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Richard Widmark
Pickup on South Street / Polizei greift ein (1953)

Richard Widmark

Star im Verborgenen

| Kent Jones |

Er spielte Betrüger und Taschendiebe, Goldsucher und Psychiater, Kapitäne und Rodeoreiter. Mit Richard Widmark starb am 24. März 2008 einer der verlässlichsten Schauspieler, die Hollywood je hatte. Und einer der besten.

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Kein Mann für atemberaubende Ausbrüche wie John Goodman, doch weit eher ein Star, nur einen Hauch schillernder und extrovertierter als Red Garland, der Jazz-Musiker mit den meisten Aufnahmen und der geringsten Attitüde aller Zeiten: Richard Widmark war wahrscheinlich der verlässlichste Schauspieler seiner Generation. Widmark, der zwischen Kiss of Death im Jahr 1947 und True Colors (1991) 74 Filme drehte, zählt zu jenen Stars, deren meisterhaftes Können einem erst allmählich bewusst wird. Er stellte Psychopathen (Tommy Udo aus Kiss of Death, Jefty aus Road House) ebenso überzeugend dar wie umgängliche Schmalspurganoven (Skip in Pickup on South Street, den unter Hochspannung stehenden Harry Fabian aus Night and the City), Mediziner im Wettlauf gegen die Zeit (Dr. Clinton Reed, der in Panic in the Streets ein Gangstertrio jagt, das mit der Beulenpest infiziert ist, oder Dr. Stewart McIver, der die Wogen glätten muss, die in The Cobweb rund um die Wahl der Vorhänge für seine psychiatrische Klinik hochgehen) oder, gegen Ende seiner Karriere, verbohrte Experten knapp vorm Durchdrehen (der wahnsinnige kalte Krieger aus The Bedford Incident, der unerschütterlich böse Chefarzt aus Coma). Widmark war der „Professionist als Star“, ein Berufsbild, das es nicht mehr gibt. Er war ein reines Produkt der Studio-Ära – um genau zu sein, ein Produkt von Fox, wo er sieben Jahre lang unter Vertrag stand. Damals, so erzählte mir Richard Widmark, war alles effizient, und es war keine Staatsaffäre wie heutzutage. „Jesus, jetzt machen sie einen Film und jedermanns Karriere hängt davon ab, wie viel er übers Wochenende einspielt. Wenn wir mit einem von fünf Filmen Erfolg hatten, fanden wir, es lief gut.“

Alles in allem war Widmarks Schnitt sogar ziemlich gut, er lag eher bei einem von drei Filmen. Selbst die Filme, die er persönlich miserabel fand, wie André De Toths Slattery‘s Hurri-cane („Als sie ihn Zanuck zeigten, meinte der: Was zum Teufel sollen wir damit bloß anfangen?“, The Long Ships („Wir waren sechs Monate lang in Jugoslawien. Es war kein Vergnügen. Es war hirnrissig.“) oder Run for the Sun („Ich sagte den Kids immer: Wenn ihr nicht brav seid, müsst ihr euch Run for the Sun ansehen.“), waren keine Katastrophe. Damit schnitt er besser ab als sein langjähriger Nachbar Robert Mitchum. Widmark mag zwar keinen Film aufzuweisen haben, der ihn zur Ikone machte, wie The Night of the Hunter oder Cape Fear, doch er führte unbestritten ein glücklicheres, ausgeglicheneres Leben und setzte sich intensiver mit seinem Handwerk auseinander. „Er war ein guter Schauspieler, und das würde er nie zugeben“, sagte Widmark über Mitchum. „Ein komplizierter Kerl. Er konnte einen in Grund und Boden reden.“

Bodenständiger Nachkriegs-Rebell

Wie sein großes Vorbild Spencer Tracy nahm Widmark sich stets zurück, er changierte lieber zwischen Gemütszuständen, als sich in Szene zu setzen, er unterfütterte jede Darstellung mit scheinbar zufälligen Details und tarnte diese guten instinktiven Entscheidungen clever als Züge seiner Figur. Die wunderbar schleppende, sonore Stimme des Midwesterners Widmark wurde noch tiefer, als er von Tracy schwärmte: „Ich habe mehr von Tracy gelernt als auf jeder Schauspielschule, ich habe mir alles von ihm angesehen, von seinem ersten Film an. Er war phantastisch – unerreicht. Er war als junger Mann gut, und er war genauso gut, als er älter wurde.“

