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Auf der anderen Seite – Der Blick in die Weite

Der Blick in die Weite

| Thomas Abeltshauser |

Der deutsch-türkische Filmemacher Fatih Akin präsentiert mit „Auf der anderen Seite“ das Mittelstück seiner „Liebe, Tod und Teufel“-Trilogie.

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Eine Tankstelle im anatolischen Nirgendwo. Eine staubige Straße, ein paar Hütten, ein Hund. Ein Mann steigt aus dem Auto, er schwitzt. Während er auftanken lässt, kauft er sich Reiseproviant. Mit dieser Szene, nur ein paar Minuten lang, beginnt Fatih Akins neuer Film Auf der anderen Seite. Die nächste Szene spielt in Bremen, wo der pensionierte Witwer Ali sich seine Einsamkeit mit einem Besuch bei der Prostituierten Yeter vertreibt. Erst später erfahren wir, dass der Mann an der Tankstelle Alis Sohn Nejat ist und die Chronologie der Ereignisse eine ganz andere. Bis die Handlung ein zweites Mal zur Tankstelle führt, sterben zwei Menschen und haben wir das Schicksal von vier weiteren kennen gelernt. Der Kreislauf des Lebens.

Ali ist so angetan von Yeter, dass er sie bittet, für ein angemessenes Honorar mit ihm zu leben. Sie zieht bei dem alten Mann ein, auch weil sie das Geld braucht, um ihre 27-jährige Tochter in Istanbul zu unterstützen. In einem alkoholisierten Wutanfall schlägt Ali aber Yeter so unglücklich, dass sie sofort tot ist. Nejat lässt seine Germanistik-Professur ruhen und macht sich auf die Suche nach Yeters Tochter Ayten, ohne zu ahnen, dass diese auf der Flucht vor der türkischen Justiz längst in Deutschland gelandet ist. Dort trifft sie auf die junge Studentin Lotte, die ihr sofort einen Schlafplatz bei sich und ihrer Mutter Susanne anbietet. Als ihr Asylantrag abgelehnt wird, wird Ayten in die Türkei abgeschoben und dort inhaftiert. Lotte, die sich in Ayten verliebt hat, reist ihr hinterher und droht an der un- überwindlichen Bürokratie zu scheitern.

Zwei Särge

Immer wieder blitzt die politische Dimension der Geschichte auf, wenn etwa in Istanbul Aktivistinnen verhaftet werden und sie laut ihre eigenen Namen rufen, um nicht anonym im Gefängnis zu landen. Als sie abtransportiert werden, applaudieren einige der Passanten. Aber es gibt auch Menschen wie die unbekannte Frau im Hausflur, die der flüchtenden Ayten wie selbstverständlich hilft – ohne ein Wort darüber zu verlieren. Akin gelingen in solchen Momenten ergreifende Bestandsaufnahmen aus dem ambivalenten Inneren der türkischen Gesellschaft. Doch bei aller Relevanz ist Auf der anderen Seite kein politischer Film im herkömmlichen Sinn. Zwar prangert Akin die türkische Justiz ebenso an wie das deutsche Asylrecht – und auch die gewaltbereite Linke wird nicht von Kritik verschont, doch im Vordergrund stehen die Geschichten der sechs Hauptfiguren, die vielschichtig zwischen Verlust, Trauerarbeit und Vergebung kreisen. Eine Bewegung, die sich auf die Narration überträgt, die ebenfalls in Zirkeln verläuft, oder besser: in Schleifen. (Hi)story repeats itself. Nach einer guten halben Stunde verlässt am Flughafen in Istanbul auf einem Transportband ein Sarg das Flugzeug. Nach einer weiteren knappen Stunde wird ebendort ein Sarg verladen.

Doch anders als bei den ähnlich gearteten US-Produktionen Crash und Babel, die durch zerhackte Erzählstrukturen Komplexität zu suggerieren versuchten, wirkt Auf der anderen Seite nie überambitioniert oder unnötig konstruiert. Auch das penetrant Schicksalsergebene von Babel, das Pathetische von Crash fehlt ihm fast gänzlich. Zwar nehmen zwei Zwischentitel die Tode vorweg, doch ereignen sie sich anders als erwartet und unspektakulär. Diese Chronik angekündigter Tode ist bei aller Melancholie ein erstaunlich leichter Film geworden. Für Akin ist der Tod nicht das Ende von allem, sondern eine Bewegung, ein Übergang, der auch die Chance des Neuanfangs in sich trägt. So handelt Auf der anderen Seite, auch wenn es um den Tod geht, letztendlich doch vom Leben und von der Liebe.

