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Ein Dossier – Direct Cinema – Beredtes Schweigen

Beredtes Schweigen

| Michael Pekler |

In den Anfangsjahren des amerikanischen Direct Cinema war er in Frankreich noch als Fotograf unterwegs, aus der europäischen Linie des Cinéma Verité heraus sollte er einen vollkommen eigenen Stil des Dokumentarfilms entwickeln. Eine Annäherung an die Filme von Raymond Depardon.

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Eine Menschenmenge hat sich im Central Park in New York versammelt. Stumm steht sie da, keiner spricht ein Wort, jeder starrt vor sich hin. Gelbes Laub bedeckt den Boden, es ist Winter. In einer einzigen langen Einstellung beobachtet die Kamera die jungen Menschen, die sich hier versammelt haben, bleibt manchmal für längere Zeit auf einem Gesicht haften, um dann zum nächsten weiterzuwandern. Nach zehn Minuten wird das Schweigen gebrochen, Musik aus Lautsprechern wird hörbar. Man schreibt den 14. Dezember 1980, man spielt Imagine von John Lennon. Und in der letzten Einstellung blickt die Kamera auf die grünbraune Wiese, und in roten Lettern erscheint der Titel des Films, der gleichzeitig den Grund der Versammlung preisgibt: Dix minutes de silence pour John Lennon.

Das Schweigen und das Sprechen. Das eine ist ohne das andere nicht möglich, ist nur im Gegensatz zueinander denkbar. Dies nicht deshalb, weil – wie eine dumme Redensart behauptet – ein Bild tatsächlich mehr sagen würde als tausend Worte, sondern weil es einfach einen großen Unterschied macht, ob man jemanden beim Schweigen oder beim Sprechen filmt. In seinem Afrika-Reisefilm Afriques: Comment ça va avec la douleur? (1996) wird der Regisseur, Kameramann und Fotograf Raymond Depardon sechzehn Jahre nach Dix minutes Nelson Mandela treffen, der soeben 20 Jahre im Gefängnis verbracht hat und vor seinem Antritt zum Amt des Präsidenten steht. Lange hat Depardon auf diesen Moment gewartet, nun hat das Warten ein Ende. Und als Mandela schließlich vor der Kamera steht, fragt ihn Depardon – nichts. Eine Minute lang nichts. Und dennoch hat man hier alles erfahren, was es zu erfahren gibt. Depardon besucht eine Frau in ihrer Gefängniszelle. Sie berichtet ihm über die katastrophalen Haftbedingungen, und Depardon hört ihr zu. Dann erfährt man, dass alle Inhaftierten in diesem Gefängnis aufgrund begangener Bürgerkriegsverbrechen einsitzen. Und Depardon meint: „Ich wollte keine Worte filmen.”

Als Raymond Depardon, 1942 in Villefranche-sur-Saône bei Lyon geboren, im Alter von sechzehn Jahren nach Paris geht, um eine Lehre als Fotograf zu beginnen, ist in den USA der große Umbruch im Dokumentarfilm bereits spürbar: Mit ihren 16mm-Kameras beginnen Regisseure wie Richard Leacock, Donn Pennebaker oder die Brüder Albert und David Maysles auszurücken und einen neuen Stil zu prägen, der fortan Direct Cinema genannt werden sollte. Nicht zuletzt aufgrund des Fernsehens und seiner Möglichkeiten bricht in diesen Tagen ein neues Zeitalter heran und bringt Klassiker wie Primary oder Pennebakers Bob-Dylan-Porträt Don’t Look Back hervor. Wie bislang nur Fotografen und Reporter rücken die „Männer mit der Kamera” der Wirklichkeit zu Leibe, dokumentieren auf exemplarische Weise Wahlkämpfe ebenso wie Musikkonzerte und beginnen, wie etwa Frederick Wiseman, öffentliche Institutionen zu durchleuchten.

Depardon arbeitet in diesen stürmischen Tagen hauptsächlich als Fotograf, berichtet über den Algerienkrieg, ist als Fernsehkorrespondent tätig und gründet 1966 mit drei Kollegen die Fotoagentur Gamma. Der Reporter steckt also schon in ihm, als er 1969 schließlich mit Jan Palach einen Film über jenen Mann realisiert, der sich aus Protest gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei im August 1968 mit Benzin übergossen und öffentlich verbrannt hatte. Zu dieser Zeit arbeitet Depardon zwar noch in erster Linie als Fotograf, doch die Fotografie und das Filmen gehören für ihn bereits spürbar zusammen: Von dem einen sollte er für das andere lernen und umgekehrt. Davon zeugen vor allem die im Reportage-Stil gehaltenen Filme: In 1974, une partie de campagne begleitet oder besser: entlarvt er den Präsidentschaftskandidaten Giscard d’Estaing während seiner Wahlkampf-Auftritte, zeigt das Zusammenspiel und Abhängigkeitsverhältnis von Politik und Medien. Giscard d’Estaing verurteilt den Film als „despektierlich“ und wird ihn nicht für die Öffentlichkeit freigeben, und der Film kann in der Folge über 28 Jahre lang nicht gezeigt werden, bis er 2002 unter dem Titel 50,82 % in die französischen Kinos kommt. Und auch in Reporters (1981) kehrt Depardon, der 1979 Gamma verlässt und zu Magnum wechselt, quasi zurück zu seinen Wurzeln, wenn er die ehemaligen Gamma-Kollegen im Alltag begleitet: Die Mühen des Fotoreporters in Zeiten des Wahlkampfes (man staunt, wie viele Hände Jacques Chirac schütteln musste), die freundschaftliche Rivalität zwischen den Fotografen, die Reden und Feiern der Politiker – mit erstaunlicher Präzision für Details verfolgt die Kamera das Treiben, etwa wenn die Autofenster den Fotografen zuliebe noch einmal heruntergekurbelt werden. Reporters wird für den Oscar nominiert und erhält 1982 den César als Bester Dokumentarfilm.

