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Dossier Louis Feuillade – Thomas Brandlmeier im Gespräch

| Jörg Becker |

Der Medienwissenschafter Thomas Brandlmeier hat mit „Fantômas. Beiträge zur Panikdes 20. Jahrhunderts“ Feuillades erstem Superverbrecher eine Studie gewidmet. Ein Gespräch über Leichen im bürgerlichen Salon, die Wirkungsgeschichte eines Massenphänomens und darüber, wie ein heutiger Fantômas wohl aussehen müsste.

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Wie weit geht Ihre Beschäftigung mit Feuillades Fantômas zurück? Sie erwähnten eine Retrospektive in München, wie waren Ihre ersten Eindrücke und wo lag das Unvergleichliche für Sie?
Bis zur Retrospektive 1981 im Münchner Filmmuseum kannte ich Feuillades Fantômas nur aus zweiter Hand, zum Beispiel bei Franju, und aus der Literatur. Seit 1966 hatte ich Filmclub-Arbeit gemacht, von 1973 bis 1980 war ich Geschäftsführer des Münchner Filmzentrums – Freunde des Münchner Filmmuseum. Ich war also nicht gerade jemand, der die Filme ohne Vorkenntnisse sah. Auch kannte ich Griffith ziemlich fundiert, so dass mir sofort auffiel, dass Feuillade eine echte Alternative ist. Im narrativen Kino denken wir immer noch alles linear von Griffith ausgehend, aber das ist überhaupt keine Notwendigkeit, sondern ein spezifisches Erzählprinzip, das sich, vom US-amerikanischen Kino ausgehend, als sehr effektiv erwiesen hat. Dazu kommt diese frappierende präsurreale Wirkung, die die Cinéromane von Souvestre und Allain heute noch ausstrahlen. Auch das war mir im Kino der 1910er Jahre ganz neu. Ich hatte sofort das starke Bedürfnis, über die Retrospektive etwas zu schreiben (der erste Text erschien in Kirche und Film 12/81). Als ordentlicher Journalist habe ich dazu natürlich weiter recherchiert, und so bin ich erst auf die Beschäftigung mit den Romanen und der ganzen Breitenwirkung des Phänomens Fantômas gekommen. Da diese Filmschau mehr oder weniger komplett auch andernorts lief, gab es um 1980 eine kleine Fangemeinde und die Idee zu einem solchen Buch kam auf. Zunächst war ein ziemlicher Schinken mit einer Vielzahl von Beiträgern angedacht, aber als es so zirka 1985 ernst wurde, ging der Verlag pleite (und mit dem Verlag gingen auch einige wichtige Dokumente, die sich dort befanden, verloren). Ich hatte aber inzwischen meine Recherchen vertieft und ziemlich Blut geleckt. So nebenher hab ich an der Sache immer wieder gearbeitet und nach geeigneten Verlegern Ausschau gehalten. Der Kontakt mit dem Berliner Verbrecher-Verlag war dann wirklich eine glückliche Konstellation.

„Wenn die kleinen Verbrecher träumen, lebt Fantômas.“ – Sie sprechen von den Allmachtsphantasien, die auch gesunde Erwachsene bei glücklich misslungener Sozialisation nie ganz loslassen. Das ist der verbrecherisch-negative Phantasie-Pool im Träumer, der dem Anarchoverbrecher über die Cliffhanger-Situationen der Episoden folgt. Wie Fantômas die Gesellschaft herausfordert: ein egomaner Gegenschlag gegen selbstsüchtige Gesellschaftsprinzipien. Eine Art Spiegelung, ein Umklappen zwischen Ober- und Unterwelt, Zivilisation und Trieb sollte die Schaulust binden. Wie hat sich nun Fantômas, wenn man nicht gleich auf „Weltkultur“ zu sprechen kommen will, auf das Kino der letzten Jahrzehnte ausgewirkt? Die Filmografie im Anhang Ihres Buchs stellt ja Fantômas-inspirierte Filme bis heute zusammen …
Bleiben wir beim US-amerikanischen Kino. Wenn wir zu Recht sagen, Griffith hat ein sehr effektives Erzählprinzip begründet, dann gilt genauso, dass fast alles, was Krimis, Fantasy, Horror, Abenteuerfilme und ähnliches wirklich attraktiv macht, sich vermittelt auf Feuillade zurückführen lässt. Feuillades Cinéromane wurden ja weltweit vertrieben, auch wenn der Erste Weltkrieg den Vertrieb eingeschränkt hat (manches war etwa in Deutschland erst nach dem Ersten Weltkrieg zu sehen). Insofern ist die Filmografie im Anhang extrem restriktiv auf Filme beschränkt, die einen unmittelbaren Bezug haben. Wenn man einmal von Frankreich absieht, wo Feuillade immer noch gut bekannt ist und es auch immer wieder Filme gibt, die narrativ Feuillade näher stehen als Griffith, haben die wenigsten Regisseure, die auf seinen Erfindungen aufbauen, auch nur eine Ahnung von dieser Genealogie.

