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David Cronenberg

Eastern Promises – David Cronenberg im Gespräch

| Thomas Abeltshauser |
David Cronenberg über Laseroperationen, die Bedeutung von Tätowierungen, den „Realismus“ seiner Filme und deren Funktion als kindliche Selbstgespräche.

Ihr neuer Film Eastern Promises dauert kaum mehr als 90 Minuten – erfrischend kurz. Unter zweieinhalb Stunden scheinen es Ihre Kollegen ja nicht mehr zu machen.
Ich habe noch nie einen Film gemacht, der zwei Stunden dauert. Meine sind alle schön knackig. Ich finde es besser, wenn die Leute mit dem Gefühl aus dem Kino kommen, dass sie gern noch mehr gesehen hätten. Heutzutage gehen die meisten wirklich zu weit, die Filme ziehen sich entsetzlich in die Länge. Ich halte es lieber so knapp wie möglich. Ich suggeriere gern, dass es ein Leben gibt, das über die Dauer des Films hinausreicht. Ein Leben, bevor der Film beginnt, und ein Leben nach dem Ende des Films. Der Film als Ausschnitt.

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Viggo Mortensen spielt wie bereits in Ihrem letzten Film History of Violence die Hauptrolle. Was gefällt Ihnen an dem Mann?
Ich würde gern sagen, dass er mir viel Geld dafür bezahlt, damit ich ihn engagiere, weil er sonst nirgendwo Arbeit findet. Aber das stimmt ja leider nicht. Wir kamen bei History of Violence sehr gut miteinander klar, es war eine sehr enge, sehr intensive und erfüllende Zusammenarbeit. Er ist sehr freundlich und ohne großes Ego. Und er recherchiert eigenständig, zum Beispiel ist er nach Russland gereist und hat sehr viele Details für die ganze Crew mitgebracht. Er ist selbst Dichter, Maler, Fotograf, Musiker und Verleger, sein Filmverständnis wiederum ist eher das eines Regisseurs. Als ich das Drehbuch zu Eastern Promises las und auf die Rolle des Nikolai stieß, dachte ich sofort an Viggos Wangenknochen, die sehr slawisch wirken. Er hatte für mich immer etwas Russisches – trotz oder wegen seiner dänischen Wurzeln. Und er hat ein sehr musikalisches Ohr für Sprachen, er spricht selbst etliche.

Neben Mortensen werden auch alle anderen Russen von Nichtrussen gespielt. Warum?
Ich hätte gern russische Schauspieler genommen, denn es gibt sehr gute, aber sie sprechen leider kaum Englisch. Und das war wichtig, denn ich führe auf Englisch Regie, und die Figuren sollen gut Englisch sprechen, wenn auch mit Akzent. Es musste ein guter Akzent sein, den man auch verstehen kann. Mit englischen Schauspielern, die man aus unzähligen britischen Filmen kennt, wollte ich nicht arbeiten. Um interessante Stimmen und Gesichter zu bekommen, musste ich woanders suchen. Deshalb kommen die Darsteller von überall: aus Amerika, Frankreich, Deutschland, Polen.

Mussten Sie Mortensen lange überreden, die Kampfszene im Dampfbad nackt zu spielen?
Das ist der andere Grund, warum ich gern mit Viggo arbeite: Er ist ein Schauspieler, kein Star. Er hat sofort kapiert, dass der Grad an Realismus in diesem Film es nicht erlauben würde, da irgendwie zu tricksen. Er konnte weder mit einem Handtuch um die Hüften kämpfen noch konnte ich versuchen, mit der Kamera immer über der Gürtellinie zu bleiben. Das würde albern wirken und völlig dem Realismuskonzept des Films widersprechen. Außerdem kann man in einer solchen Szene jemanden nicht doublen, wenn er nackt ist. Es war dann nur eine ganz kurze Diskussion mit Viggo und dem Stuntkoordinator des Kampfes.

Die russischen Gangster sind über und über mit Tattoos gezeichnet und jedes hat eine bestimmte Bedeutung. Wie haben Sie dazu recherchiert?
Als ich jung war, hattenTattoos nur Matrosen und Kriminelle. Heute ist es ein Modetrend, und jeder hat eines. Viggo brachte aus Russland eine Dokumentation mit dem Titel The Mark of Cain mit, die ein Freund von ihm in einem Hochsicherheitsgefängnis gedreht hat. Darin sprechen die Insassen über ihre Tattoos, die im Gefängnis eine Art Ausweis sind und deine Lebensgeschichte erzählen. Ein älterer Mann meint, wie furchtbar es sei, dass die Jungkriminellen, die jetzt ins Gefängnis kommen, die rituelle und symbolische Bedeutung der Tattoos nicht kennen und sich irgendwas tätowieren lassen, was ihnen gefällt oder gerade „in“ ist. „Es geht ihnen nur ums Geld und sie scheren sich einen Dreck um Ehre, wie wir alte Diebe sie noch hatten.“ Das klingt nach einer etwas schrägen Klage, aber es ist schon so: Das komplexe Bedeutungssystem, das sich 150 Jahre lang in russischen Gefängnissen entwickelt hat, verschwindet tatsächlich, weil die Jungen diese alten Rituale ignorieren. Aber noch gibt es Leute, die Tattoos lesen und ihre Bedeutung verstehen können. Und diese Bedeutung ist oft überraschend.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Viggo hat dieses Kreuz, dieses Kruzifix. Das heißt aber nicht, dass er Christ ist, sondern dass er sich als Märtyrer sieht, der sein Leben der kriminellen Bruderschaft geopfert hat. Für einen Außenstehenden sieht es aus wie ein religiöses Symbol, aber das ist es nicht. Genauso die Kirchtürme auf dem Rücken: Sie symbolisieren jeweils die Zeitdauer, die er im Gefängnis verbracht hat. Man muss also diese Sprache wirklich kennen, um die Zeichen verstehen zu können. Sie sind auch von Gruppierung zu Gruppierung unterschiedlich. Die japanische Mafia etwa, die Yakuza, hat wieder ganz andere Symbole. Es sind in sich geschlossene Subkulturen.

