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Before the Devil Knows You’re Dead

In eisige Tiefen

| Jörg Schiffauer |

Altmeister Sidney Lumet schickt in „Before the Devil Knows You’re Dead“ die Protagonisten auf eine psychische Tour de Force.

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Es ist ein ungleiches Brüderpaar, das Andy (Philip Seymour Hoffman) und Hank (Ethan Hawke) Hanson auf den ersten Blick abgeben. Als erfolgreicher Wirtschaftsprüfer, verheiratet mit einer attraktiven Frau, scheint Andy den Prototyp des erfolgreichen Karrieremenschen zu repräsentieren, Hank dagegen hat seine Scheidung ziemlich aus der Bahn geworfen. Was die Brüder bei aller Verschiedenheit jedoch verbindet, sind erdrückende finanzielle Sorgen, denn Andys Existenz ist zum großen Teil nur Fassade, seinen aufwändigen Lebensstil kann er nur mit Hilfe unterschlagener Firmengelder aufrecht erhalten, Hank ist nicht einmal mehr in der Lage, den Unterhalt für seine Tochter aufzubringen. Und so unterbreitet der smarte Andy seinem Bruder einen scheinbar sicheren Weg, alle ihre Probleme mit einem Schlag zu lösen: Man müsste nur das Juweliergeschäft der Eltern überfallen, die einzige Angestellte würde keinen Widerstand leisten, die Versicherung komme ohnehin für den Schaden auf. Doch am Tag des Überfalls steht völlig unerwartet die Mutter der Brüder im Laden, der von Hank kurzfristig angeheuerte Komplize verliert die Kontrolle und greift zur Waffe, der einfache Plan endet in einer furchtbaren Katastrophe. Hank und Andy gelingt es zunächst, nicht in Verdacht zu geraten, doch die Schuldgefühle werden immer quälender, ihre monetären Schwierigkeiten bleiben bestehen, und die Konsequenzen ihrer Tat beginnen die Brüder einzuholen.

Mit Tödliche Entscheidung (Before the Devil Knows You’re Dead) hat der 83-jährige Sidney Lumet ein kraftvolles, beeindruckendes Spätwerk in Szene gesetzt, das, nach einigen nicht ganz so gelungenen Arbeiten der jüngeren Vergangenheit, den Vergleich mit seinen besten Filmen nicht zu scheuen braucht. An der Oberfläche handelt Before the Devil Knows einen genretypischen Kriminalfall ab, doch der Fokus richtet sich, ein Merkmal der meisten Lumet-Inszenierungen, nach und nach auf die psychische Ausnahmesituation, in der sich die Protagonisten alsbald befinden.

Seit seinem Erfolg mit dem Gerichtssaaldrama Twelve
Angry Men
(1957) zählt Sidney Lumet zu den wichtigsten Regisseuren des US-amerikanischen Kinos. Obwohl sich die Namen der Schauspieler, die mit ihm gearbeitet haben, wie ein Auszug aus dem Who is Who Hollywoods ausnehmen (Henry Fonda, Katharine Hepburn, Sean Connery, Al Pacino oder William Holden, um nur einige zu nennen), hat sich Lumet doch stets so weit wie nur irgendwie möglich vom dortigen Produktionsbetrieb distanziert. Zwar haftet ihm das Label eines Spezialisten für im Justiz- und Polizeimilieu angesiedelte Dramen (Serpico, Dog Day Afternoon, Prince of the City, The Verdict, Q & A) sowie Literaturadaptionen (Long Day’s Journey into Night, The Pawnbroker, Equus, Daniel) an, doch hat sich Lumet, was die Auswahl der Sujets und Genres betrifft, stets als äußerst vielseitig erwiesen. Seine Inszenierungen folgen, zumindest auf den ersten Blick, durchaus genrekonformen, dem narrativen Kino verpflichteten Konventionen, doch eine solche Betrachtung greift bei der Analyse seines Gesamtwerks viel zu kurz. Lumet operiert mit spannenden, zeitweilig durchaus aktionsintensiven Plots, doch was seine Arbeiten auszeichnet, ist ein besonderer Respekt für das gesprochene (und geschriebene) Wort, den man im US-amerikanischen Kino nicht allzu oft antrifft. Lumet räumt Dialog-sequenzen breiten Raum ein, was dazu führt, dass seine Filme häufig einen kammerspielartigen Charakter mit enorm hoher Intensität entwickeln und dabei präzise Psychogramme der Protagonisten zeichnen.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Themen und Sujets, die Lumet aufgreift, die Handlungsfäden bleiben dabei doch zumeist ein Vehikel, das die Geschichte gekonnt am Laufen hält, doch der eigentlichen Kern, der seine Arbeiten prägt und Lumets Filme meilenweit über konventionelles Genrekino hervorhebt, bleibt ein anderer: eine Expedition in die tiefsten, innersten Winkel des Gemüts seiner Charaktere, die sich im Verlauf dieser Reise nach und nach auch sehr unangenehmen, schmerzhaften Wahrheiten stellen müssen.

