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Gefahr und Begierde – Im Ausnahmezustand

Im Ausnahmezustand

| Andreas Ungerböck |

Ang Lees in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneter Film„Gefahr und Begierde“ zeigt den Regisseur unverändert auf dem Zenit seines Schaffens.

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Einen „Kostümfilm“ will die Rezensentin der Zeit gesehen haben, als sie sich Ang Lees mit dem selten dämlichen deutschen Titel Gefahr und Begierde ausgestatteten neuen Film zu Gemüte führte. Da kann man nur staunen. Denn Kostüme, die jedenfalls die beiden Hauptfiguren über geraume Zeit im Film gar nicht tragen, weil sie sich ihrer entledigt haben, spielen keine wirkliche Rolle. Wie immer bei Ang Lee muss man mit Kategorisierungen ohnehin vorsichtig hantieren (Lust, Vorsicht, das wäre die Übersetzung des chinesischen Originaltitels), denn so wie Brokeback Mountain sehr vieles war, aber kein „schwuler Western“, so widersetzt sich auch das neue Werk einfachen Zuweisungen.

Die Handlung suggeriert einen „konventionellen“ Politthriller oder Spionagefilm: Während der japanischen Okkupation Chinas schließt sich eine junge Frau namens Wang Jiazhi (gespielt von der Debütantin Tang Wei) einer Studenten-Theatergruppe an, die ein patriotisches Stück aufführt und sich schließlich als eine Art revolutionäre Zelle konstituiert; ein wenig linkisch und unbeholfen versuchen sie sich eher in Salonkommunismus, bis der Plan reift, den wichtigen Politfunktionär Yee (Tony Leung Chiu-wai), der offensichtlich mit den Japanern kollaboriert, zu ermorden. Mittel zum Zweck soll Wang Jiazhi sein, die sich an den Mann heranmachen, ihn ausspionieren und schließlich ans Messer liefern soll. Das geht zunächst auch gut, die schauspielerischen Talente der Gruppe helfen der Unternehmung. Jiazhi ist dabei als „Mrs. Mak“ besonders erfolgreich; sie hat sich in den (privaten) Kreis um Yee eingeschlichen und sich mit seiner Frau (Joan Chen) angefreundet, mit der sie zum Shopping geht oder Mahjong spielt. Doch ein haarsträubender Zwischenfall zwingt sie, nach Hongkong zu fliehen – erst vier Jahre später wird sie nach Shanghai zurückkehren, um ihre Mission erneut aufzunehmen. Yee ist inzwischen der gefürchtete Chef des für die Japaner arbeitenden Geheimdienstes geworden. Dass sich das bei Ang Lee nicht so simpel abspielt, wie es hier klingen mag, liegt auf der Hand. Wir sehen das Geschehen mittels Rück- und Vorausblende quasi vom Schluss der Geschichte her – aber natürlich so, dass die alles entscheidenden finalen Ereignisse noch nicht passiert sind.

Schlaglicht

Geht man aber in Erwartung eines Thrillers an den Film heran, wird man damit nicht froh werden: Die Spannungsbögen sind ganz andere, die Erzählkonventionen des Thrillers treten erst gar nicht in Kraft. Denn, wie nicht anderes zu erwarten, interessiert sich Ang Lee für diese nicht besonders, jedenfalls nicht mehr, als nötig ist, um die zentrale Konstellation seines Films zu etablieren: die Beziehung zwischen Yee und Jiazhi. Der historische Hintergrund, so brisant er auch erscheinen mag, ist nicht wirklich wichtig. Die Nebenfiguren, auch Jiazhis stürmender und drängender Studienkollege Kuang Yumin (Wang Lee-hom), bleiben vergleichsweise unscharf gezeichnet und blass, ja selbst die große Joan Chen muss sich mit einer Rolle als Stichwortgeberin begnügen. Nicht einmal als Katalysatoren des Geschehens fungieren diese Charaktere, denn den Stoff, aus dem der Film tatsächlich ist, weben ausschließlich die beiden Hauptfiguren.