Feuillades Erbe ist ebenso Gemeingut der Weltkinematografie wie Griffith, obwohl sein Name fast vergessen ist. Die last minute’s rescue und der davon abgeleitete cliffhanger sind allerdings keine Erfindung von Feuillade, ich befürchte, das ist ähnlich hoffnungslos wie die Frage nach der Großaufnahme, die sich schon in Edisons Fred Ott’s Sneeze findet. Man wird aber bei diesem Phänomen keine geschlossene innerfilmische Debatte führen können. Die Batman-Filme leiten sich von den Comics her, die Comics von Zorro, Zorro von Judex und Judex ist nur der ins Positive gedrehte Fantômas, so wie Fantômas schon ein gewendeter Rodolphe war. Aber genauso sind Filme von David Lynch über Umwege in der Schuld von Feuillade. Nur um mal das ganze Spektrum aufzuzeigen. Aber ich denke, man sollte zwischen formalem Erbe (Batman) und inhaltlichem (Lynch) unterscheiden; irgendwo in der Mitte liegen übrigens die meisten Neonoir-Filme, denn der Film noir hat die Ähnlichkeit von Verbrecher und Detektiv nicht erfunden, auch nicht die hard boiled school.

Das Maschinelle und das kollektive Unbewusste sind für die Serienproduktion sowohl für den Folgenroman – im Diktaphon-Diktieren der Autoren Souvestre/Allain –, als auch in den Feuillade-Produktionen wesentlich. Die Story wie aus der Maschine – „et le lendemain …“ – und ein Regisseur, der dem Gesetz der Serie folgt. Man könnte denken, dass sich nur auf diese additive, unvorhersehbare Weise die Katastrophen-Phantasien sowie die zugrunde liegenden technischen Erfindungen, die Gewalt und Verbrechen dienen, in die Welt setzen ließen. Improvisiert und assoziativ erträumt.
Diese Mischung aus Technik und Traum steht im Zentrum der präsurrealen Faszination von Fantômas. Hier haben wirklich die Produktionsbedingungen ihre eigene Kreativität entfaltet. Das Produkt ist eine groteske Neuschöpfung der Wirklichkeit und dabei für das Publikum eine schockartige Wahrnehmung – das groteske Gesicht der Wirklichkeit, wenn man nur ein bisschen an den Stellschrauben dreht. Dasselbe ist im Grotesk-Komischen passiert, wenn Mack Sennet z.B. einen wild man beschäftigte, einen halb Wahnsinnigen, der nichts anderes machte als seine verrücktesten Fantasien zu erzählen; dieses Material wurde etwas sortiert und schon hatte man einen Slapstick-Film. Eigentlich sind das Fantômas-Buch und der Band Filmkomiker. Die Errettung des Grotesken (1983) aus einem parallelen Gedankengang entstanden, nur dass es eine starke zeitliche Verschiebung bei der Publikation gegeben hat. Normalität, das ist die dauernde Anstrengung, dem Wahnsinn zu widerstehen. Aber wenn man dem Wahnsinn eine kleine Tür öffnet, wird es auf sehr groteske Weise kreativ. Und dann wird auch etwas über unsere Gesellschaft sichtbar, denn gleich unter der Oberfläche des Zweckrationalen lauert das Irrationale.