Psychologische Expeditionen

In seinem Buch Into Thin Air berichtet Jon Krakauer über eine jener Expeditionen zum Gipfel des Mount Everest, an der bergsteigerisch unerfahrene, aber zahlungskräftige Freizeit-Alpinisten teilnehmen. Um aber zum höchsten Punkt der Erde
zu gelangen, muss man jene Höhen durchqueren, die der Arzt Edouard Wyss-Dunant als die „Todeszone“ bezeichnet hatte, jenen Bereich ab 7.500 Metern, in der der menschliche Organismus aufgrund der außerordentlichen Belastungen nur eine sehr begrenzte Zeit existieren kann. Betrachtet man die Ausnahmesituationen, in die Sidney Lumet die Protagonisten seiner Filme führt, so könnte man durchaus die Analogie herstellen, sie müssten dabei so etwas wie eine psychische Todeszone überwinden. Lumet observiert in seinen Inszenierungen mit meisterhafter, chirurgischer Präzision das Verhalten von Menschen, die extremen psychischen Belastungen ausgesetzt sind. Ob der Auslöser für diese Belastung eine kriminelle Handlung (Dog Day Afternoon, Before the Devil Knows You’re Dead), der Kampf gegen Korruption (Serpico, Prince of the City) oder die Suche nach Wahrheit (Twelve Angry Men, The Verdict, Daniel) ist, spielt keine große Rolle, das Resultat ist stets dasselbe: Die Protagonisten geraten in ein enormes mentales Spannungsfeld, das sie letztendlich dazu zwingt, sich schonungslos mit sich selbst auseinanderzusetzen, Fragen nach Schuld, Verantwortung, Selbsttäuschung und moralischer Integrität sind dabei jene Topoi, die sich in Lumets Filmen immer wieder finden lassen.

Ähnlich unbedarft wie die Everest-Touristen begeben sich auch die Lumet’schen Protagonisten in Grenzbereiche, deren Gefahrenpotenzial sie falsch einschätzen und, in Verkennung der Lage, zu kontrollieren vermeinen. Die Brüder Hank und Andy in Before the Devil Knows You’re Dead sind in diesem Sinn prototypische Lumet-Charaktere. Ihr amateurhaft geplanter und deshalb missglückter Überfall löst eine verhängnisvolle Kettenreaktion aus, die die Brüder neben der ganz realen Gefahr, als Kriminelle enttarnt zu werden, vor allem dazu zwingt, sich mit ihren eigenen Lebenslügen auseinanderzusetzen, die sie bislang zu verdrängen wussten. Zunächst versuchen die beiden noch, alle aufbrechenden Probleme kurzfristig zu beheben, doch auch dieses temporäre Krisenmanagement ist nicht viel mehr als ein Aufschieben. Der (psychischen) Todeszone kann man nicht durch Zögern und Verdrängen entkommen, nur wer sie zügig und geradlinig durchquert, hat eine Chance, sie unbeschadet zu bewältigen. Und so können sich auch die beiden Brüder der finalen und entscheidenden Konfrontation mit sich selbst schlussendlich nicht entziehen.

