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Kino im Kopf – Das Ich und das Es und das Kino

Das Ich und das Es und das Kino

| Hans Christian Leitich |

Die Ausstellung „Kino im Kopf“ in der Österreichischen Filmgalerie in Krems untersucht – unterstützt von Filmbeispielen – die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Psychologie und Laufbild.

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Träumen wir in Schwarzweiß, wie einige wissenschaftliche Studien behaupten? Oder träumen wir, wie Regisseure uns gerne nahelegen, in Weichzeichneroptik oder gar im verwaschenen Super-8-Format von Vaters Urlaubsfilmchen? Ein spielerisches Element ist jedenfalls dabei, wenn die Ausstellung Kino im Kopf – Träume, Triebe und Täter im Film in der Österreichischen Filmgalerie in Krems die seit gut einem Jahrhundert andauernde innige Beziehung zwischen Kino und Psyche Revue passieren lässt.

Eine persönliche Lieblingserinnerung zum Thema führt über zwanzig Jahre zurück, als im deutschsprachigen Kino in gro-ßem Stil Michael Powells Peeping Tom (1960) wiederentdeckt wurde. In einer Szene des spukig-psychologischen Thrillers erhält der Titelheld Besuch von einem Psychiater an seinem Arbeitsplatz, einem Filmstudio. Von hoch droben, von der Lichtergalerie aus, betrachten sie das Set, und den Seelenarzt interessiert weniger der gequälte Augenausdruck des von Karlheinz Böhm verkörperten Voyeurs als etwas anderes. Formuliert mit C. G. Jung’scher Begrifflichkeit und dem Singsang eines emigrierten Wieners, befindet er fröhlich: „Faszinierend. Wer ist denn eigentlich der Extrovertierte in der Mitte?” Antwort: „Äh … der Regisseur.” Es ist dies ein juveniler Moment eines comic relief in einem Film, der als Opfer kultureller Verdrängung berühmt wurde. Was man anno 1960 zu verdrängen suchte, war ein intelligent pointiertes Update der archaischen Idee, wonach die Abbildung eines Menschen dessen Seele rauben könne. Ein leidender Sohn eines obsessiven Amateurfilmers stellt in seinem späteren Leben im Geheimen Filme her, die der Jahrzehnte lang kursierenden morbiden Phantasie des snuff movies entsprechen: der erotisierte Tötungsakt vor laufender Kamera als ultimativer Tabubruch. Mit dem Zuseher als (hoffentlich widerstrebenden) Komplizen, mit dem Regisseur als gelassenen Überbringer einer heiklen Botschaft.

Retro-Touch

Dieses Melodram eines gefährlich Bilderbesessenen stellte einen Kollisionspunkt in der langjährigen, verwickelten Beziehung zweier Altersgenossen dar: War zum einen die klassische Psychoanalyse bemüht, Probleme, die einer Dogmatik in Wort und Schrift entspringen, über den Umweg des Bildhaften wieder einer Text-basierten Erklärungslösung zuzuführen, strebte die Kinobranche konträr und naturgegeben einer szenischen Bildhaftigkeit zu, die Fragen schon mal offenlässt, weil das nach der Vorführung für Gesprächsstoff sorgt. Es ist ein stetes Hase-und-Igel-Spiel: Wer etwa über das Werk eines Autorenfilmers spricht, nähert sich nur zu leicht der Disziplin der Traumdeutung. Andererseits sind Filmschaffende nolens volens Verwirrungskünstler, bisweilen mit aufklärerischer Agenda, nicht selten zum eigenen Ruhme boshaft. Eigentlich könnte man sich einen kinokundigen Therapeuten vorstellen, der seinen Patienten mit der Methode einer gemeinsamen Filmanalyse helfen möchte. Tja, wenn es sich nicht so verhielte, dass Psychologen (neumodisch und Action-orientiert auch: Profiler) zu äußerst gerne verwendeten Filmfiguren gehörten, eine Unparteilichkeit also nicht gegeben wäre. Einmal abgesehen davon, dass schon seit Jahrzehnten TV-Serien die Wünsche und Ängste der Menschen viel maßgeschneideter bedienen als das Kino – und heutzutage zumeist schon gilt: Zeige mir, worauf du bei YouTube klickst, und ich sage dir, wer du bist.