Sie schreiben, Feuillade sei „eine Art kultureller Rangierbahnhof am Anfang des 20. Jahrhunderts“, und Jahrhundertregisseure hätten bei ihm gelernt. Könnten Sie die Ihnen bedeutendsten Gleise noch einmal markieren?
In dem Phänomen Fantômas bündelt sich eigentlich alles, was es in der populären und avantgardistischen Literatur des 19. Jahrhunderts an schwarzen Symptomen gab, insbesondere die schwarze Romantik. Gerade die französische Literatur hat auch immer schon vom Feuilletonroman profitiert. Das hat auch bei den ganz Großen zu einer plastischen, präkinematografischen Schreibweise geführt. Wenn man boshaft sein wollte, könnte man sagen, der Unterschied zwischen deutscher und englischer oder französischer Literatur besteht darin, dass es in Deutschland wenig Feuilletonromane gab. Diese verinnerlichte Schreiberei ohne Rücksicht auf das Publikum.

Diese literarische Vorgeschichte fließt als Rohmaterial in die Produktion von Souvestre und Allain ein und wird in der Folge von Feuillade nochmals umgeschmiedet für ein neues Medium. Was sich davon ableitet, hat wirklich die Kulturgeschichte geprägt. Da sind die vielen Künstler, die aus dieser Faszination Literatur, Malerei und Filme geschaffen haben, die alle davon profitieren, einen neuen, veränderten Blick auf die Wirklichkeit zu werfen, allen voran die Surrealisten. Auch die Wahrnehmung, dass ein kulturelles Phänomen interessant und wichtig sein kann, ohne dass es den Weihen der Hochkultur unterliegt. Der schwarze Mann, der kein Gesicht und alle Gesichter zugleich trägt, ist eine so geschickte Erfindung, weil er sich als Projektionsfläche für alles anbietet. Da ist das Massenphänomen, dass jeder, der mit dem Bestehenden auf Kriegsfuß steht, sei es von rechts oder von links, Fantômas als eine Projektionsfläche benützen konnte, während die malträtierte bürgerliche Mitte endlich eine Figur hatte, auf der sie ihrerseits all ihre Ängste projizieren konnte. Das erste Mal, abgesehen vom Teufel und vom Arlecchino, wird in die Kulturgeschichte eine Figur eingeführt, die nur Unordnung stiftet und damit immer wieder davonkommt.

Aber auch die Alltagskultur: Das Phänomen hat in der Mythologie des 20. Jahrhunderts seinen festen Platz bis hin zum Fetischismus. Fantômas begegnet uns überall in seinen verschiedensten Ablegern. Ganz normale Manager tragen in ihrer Freizeit Batman-Kostüme. Jede Verschwörungstheorie, jede Katastrophenfantasie und alle Panikattacken haben ihren Ausgang bei Fantômas. Die Nazis mussten Mabuse verbieten, weil er ihnen zu ähnlich war. Jahrhundertregisseure, die in der Schuld von Feuillade stehen: Lang, Buñuel, Stroheim, Hitchcock, Eisenstein, Sternberg.

Paris als surrealer Ort ist wesentlich eine Erfindung von Feuillade. „Wenn die Zuschauer den Vorführraum verließen, fanden sie ein Paris vor, das sie nicht kannten …“, zitieren Sie Ado Kyrou. Wenn Sie sagen, Feuillade habe die Affinität des Kinos zum Traum exploitiert, ist das sein „Präsurrealismus“?
Paris als surrealer Ort, das war um 1900 die ganze Welt, denn Paris war damals der Nabel der Welt und was in Paris geschieht, braucht nirgendwo anders mehr geschehen, es ist ubiquitär. Es ist ein genius loci, den heute New York geerbt hat. Die traumhafte Transformation dieses Ortes ist ein Element, aber auch andere zentrale Elemente des Surrealismus sind vorweggenommen, wie der image choc, der Verwandlungs- und Vermummungstopos oder die industrielle Romantik.

Wie ist die französische Tradition von Fantômas? Was hat sich im französischen Autorenkino von Feuillade gehalten? Wo sehen Sie Fortsetzungen, die Kanäle der Rezeption?
Obwohl die Nouvelle Vague ein Kino gemacht hat, das ganz neuartig war, war für ihre Regisseure die Entdeckung von Feuillade in der Cinémathèque eine Offenbarung. Dass man vor Ort improvisieren kann und gerade dadurch Dinge findet, die man sonst nie gefunden hätte, oder dass man nicht immer zu schneiden braucht, sondern auch mal ganze Passagen durchinszenieren kann, ohne dass es langweilig wird. Oder dass ein Schnitt nicht logisch konstruktiv sein muss, sondern auch destruktiv sein kann. Das gab es in der französischen Tradition immer schon als Erbe von Feuillade (Renoir!) – aber mit der Nouvelle Vague hat es noch mal einen richtigen Schub bekommen.

