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Filmfestivals – Die Signale der Völker

Die Signale der Völker

| Andreas Ungerböck |

Das 50. Dokumentar- und Animationsfilmfestival in Leipzig bot Anlass zum Rückblick auf eine überaus bewegte Geschichte.

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200.000 Menschen seien weggezogen seit der Wende, erzählt der Taxifahrer, fast ein Drittel der Bevölkerung. Doch von der einen oder anderen DDR-Ruine (wie dem seltsamen Kaufhaus in der Innenstadt, dass die Einheimischen treffend „Blechbüchse“ tauften) abgesehen, präsentiert sich Leipzig rundum erneuert und auf der Höhe urbaner Kultur des 21. Jahrhunderts. Historische Highlights sind unter anderen Bachs Thomaskirche, die Nikolaikirche, wo der Untergang der DDR eingeläutet wurde, Auerbachs Keller, in dem, laut Goethe, Faust auf Mephisto traf, und – durchaus – das Filmfestival, mittlerweile kurz DOK Leipzig genannt.

Die erste „Gesamtdeutsche Kultur- und Dokumentarfilmwoche“ fand im September 1955 statt (die Jubiläumszahl 50 ergibt sich, weil die Veranstaltung einige Male mangelnder finanzieller Ausstattung zum Opfer fiel), damals standen die politischen Zeichen klar auf deutsche Einheit. Filme wie der in der Jubiläumsretrospektive Spurensuche. FilmPositionen aus fünf Jahrzehnten gezeigte Die Wartburg (1953) drückten offen die Hoffnung aus, dass alles gut und die Zeit alle Wunden heilen werde. In diesem Geiste war die Filmschau ursprünglich konzipiert, als Ort der Begegnung und des Austauschs. Doch die Politik wollte es anders, und die Position des Festivals änderte sich radikal. Die Funktion als „Fenster zur Welt“ (Motto: „Filme für die Welt – für den Frieden der Welt“) blieb zwar erhalten, das war dem Regime auch wichtig, aber natürlich war die Einflussnahme zu jeder Zeit beträchtlich, ganz besonders in den 70er und 80er Jahren, als das politische Klima in Europa wohl am tristesten war.

Die diesjährige Retrospektive, gemeinsam ausgerichtet vom Bundesarchiv-Filmarchiv in Berlin und von DOK Leipzig, verstand sich nicht als bloße Jubelschau, sondern vermerkte auch kritisch, welche Filme zu welcher Zeit warum nicht gezeigt werden konnten. Ein Paradebeispiel: der wenige Jahre vor der Wende (als Michail Gorbatschow in der Sowjetunion bereits „Glasnost“ ausgerufen hatte) nicht entstandene Wer hat dich, du schöner Wald… (1990 mit dem Zusatz Oder Wie ein Film verhindert wurde versehen) von Günter Lippmann. Die Dokumentation beschäftigte sich mit dem verheerenden Waldsterben im Erzgebirge, an der Grenze zum tschechoslowakischen Bruderland, das seine Fabriksschadstoffe ungefiltert in die DDR wehen ließ. Aber nicht nur das: Es bildete sich eine Initiative von Förstern und Bewohnern, die sich daran machten, zu retten, was noch zu retten war. Das war den Behörden zu viel: Lippmanns Film wurde acht Mal zurückgewiesen, immer wieder Änderungen verlangt – der fertige Film reflektiert die verschiedenen Stadien seiner Entstehung mit.

Im Laufe von 50 Jahren Leipzig wurde ganz hervorragende Arbeit in Sachen Dokumentarfilm geleistet, und man hatte oft den Finger am Puls der Zeit. Derart erwarb sich das Festival einen ausgezeichneten Ruf unter den Dokumentarfilmern; viele von ihnen, wie Joris Ivens, Richard Leacock, Erich Langjahr, Santiago Álvarez oder Patricio Guzmán wurden zu treuen Freunden. Auch dieses Jahr ließ es sich Leacock (der Mitbegründer des Direct Cinema ist immerhin 86) nicht nehmen, einer Vorführung seines grandios süffisanten Happy Mother’s Day, Mrs. Fischer (1963, über die Vermarktung einer Fünflings-Geburt) beizuwohnen. Ohne den „deutschen“ Teil der Retrospektive schmälern zu wollen, aber der internationale, zusammengestellt von Grit Lemke, war ein Crashkurs zum Thema „politischer Dokumentarfilm“. Álvarez‘ Ho-Chi-Minh-Porträt 79 Primaveras (1969) strahlt nach wie vor in all seiner revolutionären Poesie; Guzmáns La batalla de Chile (1976, gezeigt wurde der zweite Teil über den Putsch gegen Salvador Allende) ist ein tief bewegender Real-History-Schocker; Henri Storcks Les dieux du feu (1961) ist ein einzigartiges visuelles und musikalisches Gedicht über die Arbeit in einem belgischen Stahlwerk. So ging es Tag für Tag, Vorstellung für Vorstellung; eingestreut waren wunderbare kurze Animationsfilme wie der mit dem Oscar gekrönte, urkomische Surogat von Dušan Vukotic (Jugoslawien 1961).

Dass die Freiheit der Völker von Imperialismus, Militarismus und Kolonialismus dem Festival stets ein großes Anliegen war, war mehr als nur eine Parole: Die eigentliche Entdeckung der Retrospektive waren denn auch extrem rare Dokumente aus den „betroffenen“ Ländern selbst: aus Mosambik (Estas são as armas, quasi ein „Imagefilm“ für die Befreiungsorganisation FRELIMO), aus Guinea-Bissau (Madina Boe, über den Partisanenkampf), Ein kleines Dorf am Tra-Fluss aus dem Vietnam des Jahres 1971, Filme aus Nikaragua, aus Palästina und aus Argentinien (La tierra quema von Raymundo Gleyzer, der 1976 unter dem Militärregime spurlos verschwand). Sie alle zeigten Bilder, die im Westen damals kaum zu sehen waren. Leipzigs historisches Verdienst besteht darin, diesen Bildern Öffentlichkeit und den Filmemachern Gehör verschafft zu haben – das der Retrospektive 2007 darin, davon einen Eindruck vermittelt zu haben.