ist, wie man sagt, Geschichte, und No Resting Place der erste Meilenstein des britischen Kinos auf dem Weg zur filmischen Moderne nach dem Krieg.

Alles in allem hat Wolf Suschitzky an die 200 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme fürs Kino gedreht, dazu noch mehrere Staffeln von Worzel Gummidge, einer der erfolgreichsten Kinderserien in der Geschichte des englischen Fernsehens. Dreharbeiten haben ihn um die ganze Welt geführt, wobei er prominente Künstler und Filmschaffende (von Robert Flaherty bis zu Guru Dutt), bedeutende Politiker und Wissenschafter (vom indischen Premierminister Nehru bis zu Sir Alexander Fleming), am liebsten aber ganz normale Leute kennen gelernt, fotografiert und gefilmt hat. Heute ist Suschitzky als Fotograf weltweit in renommierten Galerien und Museen vertreten, und auch sein filmisches Werk wurde mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht: darunter The Bespoke Overcoat (Oscar Bester Kurzfilm, Regie: Jack Clayton), Snow (Oscarnominierung Bester Kurzfilm, Regie: Geoffrey Jones) und nicht zuletzt seine Kameraarbeit für Ulysses, die ihm 1967 eine Nominierung für den prestigereichen British Academy Award einbrachte. Offensichtlich liegen das Talent und die Passion für Film aber in der Familie: Wolf Suschitzkys ältester Sohn Peter fotografiert seit zwanzig Jahren jeden Film David Cronenbergs, und auch einer seiner Enkelsöhne, Adam, hat inzwischen längst den Beruf des Kameramanns ergriffen.

Selbst sein absolutes Kamerameisterwerk weist Wolf Suschitzky im Grunde seines Herzens als Dokumentaristen aus: Get Carter (1971), ein Brit noir der Extraklasse mit Michael Caine in der Titelrolle, beginnt mit Aufnahmen eines fahrenden Zuges, dem Hell-Dunkel zwischen offener Landschaft und endlosen Tunnels, und wie auf Schienen nimmt auch die Filmhandlung ihren Lauf: die Geschichte von Jack Carter, einem wortkargen, gefürchteten Schläger, der von London nach Newcastle aufbricht, um mit den Mördern seines Bruders abzurechnen. In den tiefgrau verhangenen Ansichten und trostlosen sozialen Strukturen der heruntergekommenen Industriestadt, die der eigentliche Star des Films ist, spiegelt sich die innere Befindlichkeit der Charaktere perfekt wider. Die mit trockenem Witz gewürzten, nicht immer jugendfreien Dialoge tun ein Übriges; bevor Jack den ersten Verdächtigten zur Rede stellt, nimmt er ihm vorsorglich die Sonnenbrille ab: „Your eyes look like pissholes in the snow.“