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Filmarchiv Austria – Licht der äußeren Welt

Licht der äußeren Welt

| Jörg Becker |

Es sind Filme des Übergangs, Bilderzählungen am Umschlagpunkt der äußeren Verhältnisse, mit denen die Regisseure Wolfgang Staudte und Helmut Käutner im deutschen Film eine unvergleichliche Stellung eingenommen haben. Beide sind fast gleich alt, vom Theater gekommen und von der Bewegung des Neuen deutschen Films nach dem Oberhausener Manifest verdrängt worden. Die Arbeit für das nivellierende Fernsehen tat ein Übriges, ihren einstigen Ruf zu diskreditieren. Das Filmarchiv Austria zeigt ausgewählte Werke der beiden Regisseure in einer Retrospektive – manche sind neu zu bestimmen, einzelne zu entdecken, und manche bilden schon längst Richtpunkte innerhalb der Kartografie der Filmgeschichte.

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Jeder hat mal Glück: Wolfgang Staudte

Aus tiefem Winkel blickt die Kamera auf einen bis zum Horizont von Bombenruinen zerklüfteten Weg. Ein Mann nähert sich inmitten Schutthügeln. Ein Holzkreuz steckt im Boden. Der Mann, im Vordergrund angekommen, wendet sich um, und die Kamera erfasst seitlich ein Schild, Lettern an einer Hauswand: h. Der aus dem Krieg nach Berlin heimgekehrte Dr. Mertens, ehemaliger Feldarzt, ist hilfloser Zeuge geworden von Morden an Zivilisten, von Geiselerschießungen der Wehrmacht in besetzten Gebieten. Nun ist er mit der Welt und den Menschen  fertig. Die junge Frau, mit der er sich seine alte Wohnung teilen wird, – aus den Lagern entlassen steht sie (die 20-jährige Hildegard Knef in der Rolle, die ihre Karriere begründete) eines Abends mit ihren Koffern vor dem Ladenhaus. Die Kamera nähert sich ihrem – im Lichtschein einer Straßenlaterne fragmentierten – Spiegelbild aus den Scherben einer gebrochenen Schaufenstervitrine. Diesem herausgehobenen Bild vorausgegangen sind Einstellungen chaotisch überfrachteter Züge, Perspektiven von Passagieren auf Waggondächern, Aufnahmen der Massenankunft zwischen Trümmern des Bahnhofs: dynamisierende Bilder in der Gestalt einer bereits zurückliegenden Moderne, als sollte die technikorientierte Avantgarde der Zwanziger Jahre in Erinnerung gerufen werden.

Während der Dreharbeiten zu Die Mörder sind unter uns (1946), dem ersten deutschen Nachkriegsspielfilm kurz vor Gründung der DEFA-Filmproduktion, ließ Regisseur Wolfgang Staudte allerdings mehr Stadtlandschaften eigener Art ins Bild setzen: Hohlwege zwischen Schutt- und Ziegelhalden; von Fliegerbomben aufgesprengte Mietshäuser; zerstörte Stuben unter freiem Himmel, bei denen hinter jeder Zimmertür ein Abgrund klaffen kann. Die besondere Ruhe dieser authentischen Berliner Orte, diesen nachts dämonisch illuminierten Zerstörungslandschaften, verströmt das Vakuum einer still gestellten Zeit, deren Metapher, die „Stunde Null“, inzwischen zur Floskel nivelliert und verbraucht worden ist.

Die filmische Prägung Wolfgang Staudtes (1906–1984) geht in die Zeit des Kammerspiels und des Expressionismus der Weimarer Republik zurück; kaum eine Szene, in der er sein Sujet nicht metaphorisch kommentiert, etwa mit dem Fensterkreuz-Schatten auf den Gesichtern der Liebenden, mit Röntgenbildern in Mertens‘ Wohnung, die als Ersatz für die fehlenden Fensterscheiben dienen. Seine Geschichte von Schuld und Sühne wird im Klima von Liebe und Hass, Vergeltung und Katharsis abgehandelt: Mertens hat seinen ehemaligen Kommandeur, der Weihnachten 1942 an der Ostfront ein Massaker befohlen hatte, wieder getroffen, in Bürgerambiente mit Blick auf den Gewinn, als sei nichts gewesen, mit strammem Blick nach vorn: Statt Stahlhelme werden in der Fabrik des ehemaligen Offiziers jetzt Kochtöpfe hergestellt –augenscheinlichste Konversion. Das Abbild wird zum Sinnbild, und Staudtes Montagestil kommentiert das Geschehen über die Kontrastwirkung, etwa wenn die Hand des Arztes nach der lebensrettenden Operation das Küchenmesser im Wassereimer auswäscht und im folgenden Bild die Hand des ehemaligen Hauptmanns nach der Flasche im Sektkübel greift. Die ersten Rezensionen zu Die Mörder sind unter uns, dessen Exposé von allen westlichen Alliierten abgelehnt worden war, erschienen zum Teil in denselben Zeitungsausgaben, in denen die Vollstreckung der Todesurteile im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess (Oktober 1946) kommentiert wurde.