In dem Abschnitt „Der französische Griffith“ sprechen Sie davon, dass der Collage-Künstler Feuillade (darin Malerei und Literatur näher) einen Gegensatz bilde zum Montage-Regisseur Griffith, welcher auf Auflösung hinarbeite. Dieser würde das frühe Kino durch seine „Schreibmaschine von Ikonogrammen“ ersetzen, während Feuillade den Gesamtablauf und die Zielorientierung der Story zugunsten erzählerischer Schleifen zurückstelle; Griffiths „Last Minute Rescue“, von Feuillade sozusagen über die volle Länge der Episoden verteilt. Ist dies der Grund, weshalb Feuillade, obwohl Zeitgenosse Griffiths, einem Regisseur wie David Lynch aus heutiger Sicht ästhetisch näher steht?
Ja, so ist es. Hätte ich selbst nicht besser formulieren können.

Was uns an Feuillade-Filmen anzieht, sind die Motive der Subversion bei Fantômas: Nichts ist, wie es scheint, und der image choc kann jederzeit eintreten, das Böse ist überall und nirgends – wie laut Paul Virilio die Front bzw. der Feind nach dem Ersten Weltkrieg.
Ich würde jetzt nicht „das Böse“ sagen, sondern „das Negative“. Das ist schon bemerkenswert, dass es nicht nur überall ist, sondern direkt aus der bürgerlichen Mitte kommt. Mein ganz privates Aha-Erlebnis in Sachen Fantômas ist diese Verankerung in der bürgerlichen Mitte. Souvestre, Allain, Feuillade, das sind keine Anarchisten, für die man sie sogar gehalten hat, sondern brave Bürger, die nichts anderes machen, als ihre Träume und Alpträume konsequent zu Ende zu träumen. Die Leiche, die Fantômas in den bürgerlichen Salon legt, ist ein größerer Skandal als der Erste Weltkrieg. Das ist wirklich subversiv.

„Mit dem Scheitern des humanistischen Programms der Moderne und dem Offenbarungseid der Ideale der bürgerlichen Revolution ebenso wie des real existierenden Sozialismus wurde auch die Rebellion des Anarcho-Verbrechers verdächtig. Seine geistige Verwandtschaft zur Lust weiter Teile der Intelligenzija am Zündeln war unübersehbare historische Faktizität.“ Ist der einstige subversive Anteil neoromantischem Reiz gewichen und damit zahnloses Kulturgut geworden?
Tja, dieses Buch ist keine Propaganda für Anarchismus, sondern untersucht nur die Faszination. Fantômas und Juve waren ein einsamer Höhepunkt in der Geschichte des Schizophrenen-Paars von bourgeois und citoyen, das Individuum, das gesellschaftlich gefordert wird und doch keines sein darf. Da knüpfen sich Utopien an, aber auch schreckliche historische Erfahrungen. Ich habe lange mit dem Untertitel gekämpft. Es ist ja schon sichtbar, dass die Figur an Biss verloren hat, obwohl der Kapitalismus in die nächste Runde gegangen ist. Ein Fantômas des 21. Jahrhunderts müsste ein Osama Bin Laden-Double sein, mit Handy und Internet agieren. Aber die Figur hat nichts Utopisches mehr, der Ausblick auf Mittelalterliches muss auch den romantischsten Intellektuellen verschrecken. Fantômas heute, das wäre vielleicht ein Hacker oder ein staatsbürgerlicher Totalverweigerer, welcher Abstieg.

 

Thomas Brandlmeier lehrt Medienwissenschaften an verschiedenen Hochschulen und veröffentlichte zahlreiche Publikationen als Autor und Herausgeber, unter anderem zu Formen des Grotesken und Melodramatischen sowie zu Fragen von Technik und Ästhetik. Direktor der Hauptabteilung Ausstellungsbetrieb des Deutschen Museums.