Haben Sie selbst Tattoos?
Nein, aber meine beiden Töchter. Wenn ich jünger wäre, hätte ich vielleicht selbst eines. Aber wer weiß, es ist noch nicht zu spät. Meine jüngere Tochter ist Fotografin, sie hat mir den Unterarm rasiert und so ein abwaschbares Tattoo draufgemacht, das aus einem Bildband russischer Krimineller stammt. Es war ein Zigarre rauchender Totenkopf mit einer Krone. Auf dem Foto tue ich, als ob ich mich gerade selbst tätowieren würde. Nach dem Shooting habe ich es noch eine Weile draufgelassen, weil es mir gefallen hat. Und es verändert dich. Ich kann verstehen, warum Leute es machen. Es ist eine Art, sich zu markieren, sich abzusetzen, von Eltern oder Freunden.

Warum geht es in Ihren Filmen immer wieder um die Bearbeitung und Veränderung von Körpern?
Der erste Beweis menschlicher Existenz ist für mich der menschliche Körper. Ich bin Atheist, ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod oder Karma-Recycling. Für mich ist der Körper das, was wir sind. Wenn er stirbt, sterben wir und das war’s. Das lässt mich in philosophischen Fragen ganz selbstverständlich auf den menschlichen Körper fokussieren. Er ist unsere Identität. Ich glaube nicht, dass wir eine Identität haben, die über unseren Körper hinausreicht. Aber ich glaube auch, dass wir uns unsere Identität kreativ konstruieren können. Wir werden meiner Meinung nach nicht durch unsere Geburt und die genetischen Vorgaben dazu geformt, wer wir sind. Der Einfluss der Gene ist groß, keine Frage, aber es gibt einen kreativen Willen, der uns zu dem macht, was wir wirklich sind. Wir treffen Entscheidungen, dies oder jenes zu sein, wir imitieren andere, wir verändern durch Eingriffe unsere Körper. Wenn man wirklich will, ist es möglich, jemand anderes zu werden.

Konkretisieren Sie das bitte.
Ich habe zum Beispiel meine Augen lasern lassen. Mit 45 Jahren konnte ich mich plötzlich hinters Steuer setzen und ohne Sehhilfe Auto fahren. Seit meiner Kindheit hatte ich eine Brille getragen. Dafür brauche ich jetzt eine Brille zum Lesen. Klar sind das nur kleine Veränderungen in meinem Leben, aber sie sind sehr real. Wir alle arbeiten mit Technik als Verlängerung des Körpers oder dessen Ersatz, seien es Implantate oder so einfache Dinge wie Hörgeräte. Ich trage auch eines, ich bin also sozusagen bionisch erweitert, wie der Sechs-Millionen-Dollar-Mann aus dieser 70er-TV-Serie, nur dass es bei mir viel kostengünstiger war. Für mich ist das völlig natürlich, wir haben schon immer Technik benutzt, selbst wenn sie so primitiv ist wie ein Schlagstock, mit dem wir die Kraft unseres Armes verstärken. Auch die Sprache ist eine solche Technik, die wir entwickelt haben. Ich sehe Technik als eine Erweiterung menschlicher Fähigkeiten. Und sie sagt sehr viel über Mentalitäten aus. Wenn Sie etwa ein italienisches und ein japanisches Motorrad vergleichen, entdecken Sie zwei völlig verschiedene Denkweisen und Kulturen – sehr aufschlussreich.

In Ihrem Film gibt es keine einzige Schusswaffe, nur Messer. Warum?
Das ist oberflächlich gesehen natürlich nicht realistisch, aber es passt zu meinem Konzept von Gewalt, die für mich ein sehr intimer Zerstörungsakt des menschlichen Körpers ist. Mit einer Schusswaffe hat man Distanz, aber wenn man jemanden mit einem Messer tötet, muss man diesen Körper fühlen, man riecht ihn, hört ihn, man muss ihm sehr nahe kommen. Das ist für mich Gewalt: Die Zerstörung eines menschlichen Körpers durch einen anderen. Als Atheist denke ich, dass man durch einen Mord ein einzigartiges Wesen zerstört, das nie zuvor existiert hat und danach nie wieder existieren wird.