Zwei Jahre später hätten in Rotation (1948), einem ungleich realistischeren ästhetischen Gegenstück, mit dem Staudte die Geschichte einer Proletarierfamilie sowie die vermeintlich unpolitische Ideologie des Kleinbürgers unter dem Nationalsozialismus ausbreitet, „neue Gesichter Typen prägen“ können (Herbert Ihering), gemäß der sozialistischen Theatertradition im Sinne Piscators oder von Wangenheims. Das Gittermotiv – als Laufgestell um das Kleinkind, als Zellengitter vor verhafteten Demonstranten oder als Zaun um die Exklaven der Reichen – ist vorherrschendes Sinnbild im Staudte-Stil. Der authentische Eindruck der Flutung eines S-Bahn-Tunnels unter der Spree durch die SS, obwohl dort Hunderte Flüchtlinge Schutz suchten, geht auf die Qualität der Szenenbild- und Trickabteilung der DEFA zurück; man könnte meinen, Staudte hätte jene Dokumentaraufnahmen verwendet, die er Anfang 1946 für Friedrich Wolfs und Slatan Dudows Filmprojekt Kolonne Strupp bei bitterer Kälte in den U-Bahn-Schächten Unter den Linden drehte, als dort noch die Leichen von Ertrunkenen schwammen. Rotation, eine Metapher ebenso für die Wiederkehr des Immergleichen wie für die Unbelehrbarkeit der menschlichen Gattung, entsprach kaum dem nun offiziellen historisch-materialistischen Geschichtsbild in der Sowjetischen Militärzone. Als die neuen DEFA-Direktoren, kulturpolitische Betonköpfe, die den Aufbau der Volkspolizei rechtfertigen mussten, Zensurschnitt und Nachdreh einer Szene verfügen (der Vater verbrennt die Uniform seines heimgekehrten Sohnes), geht der seit Kinderzeiten eingeschworene Pazifist Staudte nach Hamburg, kehrt jedoch darauf zur DEFA zurück, um seinen erfolgreichen und für viele seinen besten Film inszenieren: Der Untertan (1951) nach Heinrich Mann. „In welchem deutschen Roman“, wird Herbert Ihering zur Premiere schreiben, „wurde schärfer jener Untertanentyp entlarvt, der sich immer wieder für Militär und Krieg missbrauchen lässt. Der Film führt die Entlarvung optisch weiter.“

Mitte der Zwanziger Jahre wechselte Staudte, Sohn eines Schauspielerpaares, nach einem Ingenieurstudium zum Bühnenmetier, bevor er sich dem Film zuwendet. Er synchronisiert, spielt zahllose Klein- und Chargenrollen und avanciert über Werbefilme und einen Industriefilm zur Nachwuchsregie der Tobis-Filmproduktion. Um seine privilegierte Unabkömmlichkeitsstellung („u.k.“) im Krieg nicht zu gefährden, steht er unter erhöhtem Anpassungsdruck; die Ablehnung einer Rolle – in so massiven NS-Filmen wie etwa Jud Süss (1940) oder Reitet für Deutschland (1941) – hätte die jederzeitige Einberufung nach sich ziehen können. Im Alter von 35 Jahren macht er einen Probe-Spielfilm, den er in zwei Tagen abzudrehen hat: Ins Grab kann man nichts mitnehmen (1941). Das Komisch-Satirische, das sich schon in seinem eigenfinanzierten Kurzfilm Ein Jeder hat mal Glück (1933) zeigte, ist auch hier sein Ressort: Ein Junggeselle, der sich aus Liebeskummer das Leben nehmen will, wird durch einen Freund von seinem Vorhaben abgebracht, indem dieser ihn bestärkt und auf das Erbe zu spekulieren scheint.