Ang Lee macht daraus auch kein Hehl: Nach der fast schon routiniert abgespulten Etablierung der Gesamtsituation richtet er den Fokus mit einer grandiosen Szene schlaglichtartig auf die beiden: Yee und Jiazhi haben sich, nach einigen belanglosen Begegnungen im Hause Yee, endlich allein in ein Café zurückgezogen, und es kommt zu einer ersten Annäherung, bei der Lee und sein Kameramann Rodrigo Prieto (zum zweiten Mal nach Brokeback Mountain) alle Register ihres Könnens ziehen: ein virtuos inszeniertes Ballett der Blicke und Gesten – zwischen Vorsicht und Lust. In dieser kaum durch Schnitte unterbrochenen Szene, in dieser aufgeladenen Atmosphäre liegt bereits der Kern des Films begründet, der einen nicht überraschen kann, wenn man Ang Lees bisherige Filme gesehen hat: Menschen im Ausnahmezustand, Menschen, die zwischen brennender Liebe und lodernder Verzweiflung gefangen sind, die anders nicht können, aber auch nicht wollen. Man muss sich nur zwei Jahre zurückerinnern, an Brokeback Mountain oder ein wenig weiter zurück an Crouching Tiger, Hidden Dragon und an Ice Storm, oder auch an die Figur des unglücklichen Hulk, der in seiner fremden Haut buchstäblichen zu bersten droht.

Leidenschaft

Denn Yee und Jiazhi haben bereits Feuer gefangen, und allmählich entwickelt sich zwischen den beiden eine Leidenschaft, die ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen wird, eine Anziehung, die weder sein darf, noch sein kann und dennoch so stark ist, dass jeglicher Gedanke an die „rettende Vernunft“ absurd erscheint. Aus diesem Blickwinkel sind auch die zahlreichen und heftigen Sexszenen zu sehen, die – wiewohl wir uns im 21. Jahrhundert befinden – wieder einmal für „Aufsehen“ sorgen. Sie sind von einer rohen, wilden Schönheit, zwischen zurückhaltender Zärtlichkeit und nackter Brutalität – ganz entschieden ähnlich denen zwischen Jack und Ennis in Brokeback Mountain. Solche körperliche Raserei zu inszenieren, dazu gehört ein reifer Regisseur auf der Höhe seines Könnens, und dazu gehören mutige Darsteller. Dabei verblüfft vor allem die Newcomerin Tang Wei; von Tony Leung ist man nichts anderes gewohnt, als dass er sich mit Haut und Haar in seine Rollen stürzt. Das Rätsel, wie dieser schmächtige, sanfte Mann eine derartig gewaltige Leinwandpräsenz erlangen kann, bleibt dennoch bestehen.

Wie Brokeback Mountain entstand auch Gefahr und Begierde nach einer von einer Frau geschriebenen Kurzgeschichte. War es zuletzt eine von Annie Proulx, so ist es diesmal eine von Eileen Chang, jener chinesischen Autorin, deren Vorlagen bereits Stanley Kwan zu Red Rose, White Rose (1994) und Hou Hsiao-hsien zu Flowers of Shanghai (1998) inspirierten. Die Parallelen zwischen den beiden Filmen Lees sind wirklich erstaunlich: In Brokeback Mountain ist Zeitgeschichte (Bürgerrechtsbewegung, Vietnam, Watergate) so gut wie ausgeblendet, und hier, vor dem vermeintlich wichtigen politischen und historischen Hintergrund, geht dieser ebenfalls im Furor der Gefühle unter. Der Folterknecht im Dienste der Japaner und die patriotische Spionin, solche Zuordnungen fallen mit den Kleidungsstü-cken von den beiden ab. Übrig bleiben die Sehnsucht und der Hunger, aufzugehen im jeweils anderen, sich des eigenen Ichs zu entledigen. Dass das nicht auf Dauer gut gehen kann, liegt auf der Hand, das haben Tragödien so an sich. Denn Gefahr und Begierde ist alles andere als ein lauwarmes Melodrama, sondern the real stuff. Taschentücher reichen da nicht aus.