ray Filmmagazin » Dokumentarfilm » Kurz davor ist es passiert

Kurz davor ist es passiert

| Hans Christian Leitich |

Fünf Fallbeispiele für Frauenhandel verarbeitet die mit Spielelementen operierende, mehrfach preisgekrönte Dokumentation der Wiener Filmemacherin Anja Salomonowitz auf eigenwillige Weise.

Werbung

Ein heruntergekommenes Rotlichtlokal außerhalb seiner Öffnungszeiten, der Betreiber steht hinter der Theke, über Talmi-Dekoration liegt die Patina von Zigarettenrauch. So was mag zum Schmunzeln anregen, aber im Grunde versprüht das Szenario eine ähnlich tiefe Tristesse wie ein wenig frequentierter nächtlicher Grenzübergang an Österreichs Ostrand. Und angesichts von Einfamilienhäusern, zwei weiteren Schauplätzen der in und nahe von Wien angesiedelten Dokumentation, stellt sich die Frage, wozu diese dienen: als Orte des Rückzugs und der Ruhe oder aber als Orte immer gleicher Arbeitseinheiten.

Zugrunde liegt dem Film eine klassische These: In männerdominierten Welten wird Frau-Sein, vor allem in Kombination mit Jugend, nur allzu leicht zur Handelsware. In Wien könnte das auch im mittelständischen Milieu abgehandelt werden – à la: der Macher und seine Maskottchen –, aber das ausgeprägte Wohlstandsgefälle nur wenige Kilometer östlich der Stadt motiviert dazu, sozial krassere Fälle heranzuziehen. Diese reichen von der Banalität des Daseins einer „Nur-Hausfrau“ im einsamen Irgendwo über den so genannten „dienstbaren Geist“ eines wohlhabenden Haushalts bis eben zur Rotlicht-Arbeit. Die szenische Umsetzung enthält sich spekulativer, Voyeurismus bedienender Schauwerte, im Gegenteil: In der konzeptuellen Abstraktion liegen die Qualitäten, die Kurz davor ist es passiert zu zahlreichen Festivalteilnahmen und Prämierungen, vom Wiener Filmpreis der Viennale 2006 bis zum Caligari-Preis bei der Berlinale, verhalfen. Da konzentriert sich zum einen die Kameraarbeit von Jo Molitoris auf eine eingängige, ruhige Vermittlung architektonischer Einrahmungen, um die Doppelmoral einer Gesellschaft aufzuzeigen, die eine Beteiligung am Frauenhandel gerne von sich weist, zugleich aber die Bühnen dafür zur Verfügung stellt. Weiters wird darauf verzichtet, die realen, protokollierten Fälle durch die Betreffenden selbst darstellen zu lassen –  für deren schauspielerische Vertretung hat Anja Salomonowitz zu einer originellen Lösung gegriffen: Die jeweiligen Gegenüber und Kontaktpersonen der betroffenen Frauen haben deren Zeilen, flach intoniert, zu rezitieren. Ein Nachtlokalbetreiber, ein Zöllner, ein Taxifahrer oder eine Diplomatengattin transportieren dann auf diese Weise auch eigenwillige Stimmungswerte, bei denen fehlende schauspielerische Routine sich mit einer allgemeinen Verunsicherung bezüglich des Themenfeldes überlagert.