Dasselbe lässt sich auch von Widmark sagen. Von Anfang an baute er seine Arbeit auf inneren Spannungen auf, seine Charaktere zermartern sich zwanghaft das Hirn und ringen um eine Lösung für ein verzwicktes Problem. Von allen Nachkriegs-Rebellen – Mitchum, Lancaster, Peck, Cotten, Douglas, Ryan, Andrews – war Widmark der am wenigsten stilisierte und verträumte, er war der bodenständigste. Er sah extrem gut aus – in seiner Jugend wirkte sein markantes Gesicht wie aus Marmor gemeißelt – doch er war auch durchschnittlich genug, er konnte jeder Beliebige sein: ein Gesicht, das man in einem zwielichtigen Stadtteil sieht, oder ein Mechaniker oder vielleicht ein Anwalt oder ein Psychiater. Und im Gegensatz zum stämmigen Tracy fühlte Widmark sich im Wilden Westen zu Hause, seinem unglücklichen Auftakt zu Pferd in Yellow Sky zum Trotz. „Wir drehten im Juli im Death Valley. Die Temperaturen lagen um die 50 Grad. Jesus, es war furchtbar. Ich hatte eine kleine Szene mit den Pferden, und damals verstand ich noch nichts von Pferden. Ich setzte meinen Fuß in den Steigbügel und rutschte ab. [Regisseur William] Wellman meinte: Das war’s – einen zweiten Versuch gibt’s nicht. Im Film sieht man nur, wie ich den Fuß hineinsetze, dann kommt ein Schnitt und schon sitze ich am Pferd.“

Genial und unaufgeregt entwickelte Widmark für jede seiner Figuren eine überzeugende Psychologie. Im Herzen vieler Widmark-Charaktere steckt ein enttäuschtes Kind – keine schlechte Interpretation amerikanischer Männlichkeit. Sein Jefty in Road House ist eine erstaunliche Leistung. Mit seinem ebenmäßigen Gesicht und seinen blonden Haaren erinnerte Widmark immer an einen zu groß geratenen Jungen, auch wirkte sein Kopf ein wenig zu wuchtig für seinen Körper. Beim Versuch, Ida Lupinos Lily zu erobern, benimmt er sich genauso linkisch und übereifrig wie ein Zwölfjähriger – er rückt ihr zu nahe, ein aufgesetzt sanftes Lächeln umspielt seine Mundwinkel, und als er ihre Schulter berührt, kann man förmlich spüren, wie klamm seine Hände sind. Wie Tracy bewegte Widmark sich eher gewandt denn anmutig, er hatte ein Gespür dafür, seinen Oberkörper in klare Sehachsen zu positionieren und ihn so als Waffe der Unverfrorenheit (Pickup on South Street, Night and the City, Madigan) und Arroganz (The Bedford Incident, Coma) oder als Bollwerk gegen einen Ansturm von Neurotikern (The Cobweb) einzusetzen. Doch sein größtes Kapital neben seiner Stimme stellte sein Gesicht dar, das wie geschaffen für Nahaufnahmen war. Die Eröffnungssequenz von Pickup on South Street ist ein Wunderwerk, im Lauf der Close-ups zwischen Widmarks Taschendieb und Jean Peters‘ ahnungslosem Kommunistenliebchen heizt er hinter vorgespielter Lässigkeit eine subtile erotische Spannung an und bleibt dabei die ganze Zeit über auch noch darauf konzentriert, ihr die Brieftasche aus der Handtasche zu entwenden. Als er später von einem Polizisten verhört wird, zieht Widmark nur seine Augenbrauen hoch und sein Gesichtsausdruck wird umwerfend sarkastisch, sein arrogantes Lächeln blitzt in geheuchelter Demut auf.

Als Widmark älter und muskulöser geworden war und die kalifornische Sonne sein Gesicht gegerbt hatte, setzte er die Kombination aus Lächeln/hochgezogene Augenbraue noch wirkungsvoller ein, etwa wenn er in Madigan die Hand nach seiner gelangweilten Frau ausstreckt oder in The Bedford Incident einen Arzt, der ihn sprechen will, herrisch abwimmelt. Über einen Zeitraum von 40 Jahren ergibt sich so ein facettenreiches Porträt des amerikanischen Mannes in der Nachkriegszeit.

Weniger ist mehr

Widmark kam vom Theater, für ihn die einzig wahre Art für Schauspieler, ihren Beruf zu erlernen. „Nirgendwo sonst lernt man schauspielen, nur am Theater. Dort bekommt man eine solide Grundlage. Im Film macht man nicht groß was und ist schon ein toller Schauspieler. Je weniger man tut, desto besser.“ Er begann im College, war kurz Dozent für Dramaturgie, wechselte dann zum Radio und von dort weiter an den Broadway, wo er 1943 bei seinem Debüt in der Produktion von Kiss and Tell seinen ersten Erfolg feierte. Obwohl Widmark das Theater als Übungsfeld schätzte, war es nicht seine große Liebe. „Ich habe es nicht so gern, wenn ich jeden Nachmittag gegen vier langsam nervös werde. Ich hätte es gegen nichts in der Welt eingetauscht, aber genossen habe ich es nicht.“