Mit Akrobat Schö-ö-ön, der Ende 1943 in die Kinos kommt, nutzt Staudte seine Spielfilmchance. Politisch der Linken zugehörig, wendet sich der innere Emigrant den Figuren im unteren Bereich der Hierarchie zu, dem Clown (Charlie Rivel) und der Tänzerin, die aus ihrer Dachkammer unter dem Himmel eines Atelier-Berlins heraus im vollbesetzten Friedrichstadtpalast endlich einmal, durch irrtümliche Betätigung der Drehbühne, zeigen dürfen, was sie können – für reißenden Applaus. Dabei ist die Gestik Rivels, der den Film über eine experimentell implantiert wirkende, stumme Rolle spielt, eindeutig der des anderen Charlie, des Tramp, verwandt, der von den Nazis gehasst und diffamiert wird. Der männliche Star des Variétés, ganz arroganter Beau mit täglich wechselnder Damenbekanntschaft, der die Belegschaft tyrannisiert, erweist sich schließlich als guter Kerl, der alles vorgetäuscht hat und gern auf die Mühe verzichtet, sein Rollenimage im Privatleben weiterzuspielen. Mit der, weit vom Ufa-Stil entfernt gedrehten, Groteske Der Mann, dem man den Namen stahl (1944) sichert Staudte seinen Unabkömmlichkeitsstatus; die Spur des Films verliert sich in den Produktionsakten der letzten Kriegsmonate, der Regisseur hielt ihn für verboten, manch anderer für nicht-fertig-gestellt, und erst 1996 wurde die aus Materialen des Bundesarchivs rekonstruierte Fassung uraufgeführt.

Große Freiheit: Helmut Käutner

Nach der Kriegswende in Stalingrad kamen die Melodramen wieder. Resignation, Ästhetizismus, weiche Dialoge und flutende Musik herrschten neuerlich vor. An den dramaturgischen Platz der alten Sehnsucht trat nun das Gefühl der Melancholie und Vergeblichkeit. Helmut Käutners Filme belegen den Wechsel der Affekte auf künstlerisch überzeugende Weise. Romanze in Moll (1943) und Große Freiheit Nr. 7 (1944) beleuchten ohne Sentimentalität den Zerfall der Bindungen. Setzt man dieser Beschreibung des Filmhistorikers Karsten Witte eine dumpfe Schicksalsgläubigkeit, Todessehnsucht und Opferbeschwörung in den Werken eines „Täter“-Regisseurs wie Veit Harlan entgegen, wird deutlich, wie geschickt Helmut Käutner (1908–1980) dem System auswich und doch diese Randständigkeit für sich produktiv zu machen wusste. Der studierte Theaterwissenschaftler, langjährige Bühnenpraktiker und Kabarettist war Lustspielenthusiast, ein glänzender Dialogschreiber, und kam als Drehbuchautor zum Film, ein Experte für die pointierte, straffende Verwandlung von Stücken in Drehbücher. So entstand als sein Debüt bei der Terra-Filmkunst Kitty und die Weltkonferenz (1939) über die Maniküre eines Konferenz-Hotels in Lugano, die einen englischen Minister kennen lernt, natürlich ohne von seiner Bedeutung zu wissen. Die Kritik lobte „Tempo und Lebendigkeit“ dieses Unterhaltungserfolgs, der um den Beginn des Zweiten Weltkriegs anlief, alsbald wegen „englandfreundlicher Tendenzen“ verboten wurde, jedoch für den Export freigegeben blieb. Trotz dieser formalistischen Phase aus Rücksicht auf die Kontrolle der NS-Filmadministration gilt Käutner zu dieser Zeit als der renommierteste Repräsentant dessen, was im Grunde  französische Schule ist – ein poetischer Realismus unter deutschen Druckverhältnissen.

