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Chuck Palahniuk – Im Interview

| Stefan Adrian |

Chuck Palahniuk, Jahrgang 1962, lebt in Portland, Oregon. Er arbeitete als Mechaniker und sammelte Geschichten. Erst in den 90er Jahren begann er zu schreiben. Durch seinen Roman Fight Club (1996) und dessen Verfilmung durch David Fincher mit Brad Pitt und Edward Norton wurde er schlagartig bekannt. Bücher wie Der Simulant (Choke, 2002), Lullaby (2003), mit dem er die Ermordung seines Vaters durch einen eifersüchtigen Nebenbuhler verarbeitete, oder Flug 2039 (Survivor, 2004) festigten seinen Ruf, einer der innovativsten und wichtigsten zeitgenössischen Autoren zu sein. Sein Roman Das Kainsmal (Rant) ist soeben bei Manhattan erschienen. Mit jeder Veröffentlichung wird die Fangemeinde des US-Amerikaners größer. Oder zumindest verstörter. Im Interview anlässlich seiner Lesetournee durch Deutschland und Österreich gab sich Palahniuk überaus höflich und bedächtig.

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Wie reagiert man auf Sie? Sind Menschen zurückhaltender, weil sie denken, wenn sie etwas Falsches sagen, schlagen Sie zu?
Immer. Zuerst gibt es Erwartung, dann Konfusion – und schließlich die Enttäuschung. Sie erwarten eine Art Charles-Manson-Charakter. Und mindestens bei der Hälfte ist das Ers­te, was ich sehe, Enttäuschung. Sie können es nicht glauben, dass ich nicht diese verrückte Person bin. Aber ich erinnere mich an das erste Mal, als ich einem Autor begegnet bin, dessen Arbeit ich mochte. Das war auch sehr traurig. Auf einmal waren die Charaktere seiner Bücher keine Menschen mehr, die ich tatsächlich treffen könnte. Und daher versuche ich, es so wenig schmerzvoll wie möglich für meine Leser zu machen. Es ist auf eine Weise der Tod der Vorstellung, der Mystik.

Und heute haben Sie ständig den Zusatz „Kult“ an sich hängen, wenn von Ihnen die Rede ist?
Deswegen auch das hier (fährt sich über seinen kahlgeschorenen Kopf, Anm.). Es ist eine Erinnerung, als würde man wieder bei null starten. Es geht nicht um Erwartungen oder Deadlines. Das ist meine Art, an den Ursprung zurückzugehen. Es geht ums Schreiben. Als ich klein war, wollte ich auch immer Priester werden. Ich habe die Vorstellung geliebt, Beichten zu hören, dass Menschen mir ihre Geheimnisse erzählen würden. Aber ich habe die Vorstellung gehasst, diese Geheimnisse für mich behalten zu müssen. Jetzt bin ich ein ganz normaler Mensch, und jetzt höre ich diese Geheimnisse.

Erzählen Ihnen Menschen immer noch ihre Geheimnisse? Haben sie keine Angst davor? Wollen sie sich in einem Ihrer Bücher wiedererkennen?
Ja, sie wollen in einem Buch sein. Es gibt ihnen eine Art Unsterblichkeit. Man bewahrt und dokumentiert Aspekte ihrer Erfahrungen. Und es ist eine Art, Dinge zu verdauen, die ihnen passiert sind, es hilft sie abzubauen und zu verarbeiten. Sie zu akzeptieren heißt, darüber zu sprechen. Daher müssen Menschen auf die gleiche Weise über ihr Leben sprechen, wie sie atmen oder essen müssen. Ich beweise ihnen, dass ich sie nicht verurteile. Ich halte nicht weniger von ihnen, egal, was sie mir erzählen. Ich beweise, dass ich eine sichere Person bin, der man Geschichten erzählen kann, denn viele meiner Geschichten beschämen oder erniedrigen mich. Es sind keine Geschichten, die mich sonderlich gut aussehen lassen.

Heutzutage wird der Autor ja oft mit seinem Werk gleichgesetzt. Spüren Sie dieses Problem auch?
Ja, sehr oft. Früher wurde Kunst eher als Produkt einer Fertigkeit oder Geschicklichkeit gesehen. Diese Fähigkeit hat man dann entwickelt und verfeinert. Heute wird Kunst mehr als eine Art Instinkt gesehen, etwas, das von einer kreativen Person kommt. Künstlerische Arbeit wird nicht mehr wie eine Fertigkeit angesehn, die man entwickelt, sondern mehr als eine Sache, die natürlich gegeben ist. Jetzt sagt man, die Psychologie hinter der Kunst ist die Psychologie des Künstlers.

