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Film und Musik – Eine einfache Musik

Eine einfache Musik

| Mike Beilfuß |

Das Wiener Konzerthaus bietet im Jänner ein weiteres hochkarätiges Programm aus seinem Abonnement-Zyklus Film + Musik Live.

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Die übliche klischeehafte Vorstellung des einsamen, improvisierenden Pianisten, der – mal mehr, mal weniger – das Geschehen auf der Leinwand kommentiert und den Saal mit tönendem Leben füllt, ist nicht in der Blütezeit des Stummfilms entstanden. Erst 1927, mit der Einführung des Tonfilms und der gleichzeitigen Zurückdrängung des Stummfilms aus dem kommerziellen Kino in die Nische der Sammler, Museen und Kinematheken, wurde es üblich, Pianisten zur Vertonung zu engagieren oder Tonbandaufnahmen zu verwenden. Mehr konnte einfach nicht mehr bezahlt werden.

Neukompositionen

Bis zu diesem Zeitpunkt war die Stummfilmmusik jedoch weitgehend orchestral. Leider sind im Laufe der Jahre sehr viele Partituren verloren gegangen oder verschollen, was für heutige Komponisten ein neues Feld aufgetan hat. Der 30. November 1980 ist in diesem Zusammenhang ein nahezu historisches Datum. Der Komponist Carl Davis fertigte für Abel Gances Filmepos Napoleon (1927) eine neue Musik an und führte diese live vor 1200 Menschen in einem ausverkauften Kino in London auf. Im Publikum saß der Programmchef des damals gerade gegründeten Fernsehsenders Channel 4. Dieser nahm dieses Ereignis zum Anlass, weitere Stummfilme restaurieren zu lassen und gab Davis den Auftrag für weitere Neukompositionen.

Im Zuge dieser Renaissance wurde auch der 1963 geborene US-Amerikaner Timothy Brock zum Star. 1986 komponierte er seine erste Stummfilmmusik zu Georg Wilhelm Pabsts Die Büchse der Pandora (1929) und startete damit seine Karriere als einer der anerkanntesten Stummfilmmusik-Restauratoren und -komponisten weltweit; „nebenbei“ schreibt er auch Sinfonien und Opern. Seinen ersten Auftrag für einen Film von Chaplin erhielt er 1999, als er für das Los Angeles Chamber Orchestra und die Charlie-Chaplin-Stiftung die Originalmusik des Meisters zu Modern Times (1936) restaurieren und für die Live-Aufführung auch dirigieren sollte. Momentan arbeitet Brock an A Woman in Paris (1923), seiner bereits achten Restauration für die Chaplin-Familie.

Da das vorhandene Notenmaterial oft unvollständig oder falsch war – Chaplin änderte seine Partituren ständig und nicht selten in allerletzter Sekunde – griffen die meisten Restauratoren bislang auf alte Soundtracks zurück. Brock jedoch verfolgt bei der Rekonstruktion der Chap-lin-Musiken ein ungewöhnlicheres Prinzip: Er hört und transkribiert alte Aufnahmen von Chaplins Pianospiel (Chaplin war Autodidakt, spielte aber dennoch mehrere Instrumente) und verbindet diese mit den noch erhaltenen originalen Filmeinspielungen zu einem „neuen“ Chaplin-Score.

Vor sich hingeträllert

Chaplin selbst konnte keine Noten lesen und schreiben. Den ersten wirklichen Credit als Komponist gab er sich erst 1931 bei City Lights; zu jenem Film äußerte er sich auch exemplarisch: „Ich habe die Musik nicht zu Papier gebracht. Ich trällerte vor mich hin, und Arthur Johnston brachte sie zu Papier. Es ist eine einfache Musik, die meinem Charakter entspricht.“ Heute ist mit ziemlicher Sicherheit geklärt, dass Chaplin wohl schon seit 1923 an den Ausarbeitungen seiner Begleitmusiken mitwirkte. Das betrifft auch The Pilgrim, der in eben jenem Jahr entstanden ist. Für viele seiner Stummfilme schrieb Charles Chap-lin zwischen 1958 und den frühen 70er Jahren nachträglich neue Musiken, oder besser: Er ließ sie schreiben. Er engagierte Arrangeure und spielte ihnen seine musikalischen Ideen auf dem Klavier, dem Cello oder der Geige vor. Die Arrangeure wiederum brachten die Musik zu Papier und passten sie in die Filme ein; am Ende präsentierten sie Chaplin dann das Ergebnis. Er, ein akribischer Pedant bis an sein Lebensende, entschied dann bis ins kleinste Detail über die musikalische Endform.

Mit ähnlicher Akribie ging Buster Keaton in seinen Filmen zu Werke. Als Komiker Chaplin ebenbürtig, konnte er es musikalisch nicht mit diesem aufnehmen; dafür führte er fast alle Stunts in seinen Filmen selbst durch. Für die musikalische Begleitung seiner grandiosen Slapstickbewegungen überließ Keaton dann anderen das Feld. Ganz aktuell fertig gestellt ist die von Timothy Brock zu Keatons Meisterwerk Sherlock Jr. (1924) komponierte Musik, die ebenfalls vom Los Angeles Chamber Orchestra in Auftrag gegeben wurde – sie kam im Juni dieses Jahres in Los Angeles zur Erstaufführung, und ist nun, unter Brocks Leitung, erstmals in Wien zu hören.