Kino im Kopf hat daher einen Retro-Touch fix eingebaut, und im Sinne eines lebendigen Anachronismus spannt die in Kooperation mit der Deutschen Kinemathek konzipierte Ausstellung denn auch einen großen historischen Bogen, der mit den frühen Tagen der beiden Disziplinen Kinematografie und Psychoanalyse anhebt. Nach Exponaten zu Grundlagen wird G.W. Pabsts Stummfilmklassiker Geheimnisse einer Seele (1926) als früher und gründlicher Versuch einer Zusammenarbeit vorgestellt; die von Pabst vertretene Anschauung, konsequent und sogar im Bereich der Visualisierung von Unbewusstem nach Sachlichkeit zu streben, fand allerdings nur zeitweise und punktuell Nachfolge. In Sigmund Freud kann man wissenschaftshistorisch den Gründerpatriarchen einer experimentellen Wissenschaft sehen, die sich danach lebendig in einander konkurrierende und ergänzende Schulen aufsplittete. Die Filmbranche nützt hingegen den deklarierten Literaturliebhaber und Kinoskeptiker wesentlich, bisweilen in pop-ikonischer Verdichtung, als symbolhaften Exponenten eines wertkonservativen Bürgertums, nach dessen Anerkennung Filmschaffende schließlich gern streben. Und der in seinen Schriften zudem den Vorzug besaß, gekonnt mit dem bildhaften Vokabular der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts zu operieren: siehe „Räume des Unbewussten”, siehe die große Kompatibilität des „Ich-und-Es”-Modells mit literarisch überlieferten Doppelgänger-Motiven. Spätere psychologische Lehrschulen lassen sich nämlich weit weniger spektakulär transformieren, allenfalls abbilden, Verhaltenstherapie etwa. Mit umfangreichen Leihgaben der Hollywood-Akademie wird jedenfalls der ambitionierte Ansatz des damaligen Regiealtmeisters John Huston illustriert, 1962 mit Freud: The Secret Passion ein Biopic mit Denkmalcharakter zu schaffen. Dies wohl nicht zufällig zu einer Zeit, als wieder einmal eine jüngere Generation kräftig gegen die der Väter provokativ aufzubegehren begann, wie davor die der Dadaisten und Surrealisten zu Freuds Lebzeiten.

Psycho [Film] Analyse

Die Basis für den Großteil der Ausstellung bildet der Umstand, dass die Psychotherapie in den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten enorm an Bedeutung und Popularität gewann und in der westlichen Mittelschicht häufig die Stellung einer Ersatzreligion einnahm – der man intensiv anhängen und von der man sich mit Spott wieder ablösen konnte. Die der Ausstellung beigefügte Filmreihe deckt streiflichtartig Facetten ab, von der amikalen Neurotik von Spike Jonzes Being John Malkovich (1999) oder Michel Gondrys The Science of Sleep (2006) über die ausagierte Psychotik von David Lynchs Lost Highway (1997) zum herumalbernden Konversationston von Woody Allens Annie Hall (1977) etwa.

Das von den Regierungen der Wirtschaftswunderjahre deklarierte Ideal der Kleinfamilie beförderte die Befassung mit Mutter- und Vaterfragen, und das Interesse an Psychopathologien erlebte eine große Konjunktur: Nicht mehr Geister oder Vampire hatten für wohliges Schauern zu sorgen, sondern grausame Täter, womöglich Serientäter, denen man dann im Kino, meist in Begleitung psychologisch geschulter Ermittler, nachspüren kann. Ein kleiner Ausstellungsfokus, Robert Siodmaks Nachts wenn der Teufel kam (1957) über den historischen Fall Lübke, steht hierbei für einen didaktischen Ansatz. Daneben ist es manchen Regisseuren ein Anliegen, Pathologien als solche per Bild zu erläutern: Das Funktionieren von Schlüsselszenen aus Hitchcock Psycho und Hanekes Klavierspielerin wird anhand ihrer Storyboards erläutert.

„Das Tränenkabinett” nennt sich ein versuchslaborartiger Teil der Ausstellung, basierend auf der Idee, das im Dunkel des Kinosaals geborgene Fauteuil wäre ein Rückzugsort in kindlichere Verhaltensweisen – wobei die Ausstellungsbesucher austesten mögen, wie weit die Inszenierungstricks des klassischen Hollywood-Melodramas überhaupt noch auf sie wirken. Denn vom Erzählbogen her hat dieses Genre eigentlich kein Geheimnis (gedrückter Beginn, dann eine ganz große Hoffnung etwa zur Filmmitte, welche wieder mächtig den Bach hinunter geht, bis in eine irgendwie verdammt traurige Trostpflasterlösung eingebogen wird), wohl aber dank seiner hemmungsarmen Ausformulierung mittels Farben, Musik und Schauspielpräsenz.

„Psycho[Film]Analyse” nennt sich eine als Gegenpol gemeinsam mit Synema im September ausgerichtete interdisziplinäre wissenschaftliche Tagung zu den vielfältigen Wechsel- und Spannungsbeziehungen von Film und Psychologie. Und wie die Literaturwissenschafterin Elisabeth Bronfen kürzlich in einem „Psynema”-Vortrag zu Charles Laughtons Hell-Dunkel-Phantasie Night of the Hunter (1955) belegte, können durch Verknüpfungen von Gedanken aus klassischer Psychoanalyse und populärem Mythengut auch eher obsessiv-abseitig auftretende Werke der Kinogeschichte einer logischen Lösung zugeführt werden: Hier regredierte der Regisseur, auf dass die Zuseher dies nicht mehr zu tun brauchen.