Apropos: Sie hören immer denselben Song, wenn Sie ein Buch schreiben. Was war es bei „Rant“?
Das war How Soon Is Now von den Smiths. Ich habe es wieder und wieder gehört. Man hört im Grunde auf, es zu hören. Man nimmt die Lyrics nicht mehr wahr, es ist wie ein Mantra. Es lenkt auch nicht von der Stimme in deinem Kopf ab. Es wird beinahe wie eine Fremdsprache und zu einer Beschaffenheit des Gefühls. Auf diese Weise schafft man die Atmosphäre für die ganze Geschichte eines Buchs.

Was wäre der richtige Song, um sich auf ein Interview mit Chuck Palahniuk vorzubereiten?
Gute Frage. Ich habe festgestellt, vieles von dem, was ich mache, die Stimmung der Geschichten in meinen Büchern, ist sehr stark beeinflusst vom Punk der späten 70er und frühen 80er Jahre, von Bands wie Generation X. Diese Songs waren alle nur zwei Minuten lang, sie mussten alle sehr schnell geschrien werden, sie mussten sehr schnell vorbei sein. Meine Geschichten funktionieren auf dieselbe Weise. Sie müssen stark, aber auch sehr kurz sein. Sie müssen das, was sie tun, sehr schnell machen. Und dieses Gefühl kommt aus dieser Zeit. Ich bin aufgewachsen, als diese Songs sehr populär waren. Ich habe das als mein Ideal verstanden.

Mit einem Wort: Jeder Song ein Aufschrei – jede Geschichte ein Schlag in die Fresse?
Alles muss aus einem Grund da sein – es muss sehr schnell sein, aber auch eine Form von Veränderung haben. Rebel Yell von Billy Idol z. B. ist ein sehr kurzer Song, aber er hat trotzdem Höhen und Tiefen. Das ist immer mein Ziel: einen Wandel in der Geschichte zu haben, aber dieser muss über sieben oder neun Seiten geschehen. Es ist erstaunlich: Wenn man sich Magazine aus der Zeit ansieht, in der man zwölf oder dreizehn war, stellt man fest, warum man diese Sachen mag: Es ist biologisch. Die Kultur hat in einem gewissen Alter ein gewisses Ideal präsentiert, und man hat sich für dieses Ideal begeistert. Jahre später blickt man zurück, und man erkennt: deswegen schreibe ich, wie ich schreibe – weil diese Songs in dieser Zeit meines Lebens meine Lieblingssongs waren.

Das ist aber wahrscheinlich nicht der einzige Grund …
Das Problem ist: Die meisten Leser wollen einen Roman wie aus dem 19. Jahrhundert. Damals waren Romane die populärste Form, eine Geschichte zu erzählen. Gemälde wollten Romane sein, Musikstücke wollten Romane sein, und jeder wollte Geschichten erzählen wie Dickens. Heute jedoch sind Filme die populärste Form, eine Geschichte zu erzählen. Also versuche ich auf meine Weise, Leute anzusprechen, die ins Kino gehen. Das Kino hat uns sehr anspruchsvoll gemacht. Denken wir an Memento oder auch Lola rennt: Hätten Menschen das vor 50 Jahren gesehen, es hätte für sie absolut keinen Sinn ergeben. Aber Filme haben uns zu einem klugen Publikum gemacht. Ich denke, Bücher müssen dieses Risiko nehmen. Sie müssen smarter werden, so wie Filme smarter geworden sind. Sie müssen komplizierter sein und nicht linear erzählt.

Was war der letzte Film, der Sie in Staunen versetzt hat?
Da muss ich überlegen, der letzte, der mich richtig richtig gekickt hat … Das war The Prestige, ein Film über Zauberer mit Michael Caine, Christian Bale und Hugh Jackman. Das war ein sehr cleverer Film, der hat mich beeindruckt.

Wie sieht es mit aktuellen Plänen aus? Es hieß, Sie würden an einer HBO-Serie arbeiten? Darf man eine Palahniuk-Serie erwarten?
Mein Buch Choke wurde in diesem Sommer [von Clark Gregg mit Sam Rockwell und Anjelica Huston] verfilmt und wird nächstes Jahr in die Kinos kommen. Fernsehen jedoch ist frus­trierend. Da passiert nichts. Allerdings wird Fight Club möglicherweise ein Broadway-Musical, und man hat mich gefragt, es zu schreiben. Dabei dachte ich bereits, das sei auch ein totes Projekt, denn es hatte schon vor zwei Jahren begonnen. Doch rief mich David Fincher an und erzählte mir, es sei immer noch aktuell. Es ist also weiterhin eine Option für mich.