Erstaunlich homogen wirkt im Filmkontext die ost-westliche Darstellerriege. Tunçel Kurtiz ist in der Türkei eine Filmikone und Nurgül Ye¸silçay dort ein junger Serienstar. Nursel Köse spielte bereits vor 20 Jahren in einem deutschen Kinofilm über eine deutsch-türkische Liebe mit, Hark Bohms Yasemin. ­Baki Davrak als Germanistikprofessor steht für eine Generation etablierter deutsch-türkischer Künstler. Er gab sein Kinodebüt 1997 in der deutsch-türkischen Coming-Out-Geschichte Lola und Bilidikid, spielt regelmäßig auf deutschen Bühnen und ist Schriftsteller. Sehenswert ist, selbst wenn sie ein wenig fremdartig wirkt, Fassbinder-Legende Hanna Schygulla als Ex-Hippie, die mit einem merkwürdig somnambulen Dauerlächeln durch die Szenerie geistert. Als Ensemble repräsentieren sie, bei aller charakterlichen Eigenständigkeit, doch so etwas wie einen Querschnitt gesellschaftlicher Realität.

Entwicklung

Es ist eine bemerkenswerte Entwicklung, die Fatih Akin seit seinem Debüt, dem Hamburger Kleingangsterdrama Kurz und schmerzlos vor gerade einmal neun Jahren, genommen hat. Nach dem romantischen Roadmovie Im Juli und dem Italienische-Gastarbeiter-Epos Solino, die zu respektablen Kassenschlagern wurden, ihm aber auch den ein oder anderen Weichspül-Vorwurf einbrachten, überraschte er vor drei Jahren mit dem wuchtigen Befreiungsschlag Gegen die Wand. Angelegt als erster Teil einer Trilogie, die Akin „Liebe, Tod und Teufel“ betitelt, gelang ihm ein ebenso geradliniges wie hitzig-wütendes Melodram über die unmögliche Liebe zwischen zwei rebellischen Außenseitern der deutsch-türkischen Community in Hamburg. Auf den ersten Blick könnten der Gewinner des Goldenen Bären 2004 und sein neuer Film, das Mittelstück der Trilogie, kaum unterschiedlicher sein. Denn Auf der anderen Seite, ausgezeichnet mit dem Drehbuchpreis des Filmfests in Cannes und frisch gekürter deutscher Oscar-Beitrag 2008, ist eine melancholische und langsam erzählte Familiengeschichte, die, unterteilt in drei Episoden, von sechs Schicksalen handelt, die über zwei Todesfälle miteinander verbunden sind. Der Film ist gelassener, erwachsener als sein Sturm-und-Drang-Vorgänger. In den drei Jahren dazwischen hat Akin – durch den internationalen Erfolg, durch die weitere Auseinandersetzung mit seinen türkischen Wurzeln im Dokumentarfilm Crossing the Bridge – The Sound of Istanbul und wohl auch durch die Erfahrung des Vaterwerdens – erheblich an Reife und erzählerischer Selbstsicherheit gewonnen. Die „andere Seite“ ist dabei mehrdeutig. Es ist die kulturelle Grenze zwischen Deutschland und der Türkei, zwischen Okzident und Orient. Es ist auch ein Zitat aus Célines Reise ans Ende der Nacht: Der Titel ist also transzendental zu verstehen. Aber man kann ihn auch auf Akins Schaffen selbst beziehen, als ein „Hinter der Wand“. Der Blick geht in die Weite, die Welt steht offen. Der Film endet am Strand des Fischerdorfs, aus dem Nejats Vater stammt und das auch die Heimat von Akins Familie ist. Die Bewegung, die der Film beschreibt, ist auch eine Rückkehr, eine Besinnung. Fatih Akin ist mit diesem Film erwachsen geworden. Der Abschluss seiner „Liebe, Tod und Teufel“-Trilogie wird die Perspektive nach innen verlagern. Es soll um das Böse gehen, nicht in der Welt, sondern in uns selbst.