Früher waren Sie in erster Linie als Horrorregisseur bekannt, Ihre beiden jüngsten Filme waren dagegen realistische Thriller. Ist heute unser Leben, die Gesellschaft selbst der Horror?
Das war es schon immer. Alle meine Filme sind realistisch, denke ich. Manchmal auf metaphorische Art. Zu der Zeit, als ich The Brood machte, kam der Film Kramer vs. Kramer raus, der auch von Scheidung handelte, und ich behaupte: Mein Film war, trotz aller Kreaturen, viel realistischer als der andere, was die emotionale und psychologische Ebene angeht. Kramer vs. Kramer war nur Hollywood-Bullshit. Man kann auf so viele Arten über Realismus sprechen. Filme sind letzten Endes nie real, da muss man sehr vorsichtig sein. Aber kreativ gesehen fühlen sich meine jetzigen Filme genauso an wie die früheren. Die Themen, meine Art zu inszenieren, die Schauspieler, das Licht, die Kameraperspektiven, das alles ist ziemlich gleich. Und vor 20 Jahren habe ich Filme gedreht wie Dead Ringers und M. Butterfly, die auf wahren Geschichten basieren und damit „realer“ waren als meine letzten Filme, die fiktionale Vorlagen hatten. Alles eine Frage der Definition.

Was ist dann der rote Faden Ihrer Filme?
Meine Filme sind eine Art Selbstgespräch, und ich lade Sie ein, zuzuhören. Oder sich selbst zuzuhören. Ich setze mich mit Fragen auseinander, die mit Beziehungen, Realität, Identität und dem Körper zu tun haben, eine Art philosophische Betrachtung. Aber es geht auch um Schönheit, Licht, Texturen und andere Sinnesfreuden. Es ist eine Art Suche, Entdeckungsreise und Unterhaltung für mich selbst, wie wenn man einem Kind eine Geschichte erzählt. Ich bin das Kind, ich erzähle mir selbst.

Wenn Ihre Filme Selbstgespräche sind, auf welche Weise interessiert Sie dann zum Beispiel die Realität der Russenmafia in London?
Ich habe mich mit russischer Kriminalität genauso beschäftigt wie mit Russland allgemein und dem russischen Kapitalismus, eine sehr primitive Form des Kapitalismus, der nach dem Zusammenbruch des Ostblocks entstand und der Kriminalität sehr ähnlich ist. Die Recherche nach Fakten und Tatsachen setzt bei mir alle möglichen kreativen Gedanken frei, und in dem Film fließt dann beides ein. Deshalb liebe ich Filmemachen auch so, weil es einen zwingt, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, mit denen man sonst nie in Berührung kommen würde. Wie ich den Mob darstelle, ist oft authentisch und dann auch wieder sehr fiktiv. Aber wir haben von russischen Freunden gehört, dass unser Film vom Mob gute Kritiken bekommen hat. Es macht ihnen nichts aus, als Kriminelle dargestellt zu werden, denn das sind sie. Aufgebracht hätte sie nur, wenn wir uns über sie lustig gemacht hätten oder bei den Details gepfuscht hätten, bei den Tattoos oder dem Slang.

In Eastern Promises gibt es ein ambivalentes Männerpaar: Nikolai arbeitet mit Kirill, dem Sohn des Paten, zusammen. Kirill versucht, seine Homosexualität zu vertuschen, ist aber wohl heimlich in Nikolai verliebt. Nikolai ist ihm gegenüber fast zärtlich, zugleich manipuliert er ihn aber auch.
Mir geht es um die Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen. Man kann freundlich und sanft und dabei sehr manipulierend sein. Man kann jemanden sehr lieben und ihn zugleich benutzen oder die Liebe benutzen, um jemanden zu manipulieren. Deswegen ist die Liebe aber trotzdem noch echt. Wir wissen nicht, ob Nikolai wirklich irgendeine Zuneigung gegenüber Kirill fühlt. Vielleicht findet er ihn in Wahrheit abstoßend, aber er flirtet mit ihm wie ein Lover, weil er weiß, dass Kirill ihn liebt, es aber nicht zugeben kann. Sich in diesen Gangsterkreisen als Homosexueller zu erkennen zu geben, wäre wie ein Todesurteil, weil es als schwach und verletzlich angesehen wird. Die russische Kultur, vor allem die der Mafia, ist traditionell sehr machoid und homophob. Jemand wird als Päderast oder Homosexueller bezeichnet, um ihn zu diffamieren und damit seinen Tod zu rechtfertigen. Es ist dann ziemlich egal, ob jemand tatsächlich schwul ist. Nutzt Nikolai Kirill nur aus, oder gibt es ein echtes Mitgefühl für seine Situation? Genau diese Ungewissheit, dieses Mehrdeutige wollte ich betonen, um zu zeigen, wie Beziehungen zwischen Menschen funktionieren.