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Schmetterling und Taucherglocke – Hirn im Glasbehälter

Hirn im Glasbehälter

| Roman Scheiber |

Bewegend kitschfrei und formal avanciert inszeniert Julian Schnabel die Geschichte eines auf vegetative Minimalfunktion zurückgestutzten Lebemanns:„Schmetterling und Taucherglocke“.

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Vor drei bis vier Jahren räumte ein Melodram von Alejandro Amenabar so ziemlich alle Preise ab, die für europäische Filme im Angebot stehen: Oscar und Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film, mehr als die Hälfte der spanischen Goyas, Silberner Löwe von Venedig, Europäischer Filmpreis und mehrere Darstellerpreise für Javier Bardem (jüngst für seinen Auftragsmörder in No Country for Old Men mit dem Nebenrollen-Oscar bedacht). Bardem spielt den vom Hals abwärts gelähmten Seemann Ramòn Sampedro, der seinem Leben mit Hilfe einer Freundin ein Ende setzen will. Titel des tränensalzigen Sterbehilfe-Dramas: Mar Adentro (Das Meer in mir, 2004).

Dass man ein sensibles Thema, das auf einer wahren Geschichte beruht, deutlich trockener in Szene setzen kann, ohne an emotionaler Wirkkraft einzubüßen, und dafür ebenfalls Globen und Regiepreise erhält, beweist Julian Schnabel mit Le Scaphandre et le papillon (Schmetterling und Taucherglocke). Wobei es hier nicht um aktive Sterbe-, sondern um aufopfernde Lebenshilfe geht – obwohl es den Protagonisten noch schwerer erwischt hat als Sampedro.

Le Scaphandre et le papillon erzählt die Geschichte des französischen Journalisten Jean-Dominique Bauby, der im Alter von 43 Jahren nach einem Gehirnschlag im Dezember 1995 ins Koma gefallen und aus diesem von der Zehe bis zur Zunge gelähmt wieder erwacht war. „Natürlich erfährt der Hauptbetroffene als letzter von seinem Glück“, äußerte Bauby, Vater zweier Kinder, später mit für ihn typischem Sarkasmus. „Was mich betrifft, so hatte ich Anspruch auf zwanzig Tage Koma und einige Wochen Nebel, bevor ich das Ausmaß der Schäden wirklich erfasste.“ Mit dem Erwachen Baubys, vorher Chefredakteur der international bekannten Frauenzeitschrift Elle, danach laut Kaffeeklatsch seiner Exkollegen nur noch „Gemüse“, setzt Le Scaphandre et le papillon ein – und vollzieht diesen Einsatz, nach dem Riss einer vorgespannten Traumsequenz, ziemlich radikal: Das Publikum darf zunächst ausschließlich durch die Linse des Patienten im Zimmer 119 des Hôpital Maritime in Berck-sur-Mer verfolgen, wie dieser das Spitalspersonal und die Besucher wahrnimmt (Kamera: Janusz Kaminski). Der Zuschauer wird durch diese Perspektive in den unbeweglichen Körper Baubys gezwängt. Man sieht nur, was er sieht. Man hört, was er hört. Und man hört, was im Film niemand hört, nämlich was Bauby denkt. Aus diesem Blickwinkel bekommt man schnell eine Ahnung davon, was es heißt, nicht mehr artikulieren zu können, was man sagen will. Die Mediziner nennen es „Locked-in-Syndrom“. Für den Kontakt mit der Außenwelt bleibt dem Gelähmten, nach Vernähung des infektionsgefährdeten rechten, bloß sein linkes Augenlid. Damit blickt er auf seine winzig gewordene Welt, damit lernt er, lebendiger Geist in einer erstarrten Hülle, treffsicher zu blinzeln: einmal für ja, zweimal für nein. Entscheidungsfragen kann er beantworten. Sich selbständig äußern muss er von nun an buchstabenweise.

Mit Hilfe der Lektorin Claude Medibil (Anne Consigny) und eines nach Häufigkeit der Buchstaben umgeordneten Alphabets diktiert Bauby im darauf folgenden Sommer seine Geschichte, Zeichen für Zeichen, Blinzeln für Blinzeln. Le Scaphandre et le papillon basiert, mit wenigen Abweichungen, auf diesen zur Veröffentlichung aufgezeichneten Augenaufschlägen. Obwohl eine redundante, an sich „unfilmische“ Minimalbewegung, scheut Julian Schnabel sich nicht, den Kommunikations- und „Schreib“-Prozess seines Helden ausführlich ins Bild zu setzen. Im Gegenteil: Der Schaffensprozess als wichtigstes Lebens-Mittel in einer im wahrsten Sinn aussichtslosen Situation steht im Zentrum des Films. In Rückbindung auf Baubys nicht ganz zutreffend als „Memoiren“ verkauftes Buch veranschaulicht Schnabels Film sowohl, wie mühevoll und langwierig es ist, nur auf diese Weise kommunizieren zu können, als auch die Hürden für Besucher, mit Bauby eine Unterhaltung zu führen. Im Buch heißt es dazu: „Die Empfindsamen verlieren am schnellsten die Orientierung. Mit tonloser Stimme rasseln sie das Alphabet herunter, notieren auf gut Glück ein paar Buchstaben und rufen angesichts des Resultats ohne Hand und Fuß tapfer aus: ‚Ich bin einfach unfähig!‘ Das ist letztlich ganz erholsam, denn sie übernehmen am Ende die ganze Unterhaltung …“ Schon anstrengender findet Bauby die Umstandskrämer: „Nicht einmal das kürzeste Wort wagen sie zu vervollständigen. Nie würden sie von sich aus das ‚gnon‘ zu ‚Champi‘ … oder das ‚lich‘ ergänzen, ohne das es kein ‚unend‘ und kein ‚unerträg‘ gäbe.“