Institution und Systeme

Mit Faits divers (1983) beginnt Depardon schließlich eine Untersuchungsreihe staatlicher Institutionen: Drei Monate lang begleitet er mit seiner 16mm-Kamera die Polizisten des 5. Pariser Arrondissement bei ihrer täglichen und nächtlichen Arbeit, filmt in den Büroräumen ebenso wie in Stiegenhäusern und auf der Straße, fährt in den Polizeiwagen mit und beobachtet Verhöre. Fern jedweden Blickes auf „spektakuläre Fälle”, die sich bei der Routinearbeit ohnehin selten ergeben, interessiert sich die Kamera in erster Linie für das ambivalente Verhältnis zwischen den Menschen auf der Straße und jenen in Uniform: Das Polizeirevier als Teil einer übergeordneten staatlichen Institution, die einzelnen Begegnungen zwischen Bürgern und Polizei als unvorhergesehene „Konfrontation”. Die Kamera wechselt dabei abrupt die Schauplätze, betont diese Skizzenhaftigkeit. Was sie denn gemacht habe, fragt die junge Frau im Wachzimmer den Polizisten immer wieder, sie habe die alte Frau doch nur um Kleider gefragt. Auch wir wissen es nicht. In Urgence (1987) wechselt Depardon schließlich zwar das Milieu, um in der psychiatrischen Abteilung des Pariser Krankenhauses Hôtel-Dieu seinen Blick auf eine weitere Form staatlicher Institution zu erweitern, nicht aber Prinzip und Methode. Auch hier geht es Depardon nicht darum, den „richtigen“ Umgang mit Patienten zu erforschen, sondern darum, gerade durch die täglichen Beobachtungen der Vorstellung von „Einzelschicksalen“ entgegenzuwirken. In Délits flagrants (1994) wiederum blickt er in die Kellerbüros des Pariser Justizpalastes: In unzähligen, rasch abzuwickelnden Verhören werden hier Straftäter oder auch Menschen, die nur zufällig ins Visier der Justiz gelangt sind, einvernommen. Depardon gibt zwar für diese Bestandsaufnahme sein formales Prinzip der Mobilität auf, unterstreicht dadurch aber nur umso deutlicher die eigentliche Absicht: Starr und in langen Einstellungen blickt die Kamera auf die Verhörsituation zwischen der Staatsgewalt und den verschiedenen Delinquenten – und begleitet keinen Einzigen der Verhörten aus dem Raum. Zwei Menschen, dazwischen ein Tisch. Vierzehn mal. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Niemand ist interessanter als der andere, keiner durchläuft vor unseren Augen – von begangener Tat bis zu Verurteilung und Haft – die Mühlen der Justiz. Und in Délits flagrants wird ersichtlich: Wichtiger als das, was gesagt wird, ist das was nicht gesagt wird. Zehn Jahre später wird Depardon mit 10e chambre – Instants d’audiences (2004) eine Art Nachbetrachtung drehen, die Verhandlungen in einem Pariser Zivilgerichtshof gerinnen zu einem einzigartigen Porträt einer sprachlosen Gesellschaft.

In diesen Arbeiten wird auch die strenge „fotografische Konzentration” spürbar, von der die unzähligen Fotobände Depardons und die Bilder seiner Reisen quer durch Afrika, Asien und Europa zeugen. Und auch in seiner bisher letzten großen Filmtrilogie Profils paysans (La Vie moderne ist für diesen Herbst angekündigt), ist diese formale Reduktion sichtbar: In Profils paysans: L‘Approche, Depardons „Annäherung“ an bäuerliche Lebensverhältnisse in der französischen Lozère, geschieht vorwiegend über Innenaufnahmen. Auch hier: Menschen an einem Tisch, diesmal jedoch die Küche als Ort des Gesprächs und in Form einer Rückkehr zum Vertrauten. Selbst auf einem Bauernhof groß gewordenen, blickt Depardon am Ende wieder in jene Welt, der er selbst entstammt. Und eines wissen wie Raymond Depardon die letzten Bauern der Gegend am besten: wann geredet und, vor allem, wann geschwiegen wird.