„Der Stil Käutners bestand im Rückgriff auf groteske Formen, arabeske Grillen und Maskenspiele einer biedermeierlich drapierten Romantik (zum Beispiel der Film nach Gottfried Keller, Kleider machen Leute, 1940), er äußert sich in spezieller Freude an Studentenulks und bunter Kabarettistik, in seiner Vorliebe für surreale Bilder, Theaterwelten (Frau nach Mass, 1939/40) und verspielten Gaunerkomödien. Seine Kunst verbreitet in der Nazizeit einen Hauch von erotisierender Freizügigkeit, von Bohème und strahlte gelegentlich etwas gallischen Charme aus. In gewisser Hinsicht war Käutner eine Art deutscher Jean Cocteau, doch der ‚Spatz’ war nur Ilse Werner, und statt für Jean Marais schwärmte er für Hans Albers.“ (Klaus Völker) Was seine frühen Filmstoffe angeht, sah sich Käutner in der Rückschau lediglich als Bearbeiter: „Kleider machen Leute war das erste Eigene“, bekannte er 1978. Heinz Rühmann, als „Alltagshumorist“ ein deutscher Star über Jahrzehnte, scheint darin gegenbesetzt und wird doch der Rolle des Schneiders Wenzel, der sich ins gesellschaftliche Ambiente seines zu nähenden Fracks träumt, unerwartet gerecht. Diese Traumsequenz enthält ein für 1940 ganz außergewöhnlich unverhohlen präsentes Nacktbild inmitten der Überblendungen, in denen Rang, Reichtum und Eros amalgamieren. Ein Puppenspieler in der verschneiten Schweizer Atelierlandschaft ermöglicht dem zögernden Schneider erst die Chance, in seinen Traum einzutreten und damit in eine radikale Travestie des Rangs zu stolpern. Dass er immerfort den Grafentitel dessen abstreitet, den man im Ort erwartet hat, beweist seinen Adel im Ansehen der Leute umso mehr, und durchweg ungewollt hochstapelnd nimmt er die zunehmende Gunst aller Stadthonoratioren zu entgegen. Schließlich gibt sich der wahre, inzwischen eingetroffene russische Graf als Kammerherr und „lenkender Beobachter“, der die projiziert Identität des Schneiders beglaubigt. War die Frau nach Mass eine voraussehbar ablaufende Verwechslungsintrige im Theatermilieu und modernem Gewand – eine selbstständige Frau in erstklassiger Garderobe spielt dem Mann, der vor einer Heirat zurückschreckt, als vermeintliche Zwillingsschwester das süße, folgsame Häschen und Heimchen vor, mit dem er die Ehe eingeht –, verläuft in Kleider machen Leute die Verwechslung über die Kleidung im idyllischen 19. Jahrhundert ab. In Wir machen Musik (1942) verbreitete Käutner „Märchenstimmung für Erwachsene“, so die Premierenbesprechung im Filmkurier, mit dem beschwingten Einblick in die Wechselfälle einer geglückten Ehe zwischen einem Komponisten und einem reizenden Geschöpf von Frau, die nichts zu wünschen übrig lässt – dennoch: gute Laune im Krieg, und etwas zum Nachpfeifen.

In Große Freiheit Nr. 7 (1944) führt Käutner Ilse Werner in einer Gärtnerei ein, wo tiefes Sonnenlicht die zitternden Schattenrisse von Zweigen auf die Gesichter zaubert; überhaupt fällt die feine Aufmerksamkeit auf die Farbdramaturgie ins Auge. Der aufwendige Film, nach langen Verzögerungen mit den Atelierbauten in Prag fertig gestellt, gilt aus diffusen Gründen als Verbotsfilm: unter anderem schädige er die Weltgeltung Hamburgs und beleidige den deutschen Seemann, beschied Großadmiral Dönitz (der Reichskanzler der letzten Kriegstage). Große Freiheit Nr. 7 war der erste deutsche Spielfilm, der nach dem Ende des Krieges in die deutschen Kinos kam. Hans Albers macht als Hannes, der „Singende Seemann“, allabendlich im Hippodrom auf der Großen Freiheit den „Animierfritzen“ mit dem Schifferklavier. Da herrscht typenerfüllte Reeperbahn-Atmo: Alkohol, Keilerei und Prostitution. Die Erzählung dauert so lange wie der Landurlaub der Matrosen, bis die Heuer mit Hilfe der Damen auf den Kopf gehauen ist und ihr Schiff wieder ausläuft, was keine Illusionen über Seemannsidylle aufkommen lässt. Rührend kümmert sich Hannes um die junge Geliebte seines verstorbenen Bruders; als er sich schließlich eine Ehe mit ihr, einschließlich seriöser Existenz und eigenem Dampfer, vorstellt, hat das Mädchen ihr Herz für einen anderen, jüngeren Werftarbeiter entdeckt. Albers umgibt ein Abgrund von Kränkung, eine raue, ergreifende Sentimentalität; Käutner macht aus dem ehemaligen Siegertyp einen resignativen Helden, den es im Innern verwundet hinauszieht. Er lässt sich von den Freunden überreden, mustert mit ihnen noch einmal an. Seinen männerbündlerischen Zug, den hier eine söldnerhafte Verlorenheit kennzeichnet, hat man dem Film stets angekreidet („Seemanns Braut ist die See, und nur ihr kann er treu sein…“), indessen lässt Käutner, der Albers’ Lieder textete, eher einen masochistischen Drang zur Selbstbestrafung der Matrosen durchscheinen: Diese sind zwar patent, gutmütig, fidel und hart im Nehmen, aber eigentlich unerträglich in ihrer Massivität und Monomanie, emotionale Analphabeten, die für ihre Unwissenheit über sich und das andere Geschlecht leiden wie Hunde. Der Lösung voneinander, der Flucht aus Unverständnis, Betäubung und einem unbedingten Vergessenwollen, eignet stets ein gewaltsamer, verletzender Zug, mit dem man sich gewissermaßen abstößt: „Was kann es denn Schöneres geben, als in Hamburg ein Mädchen für Geld“, singt Hannes; die Frau, die ihn liebt, im Hintergrund. „Wenn das kupferfarben umbrandete Haar der Hilde Hildebrand auf den Kneipentisch niedersinkt, weil Hans Albers sie verlässt, dann ist das nicht weit weg von der Frau, die ihren Mann an die Front gehen lassen muss. Helmut Käutner ist der Regisseur des bitter-süßen Abschieds.“ (Ulrich Kurowski im Nachruf auf Käutner, 1980)