Wir das nicht zu einer Art Fight-Club-Sellout?
Weil es auch schon ein Fight-Club-Videospiel gibt? Nun, es ist etwas sehr Absurdes an diesem Projekt, es hat einen perversen Reiz. David ist fasziniert von der Idee, dass diese Mittelschicht-Leute aus der Vorstadt oder Touristen um die 100 Dollar zahlen, um ein Musical über Anarchie zu sehen. Darin liegt ein großer Reiz, und ich finde das sehr lustig.

Würden Sie auch bei einem Film Regie führen?
Nein. Filme sind ein großer Kompromiss. Man muss immer sehr viele Menschen zufriedenstellen und hat nicht die gleiche Kontrolle wie als Schriftsteller. Bei einem Buch sind die Produktionskosten gering, und man hat die Freiheit, zu scheitern, ohne viel Geld zu verlieren. Wenn man mit einem Film scheitert, verliert man sehr viel Geld für viele Menschen.

Sie haben nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass Sie früher Ecstasy verkauft haben oder dann und wann LSD nehmen. Sie sprechen manchmal von Ihrem Leben vor und nach den Drogen. Haben Sie jemals bezweifelt, dass es noch etwas wird mit dem Schreiben?
Ich musste ein paar Jahre wegschmeißen, um all diese Abenteuer zu erleben und all diese Geschichten zu sammeln, damit ich etwas zu schreiben habe, wenn ich es dann langsamer angehen lasse. Es ist gut so, wie es passiert ist. Ich habe mich immer an Geschichten erinnert, weil man die gut auf Parties erzählen kann. Einmal, als ich mit den Schreibkursen begonnen hatte, tranken wir mit unserem Lehrer etwas. Er war ziemlich betrunken, als er schließlich irgendwann gesagt hat: „Chuck, du schreibst einfach Scheiße. Aber du kannst eine Geschichte erzählen. Wenn du betrunken bist und eine Geschichte erzählst, funktioniert es. Also wieso schreibst du sie nicht auf die gleiche Weise, wie du sie auf einer Party erzählen würdest?“ Das hat die Art und Weise, wie ich schreibe, komplett verändert.

Und wann nehmen Sie heute noch Drogen?
Höchstens, wenn ich mit Menschen zusammen bin. In Geselligkeit verleiten Alkohol oder Drogen die Menschen zum Reden. Und das sind Zeitpunkte, in denen gute Ideen entstehen können. Die Menschen entspannen sich und erzählen Geschichten, die sie schlecht dastehen lassen. Es gab mal eine Kurzgeschichte, bei der viele Menschen in Ohnmacht gefallen sind, wenn ich sie vorgelesen habe. In so einem Moment sind Drogen nützlich …

Sie sind also nicht der einsame Schreiber, als der Sie manchmal – vor allem vom deutschen Feuilleton – hingestellt werden? Der geniale Schreiber, der etwas Schweres mit sich herumträgt, das er nie loswerden wird?
Ich denke, jeder Mensch, der kreativ arbeitet, lebt wie ein großes Fischernetz. Und während sie leben, hören sie immer und schauen sie immer und sammeln sie immer. Musiker hören auf Rhythmen und Sounds, Maler schauen auf Kompositionen und Farben, und Autoren auf Sprache und Wörter, oder Körpersprache. Man sammelt immer.

Was sammeln Sie gerade?
Geschichten von Menschen, denen ein Streich am Arbeitsplatz gespielt wird. Ein Freund hat mir von einer Geschichte aus einem Krankenhaus erzählt. Da gibt es diese Jungärzte, und sie schlafen höchstens ein paar Stunden zwischen ihren Schichten. Kurz nachdem sie sich hingelegt haben, ertönt ein Alarm, dass sie jetzt ins Zimmer X kommen müssten, ein Notfall. Sie laufen da hin, und als sie die Tür öffnen, ist alles dunkel. Irgendein Gegenstand fällt gegen ihre Brust, und in der Mitte des Raumes sitzt eine Frau auf dem Bett, über und über mit Blut beschmiert, und sie schimpft und schreit, dass sie ihr Baby umgebracht hätten. Und dann geht das Licht an, und sie sehen, was sie da mit ihren Händen gefangen haben, ist der Körper eines toten Babys, und in den Ecken und an den Wänden stehen die Ärzte und Kollegen, die das auch schon mal durchgemacht haben. Das ist ziemlich heftig. Kennen Sie vielleicht auch so eine Geschichte?