Auch Daniel Ciello in Prince of the City (1981) muss diese Erfahrung auf schmerzhafte Weise machen. Der Cop, der sich bereit erklärt, bei der Bekämpfung der Korruption mitzuarbeiten, versucht zuerst, seine eigenen Verfehlungen weitgehend zu verschleiern. Doch im Verlauf der Ermittlungen holen ihn seine Lügen immer wieder ein, bis Ciello erkennen muss, dass nur das schonungslose Offenlegen seiner Vergangenheit von dem Druck, der  auf ihm lastet, endgültig befreien kann. Ciello stellt sich schließlich bedingungslos dieser Konfrontation, so bitter dies für ihn, seine Familie und seine Freunde auch sein mag, für seine Kollegen, die versuchen, diesem Weg auszuweichen, werden die Folgen hingegen fatal sein. Welch unheilvolle Folgen die Expedition in psychische Extrembereiche nach sich ziehen kann, zeigt Lumet aber vermutlich am drastischsten in The Offence (1972). Der  erfahrene, aber durch seinen Beruf und sein Privatleben bereits zermürbte Po- lizist Johnson möchte unbedingt selbst einen Kinderschänder zu einem Geständnis bringen. Doch der nach außen so selbstsichere Johnson wird im Verlauf des Verhörs von dem Verdächtigen unerwartet mit seinen eigenen, verdrängten Abgründen konfrontiert, die ihn schon lange quälen. Und dieser Begegnung ist der ansonsten so hart gesottene Ermittler nicht mehr gewachsen, die Katastrophe folgt unausweichlich.

Konsequente Haltung

Obwohl Sidney Lumet der Darstellung des psychischen Zustandes seiner Figuren breiten Raum gibt, hat sich der aufrechte Demokrat auch darum bemüht, gesellschaftliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. Seine Auseinandersetzungen mit Missständen im Polizei- und Justizwesen (Twelve Angry Men, Serpico, Prince of the City), Auswüchsen der Medien (Network) oder dem Irrsinn des Kalten Krieges (Fail Safe) sind Beispiele für meisterhaftes narratives Kino, das aber auch Haltung zeigt und eine Form von message cinema repräsentiert, das heute immer seltener zu finden ist. Lumets Inszenierungen vermeiden es jedoch bei allem Engagement, messianische Züge anzunehmen. Die Protagonisten seiner Filme sind keine dogmatischen Moralisten, sie fühlen sich zunächst vielmehr einem sehr persönlichen Wertekanon verbunden, der sie quasi verpflichtet, gegen Fehler im System anzukämpfen. Detective Ciello etwa meint im Verlauf von Prince of the City, auf den Grund angesprochen, warum er aller Nachteile und Risiken zum Trotz gegen Korruption in den eigenen Reihen auftrete: „I wanted to do something showing that I was a good guy, not a bad guy.“ Es ist typisch für Lumet-Charaktere, dass sie zu Anfang vielleicht nicht einmal genau wissen, was richtig ist, aber immerhin, was falsch ist.

Mögen die Beweggründe, den Kampf aufzunehmen, weitgehend undogmatisch sein, geführt wird er, ein weiteres typisches Merkmal von Lumet-Figuren, mit einer Verbissenheit und Kompromisslosigkeit, die eine Umkehr unmöglich machen. Die Konsequenzen mögen drastisch sein und enormen psychischen Druck, Isolation oder sogar physische Bedrohung mit sich bringen, doch die Protagonisten gehen ihren einmal eingeschlagenen Weg mit einer Geradlinigkeit, die zeitweilig selbstzerstörerische Züge annimmt, die jedoch in Wahrheit längst die einzige (zumindest mentale) Überlebensstrategie geworden ist. Ob der Kampf in einer persönlichen Niederlage (Serpico), einem Pyrrhus-Sieg (Prince of the City) oder einem materiellen Erfolg (The Verdict) mündet, ist dann zweitrangig, oberste Priorität hat nur mehr, sich selbst treu bleiben zu können.

Vor dem Problem, sich wenigsten einige Wertmaßstäbe zu bewahren, stehen letztendlich auch die Brüder Hanson. Es ist zweifellos ein Dilemma, sich einen Rest von moralischer Integrität zu bewahren, wenn man bereits mehrfach schwere Schuld auf sich geladen hat und mit dem Rücken zur Wand steht. Doch vor seinen Problemen und insbesondere vor sich selbst einfach davon zulaufen, ist, siehe oben, keine gute Option. Der Titel von Sidney Lumets neuem Film leitet sich übrigens von einem alten irischen Trinkspruch ab: „May you be in heaven half an hour, before the devil knows you’re dead.“ Ein frommer Wunsch, doch wer kann schon, wie auch die Hanson-Brüder erfahren werden, den Teufel überlisten?