Seine Filmkarriere begann Widmark mit einem seiner unvergesslichsten Momente, jener Szene, in der er als hämisch psychotischer Gangster Tommy Udo die im Rollstuhl sitzende Mildred Dunnock in Kiss of Death eine Treppe hinunter stößt. „An meinem ersten Arbeitstag musste ich Millie Dunnock die Treppe hinunter stoßen. Es war mein erster Film. Hathaway sagte kein einziges Wort. Er wollte mich bloß loswerden.“ Henry Hathaway fand Widmark nicht richtig für die Rolle, er hätte einen echten Kleinganoven von der East Side namens „Harry the Hipster“ vorgezogen. „Henry wollte mich um keinen Preis. Es war eine sehr kleine Rolle – ich war nur ein paar Tage im Einsatz. In meiner ersten Woche behandelte er mich einfach furchtbar. Am Set war er oft unverständlich. Zum Teil war es wohl Frustration – er konnte den Schauspielern nicht klarmachen, was er von ihnen wollte, und er wurde fuchsteufelswild, sogar alten Freunden gegenüber. Henry blamierte mich vor einem Haufen meiner Freunde, die als Statisten arbeiteten, und so weiter. Und ich sagte mir: Zum Teufel damit. Also schob ich alle beiseite und haute ab. Es war um die Mittagszeit. Ich ging die Straße runter und wollte mit dem Zug heim nach Bronxville – ich hatte die Nase voll vom Film. Henrys Assistent kam mir nachgelaufen und sagte: Komm, Henry möchte mit dir zu Mittag essen. Und ich sagte: Ich will das alles nicht. Ich höre auf. Aber ich ging mit Henry und seinem Assistenten essen, ich saß da, und keiner sagte ein Wort. Es war ein stilles Mittagessen. Und dann gingen wir zurück und machten dort weiter, wo wir aufgehört hatten, und von da an lief es großartig. Henry und ich wurden enge Freunde. Wir drehten sechs Filme miteinander, und ich war einer der Sargträger bei seinem Begräbnis.“

Mach’s nicht noch einamal, Sam

Widmark behauptete, keinen seiner Filme je zur Gänze gesehen zu haben, und als wir die Liste seiner Mitstreiter durchgingen, sprach er mehr über die Menschen als über die Filme. Er erinnerte sich gerne an John Ford, mit dem er bei Two RodeTogether und Cheyenne Autum zusammenarbeitete. „Unter der Oberfläche war er ein komplexer Kerl. Er war durchgeknallt, aber ich konnte ihn gut leiden. Es war knapp vor seinem Tod. Er soff zwei, drei Tage lang durch, und man bekam ihn nicht aus dem Bett. Für Teile von Cheyenne Autumn war er bei klarem Verstand. Für andere nicht.“ Ähnlich nachsichtig empfindet Widmark gegenüber Sam Fuller. „Ich nannte ihn die Grandma Moses des Films. Das meine ich nicht abwertend. Er war schlank, sachlich, irgendwie ungeschliffen, trittsicher, kein Schnickschnack. Er kam von der Zeitung und er machte Filme wie ein Zeitungsmensch. Er hatte die Angewohnheit, jede Szene mit einem Schuss aus seiner Pistole zu starten. Am ersten Drehtag feuerte er also seine Pistole ab, und ich sagte: Hey, Sam… Er machte es nie wieder. Ich hatte Sammy gern.“ Dass Widmark The Cobweb nicht besonders mochte, tat seiner Wertschätzung für Vincente Minnelli keinen Abbruch. „Minnelli war ein guter Regisseur, ein extrem penibler Regisseur. Er konnte stundenlang überlegen, wo ein Feuerzeug liegen sollte.“ Wen Widmark in gewisser Weise am meisten bewunderte, war Darryl F. Zanuck. „Er war ein schlauer Produzent. Ein zäher Knochen, aber er war schlau. Er liebte Schriftsteller, hatte einen Narren an ihnen gefressen. Er wusste wirklich, was er tat. Er war ein sehr guter Filmemacher. Ein Meister am Schneidetisch.“

Präsidenten-Rätsel

„Ich werde ehrlich zu Ihnen sein“, gestand Widmark. „Filme langweilen mich mittlerweile. Ich werde unruhig. Ich möchte heim. Es gibt nur sehr wenige Filme, die mich fesseln.“ Die Lust am Schauspielen verließ ihn nach dem Tod seiner Frau Jean Hazlewood, mit der er 55 Jahre verheiratet gewesen war (seine zweite Frau war Susan Blanchard, eine langjährige Freundin der Familie und Exfrau Henry Fondas). Von seiner Karriere erzählte er mit Wärme und Gelassenheit. Am lebhaftesten wurde er, als wir auf das Thema Politik zu sprechen kamen. Dem lebenslangen Liberalen („Ich war nie ein richtiger Aktivist – ich reiße bloß mein Maul auf.“), war die massive Popularität Ronald Reagans nach wie vor unerklärlich: „Als ich ihn kannte, war er ein umgänglicher, langweiliger Kerl. Jetzt ist er eine Ikone. Es ist unglaublich.“ Und wie halb Amerika war ihm Reagans geistiger Erbe, unser jetziger Präsident, ein noch größeres Rätsel.

Als wir Widmark beim Abschied sagten, wie sehr wir seine Arbeit lieben, wirkte der alte Profi ehrlich überrascht. „Gee! Da bin ich aber froh, dass ich zu diesem Essen gekommen bin.“ Diesem bescheidenen Midwesterner, der fast ein halbes Jahrhundert lang im Stillen brillante Arbeit leistete, war es vielleicht nicht bewusst, aber ohne ihn wäre das amerikanische Kino nicht dasselbe gewesen.