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Ein Dossier – Direct Cinema – Außer Kontrolle

Außer Kontrolle

| Mark Stöhr |

Die Retrospektive im Filmmuseum zum amerikanischen Direct Cinema würdigt eines der herausragenden Kapitel des Dokumentarfilms der Sechziger Jahre.

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Bevor André Bazin 1958 starb, konnte er wahrscheinlich nur erahnen, was sich zwei Jahre später in den USA zutragen sollte. Der französische Filmtheoretiker unterschied zwei Kinoschulen. Eine realistische, die er begrüßte und Filmemachern wie Robert J. Flaherty, Erich von Strohheim, Friedrich Wilhelm Murnau, Jean Renoir, Orson Welles, William Wyler und den Vertretern des italienischen Neorealismus zuschrieb. Und eine „expressionistische“, die er ablehnte: Die Filme von Fritz Lang etwa, Abel Gance oder der Russen Sergej Eisenstein und Lev Kuleshov. Hier ein ästhetisches Programm, das mehr der Mise en Scène vertraute und die Montage mit langen Einstellungen und – ab den Vierziger Jahren – insbesondere mit dem Mittel der Tiefenschärfe in die Bildkomposition übertrug. Dort die dramatischen und analytischen Montageverfahren, die das Gefilmte fragmentierten – möglichst unsichtbar im klassischen Hollywoodkino, als gezielte Dekonstruktion des raumzeitlichen Kontinuums bei der russischen Avantgarde. Der realistische Zugriff, so Bazin, biete dem Zuschauer ein Wahrnehmungsmodell, wie er es aus der Realität kenne, und eröffne ihm eine ungleich größere Deutungsfreiheit als der geführte Blick im „synthetischen“ Kino. Die Utopie ist der „totale Film“, wo die Wirklichkeit und ihr Abbild, natürliches und filmisches Sehen in eins fallen. Eine totale Illusion, wie auch der Franzose wusste. Aber ein Abglanz dieser Utopie schien im Direct Cinema auf, zumindest in der Euphorie seiner Anfangszeit.

Mit Kennedy im Hotel

1960 wurde Primary von dem privaten US-Fernsehsender ABC ausgestrahlt. Für uns heute ein eindringliches Dokument der Zeitgeschichte, für die Zuseher von damals ein dokumentarisches Wunder der Mobilität und Unmittelbarkeit. Der überwältigende Realitätseindruck verdankte sich jedoch vor allem einer Tatsache: Erstmals sprachen Personen in einem Film keine geschriebenen und auswendig gelernten Dialoge, sondern so, wie sie wirklich sprachen. Primary dokumentiert fünf Tage lang den Vorwahlkampf zwischen den Senatoren Hubert Humphrey und John F. Kennedy. Das Duell zweier völlig unterschiedlicher Politikertypen. Der eine eher hausbacken, sachorientiert und um kein Detail in Fragen der Viehzucht verlegen. Der andere die charismatische Lichtgestalt und Verkörperung des jungen Amerika. Eine Person des Aufbruchs. Der Film stellt sich auf Kennedys Seite und benutzt ihn als Initiationsfigur seiner eigenen kinematografischen Erneuerung – und wird von dem Politiker seinerseits als medialer Verstärker seiner Kampagne benutzt, wie es von da an bis heute die Regel sein sollte. Die Bewegung jener Zeit wird zur Bewegung der Kamera, die sich vom Stativ löste und mit ihren Protagonisten immer auf Augenhöhe war. Bei einem Besuch Kennedys in einem Viertel polnisch stämmiger Einwanderer folgt sie ihm ohne Unterbrechung von der Straße durch den Flur bis zum Versammlungssaal. Heute gängige Dokumentarfilmpraxis, damals eine Sensation. Auch die intime Insiderperspektive, in der sich Öffentliches mit Privatem mischte, war neu: Kennedy in seinem Hotelzimmer, in Erwartung der Wahlentscheidung. Das Direct Cinema war geboren. Eine filmische Revolution aus Ästhetik und Technik, Teil eines beginnenden kulturellen und politischen Umbruchs allenthalben, von den einen fast messianisch verehrt, von den anderen mit der gleichen Verve verdammt.