Das Ende der Nazidiktatur erwartete Käutner nicht in Verstecken, in den Alpen oder im historischen Kostüm, sondern auf dem Fluss Havel in seinem Film Unter den Brücken (1945), der ausschließlich an Außenschauplätzen gedreht wurde. Zwei Schiffer retten ein Mädchen, das sich nachts von einer Brücke ins Wasser stürzen will, nehmen es auf ihren Kahn. Die täglichen kleinen Dinge des Zusammenlebens auf dem Schiff, die Wahrnehmung des vorübergleitenden Ufers machen die Handlung aus: eine Gesellschaft freier Personen auf einer Lebensreise. Die Hauptstadt liegt in Trümmern (als es einmal nach Berlin hinein, in den Osthafen geht, wird auch Vorkriegs-Archivfilm eingeschnitten), und Käutner weicht an den Rand aus. „Wer den Film heute sieht, wird überhaupt nicht begreifen können, dass damals, als es eigentlich keine Zukunft mehr gab und der völlige Zusammenbruch Deutschlands nur noch eine Frage von Tagen war, Menschen in der Lage waren, eine so stille, einfache, fast idyllische Geschichte zu verfilmen (…) Viele Wochen lang, während der Ring um Berlin immer enger wurde, haben wir draußen im Havelländischen gedreht, bei Rathenow, Havelberg und Potsdam. Oft mussten wir uns neue Motive suchen, weil die alten inzwischen durch Bomben zerstört waren. Manchmal saßen wir stundenlang im Boot und warteten auf eine bestimmte Wolkenkombination, um eine besondere Stimmung einzufangen, oder wir warteten, bis ein Baumwipfel durch das Drehen des Bootes im Strom ins Bild kam. Die Nächte verbrachten wir meistens mit unseren sorgsam gehüteten Apparaturen unter Brücken, ohne zu wissen, dass in diese längst Sprengsätze eingebaut waren.“ (Helmut Käutner 1978 über seinen liebsten Film) Unter den Brücken, der „Versuch eines melancholischen Volksliedes“, ist der Übergangsfilm schlechthin. Die Zeit dehnt sich, das Vehikel, die Wahrnehmung gleiten dahin, und es hat den Anschein, als würde jetzt, nach tausend Jahren abgeschlossenem Kinoraum, auf einmal das Licht der äußeren, der wirklichen Welt in diesen einsickern, ein Licht, in dem die synthetischen Studiobilder sich auflösen. „Käutners Film weist rückwärts auf den französischen Film der Vorkriegszeit und vorwärts auf den deutschen Nachkriegsfilm“, schreibt Karsten Witte. „Seine Lösung kommt einer Ablösung gleich. Seine filmische Sprache trennt sich von der Epoche, in der er gedreht ist. Unter den Brücken baut eine Brücke zum Realismus eines neuen Anfangs.“