Die Unerträglichkeit seines Daseins als „Qualle“, „Vogelscheuche“ oder „Mutant“, wie Bauby sich nun selbst abwechselnd nennt, steht in grausamem Kontrast zum Leben in Saus und Braus, das er vor dem Unglück geführt hatte. Darling des Jet-Set, heute bei einem Kongress in Hongkong, morgen beim Modeshooting in New York oder wo immer der Lifestyle die Lichter gerade hinschlug, Austern schlürfend, wie andere Würstel verdrücken, und natürlich: eine hinreißende Frau nach der anderen. Ein lockerer Lebemann, auf sich selbst und seine Erinnerungen zurückgeworfen. Physisch in eine Taucherglocke gesperrt, imaginiert er sich eine Wiedergeburt als Schmetterling, um weiterleben zu können. Le Scaphandre et le papillon zeigt Baubys gedankliche Ausflüge in glamourösere Zeiten als beschwingte, mit Musik aufgeladene Interludien (Tom Waits, Lou Reed, Joe Strummer, U2, The Dirtbombs), bevor er den von Mathieu Amalric dann wieder bloß „verkörperten“ Träumer im schönsten Moment zurückholt, zum Beispiel auf den Boden fremdgesteuerter Bewegungstherapie, über deren Effekt Bauby übrigens diktierte: „In zwanzig Wochen habe ich dreißig Kilo abgenommen. Mit einem solchen Ergebnis hatte ich nicht gerechnet, als ich acht Tage vor meinem Hirnschlag eine Diät begann.“

Im Verlauf des Films verlässt die Inszenierung zusehends die betont künstlerisch visualisierte Perspektive des Patienten. Während dieser neuen Lebenswillen aus seiner Diktierarbeit und der ungebrochenen Zuneigung seiner Familie zieht, gewinnt die Kamera Abstand. Zu den rührendsten Szenen zählt ein übersetzungsgestütztes, holpriges Telefonat Baubys mit seinem altersschwachen Vater (Max von Sydow), der zwar nicht in einer Taucherglocke, aber in der eigenen Pariser Wohnung gefangen auf seine Weise am Locked-in-Syndrom leidet – gelähmt durch Angst vor dem bevorstehenden Tod. Mathieu Amalric (kürzlich auch in der Hauptrolle des ambivalenten Filmhybrids La question humaine / Der Wert des Menschen zu sehen) versteht es, den emotionalsten Momenten durch erschrockene und betroffene Blicke Ausdruck zu verschaffen – bei Baubys Übungen mit seiner unermüdlichen Sprachtherapeutin (Marie-Josée Croze), und vor allem bei den Besuchen seiner von ihm verlassenen und dennoch zu ihm stehenden Ehefrau (Emmanuelle Seigner) und seiner kleinen Kinder.

Einen Sonntag ohne Besuch, wenn das Personal auf Standby schaltet, beschrieb Bauby in seinem metaphernverliebten Stil als „Durchquerung der Wüste mit einer noch knapper als sonst ausfallenden Morgentoilette als einziger Oase“. Immerhin wusste er drohender Apathie entgegen zu wirken: Die schönste Aussicht in seiner imaginären Geografie des Spitals genoss er in seiner persönlichen „Cinecittà“. Weite Balkone nach Süden boten ihm ein Panorama, dem der poetische und windschiefe Charme von Filmkulissen entströmte, wie er schrieb. „Die Vororte von Berck sehen aus wie Modellbauten für die elektrische Eisenbahn. Am Fuß der Dünen erwecken einige Baracken die Illusion einer Geisterstadt im Wilden Westen. Und was das Meer betrifft, so ist sein Schaum so weiß, dass er aus der Abteilung Special Effects zu stammen scheint.“

Hier auf der Terrasse hätte man ihn tagelang im Rollstuhl sitzen lassen können, hier war er in aller Bescheidenheit der größte Filmregisseur aller Zeiten: „In der Stadt drehe ich noch einmal die erste Einstellung von Touch of Evil. Am Strand wiederhole ich noch einmal die Kamerafahrten in Stagecoach, und auf hoher See erschaffe ich noch einmal den Sturm, in den die Schmuggler in Moonfleet geraten. Oder ich löse mich einfach in der Landschaft auf, und nichts verbindet mich mehr mit der Welt als eine Freundeshand, die meine tauben Finger streichelt.“

Drei Tage nach dem Erscheinen seines Buches starb Jean-
Dominique Bauby, ohne dabei die Hilfe befreundeter Hände in Anspruch nehmen zu müssen.