Opposition und Erneuerung

Es waren keineswegs idealistische Motive, welche die Direct-Dokumentaristen am Beginn umtrieben. Es ging ihnen um packende Geschichten mit packenden Bildern, die sich – so zumindest die Anfangshoffnung – ein großes (Fernseh) Publikum erobern und kommerziell verwerten lassen sollten. Dafür mussten zunächst einmal technische Hindernisse überwunden werden. Denn der Dokumentarfilm war bis dahin in der Regel: steif und stumm. Die Apparaturen für Bild und Ton waren schwerfällig und ließen es nicht zu, sich spontan entwickelnde Ereignisse einzufangen. Also wurde die Wirklichkeit zur Kamera gebracht, geflissentlich arrangiert und in der Postproduktion mit den nötigen Stimmen und Geräuschen versehen. Eine oftmals statuarische Ästhetik war die Folge, über der zumeist der eingesprochene Kommentar als erzählerischer Strapsenhalter schwebte. Damit sollte Schluss sein. Eine Schlüsselfunktion kam dabei dem Journalisten Robert Drew zu, der für die amerikanische Illustrierte Life arbeitete. Er erkannte früh das Fernsehen als Massenmedium der Zukunft und träumte von einem Reportage-Format im Stile der Life-Fotoserien, das einen Blick hinter die Kulissen warf und Situationen von informativer und emotionaler Prägnanz dokumentierte. In Richard Leacock und Donn Alan Pennebaker fand er Gesinnungsgenossen und gründete mit ihnen die Produktionsfirma „Drew Associates“, die zu ihrer Hochzeit bis zu 75 Mitarbeiter beschäftigte, darunter auch Albert Maysles. Leacock war Kameramann und wusste aus eigener Erfahrung um die Defizite der bestehenden Aufnahmetechnik. Mit dem Geld von Drew und dem Knowhow des ausgebildeten Elektroingenieurs Pennebaker entwickelte er eine leichte 16mm-Kamera mit kabelloser Synchrontonvorrichtung – ein Prozess, der in Stufen verlief und mehrere Jahre in Anspruch nahm. Dazu kamen parallele Innovationen wie hochempfindliche Filme, lichtstarke Objektive und die Zoomtechnik. Das Feld war bereitet für das „Uncontrolled Cinema“, wie das amerikanische Dokumentaristen-Kollektiv sein ästhetisches Programm nannte: Keine Inszenierung des Realen, keine Kommunikation mit den Protagonisten, der Filmemacher nicht als Regisseur, sondern als Beobachter. Die Wirklichkeit sollte so aufgezeichnet werden, wie sie vorgefunden wurde und sich auch ohne die Anwesenheit der Kamera abgespielt hätte. Die Montage ergab sich im besten Fall schon im Moment der Aufnahme und diente lediglich der Rekonstruktion der Ereignisse und nicht als nachträgliche Produzentin von Bedeutung im textuellen Gefüge des Films. Die Direct-Filmer sahen sich damit in radikaler Opposition zum Erklärdokumentarismus Grierson‘scher Prägung – und zum klassischen Hollywoodkino. Das einte sie mit anderen filmischen Erneuerungsbewegungen, die sich fast zeitgleich ringsum erhoben. Der US-Independentfilm um John Cassavetes etwa, das Free Cinema in England, die Schwarze Serie in Polen oder in Frankreich die Nouvelle Vague und das Cinéma Verité, das mit ähnlichen technischen Mitteln wie seine US-Kollegen arbeitete und doch geradezu diametral entgegen gesetzte Ziele verfolgte.

Primary folgte im gleichen Jahr The Children Were Watching, ebenfalls von ABC zur besten Sendezeit ausgestrahlt, eine Reportage, die in New Orleans den Aufstand weißer Eltern gegen die Aufnahme afroamerikanischer Kinder in einer Schule dokumentiert. Diese wie weitere Filme – On the Pole (1960) über den Rennfahrer Eddie Sachs, Football (1961) über das Prestigeduell zwei High School-Teams oder vor allem auch The Chair (1962) über den Kampf eines Anwalts um die Begnadigung seines zum Tode verurteilten Mandanten – verbindet die dramatische Struktur. Sie zeigen Personen in Entscheidungssituationen, in krisenhaften Momenten, in denen ein gewisser Spannungsverlauf von vornherein angelegt war. Das brachte die Arbeiten in eine größere Nähe zu Hollywood, als ihnen lieb war, hatte aber auch den unstrittigen Vorteil, dass die Protagonisten die Anwesenheit der Kamera irgendwann kaum mehr wahrnahmen, da sie mit sich selber beschäftigt waren.

Welt im Wandel

Schon früh hatte sich jedoch eine Front gegen den neuen dokumentarischen Ansatz gebildet, dem ein oberflächliches Verhandeln der Wirklichkeit vorgeworfen wurde. Und in der Tat führte das System der radikalen Beobachtung und der schnellen Eingreiftruppe – Drew und Co. drehten häufig mit mehreren Teams und an wenigen Tagen und verzichteten auf eine profunde Recherche im Vorfeld – dazu, dass es den Filmen an Vertrautheit zwischen den Machern und ihren Figuren fehlte. Zudem pochte die Filmkritik und vor allem die semiotische Schule innerhalb der Filmtheorie, die in den Sechziger Jahren aufkam, auf den Konstruktcharakter allen kinematografischen Tuns – frei nach Christian Metz’ pointierter Setzung „Jeder Film ist ein Spielfilm“. Sie bevorzugte das Cinéma Verité, das seine Produktionsbedingungen offen ausstellte, die Wirklichkeit mehr reflektierte denn dokumentierte und bewusst Einfluss nahm auf das „Spiel“ seiner Protagonisten. Bazins Konzept und mit ihm das seiner amerikanischen Interpreten, dem Zuschauer ein Wahrnehmungsfeld zu bieten, in dem er seine eigene, auch ideologische Position finden muss, tat sich schwer in einer Zeit, in der die Realität politisch und kulturell verändert werden sollte. Aber der Beitrag des Direct Cinema als seismografischer Begleiter eben jener Veränderungen ist unbestritten – auch über die Pop-Dokumentarfilme wie Don’t Look Back (1967) oder Gimme Shelter (1970) hinaus, die es so berühmt machten. 1963 löste sich die „Drew Associates“ auf. Leacock, Pennebaker und die Maysles-Brüder Albert und David gingen eigene Wege. Die Filme gaben ihre forcierte Dramatisierung auf, wurden offener und suchten mehr die Nähe zu ihren Personen. Leacock etwa in seinem eindringlichen A Stravinsky Portrait (1964), die Maysles in ihrem Bibelverkäuferporträt Salesman (1968) und vor allem in ihrem phantastisch-skurrilen Grey Gardens (1975), der Jacqueline Kennedys Tante in ihrem völlig heruntergekommenen Herrenhaus zeigt. Aus rasenden Reportern wurden feinfühlige Porträtisten – und damit bis heute herausragende Persönlichkeiten der Dokumentarfilmgeschichte.