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Wilde unschuld

| Julia Kopetky |

Psychogramm einer fatalen Mutter-Sohn-Beziehung im Jetset-Milieu.

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Savage Grace ist die wahre Geschichte der Familie Baekeland, allen voran Barbara Baekeland. Ihre Heirat mit Brooks, dem Enkel und Erben des Plastikerfinders Leo H. Baekeland katapultiert die aus einfachen Verhältnissen stammende Barbara Daly in die illustren Kreise des internationalen Jetsets. Die Liebe zu Brooks erkaltet rasch, umso enger und obsessiver entwickelt sich Barbaras Beziehung zu ihrem einzigen Sohn Anthony. Eine Beziehung, die schließlich in der völligen Zerstörung beider endet. Regisseur Tom Kalin spürt in Savage Grace einer Tragödie von klassischem Ausmaß nach, einer Geschichte von Betrug, Selbstmord, Inzest und Mord, wie sie Sophokles kaum besser hätte schreiben können. Es ist eine im 20. Jahrhunderts angesiedelte Tragödie, die Helden und Halbgötter sind die glücklosen Reichen und Schönen, die sich zwischen Paris, New York und Mallorca die Zeit in Luxus und Dekadenz vertreiben. Ihr Scheitern ist tragisch und unausweichlich – aber mit Stil.

Die Geschichte setzt ein, als der Ich-Erzähler Anthony wenige Monate alt ist, im New York der Nachkriegszeit. Die Eiseskälte zwischen den beiden Ehepartnern ist bereits in den ersten Szenen deutlich spürbar. Brooks ist ein Versager, der es trotz vieler Talente zu nichts gebracht hat, und Barbara ein ewiges Kind, verwöhnt, narzisstisch und selbstverliebt – Mittelpunkt eines Universums, in dem sich alles nur um sie dreht. Die unbedingte Liebe, die Barbara nicht von Brooks erhält, holt sie sich schließlich von Tony. Die emotionale Isolation der Charaktere, ihre völlige Unfähigkeit, wahre Gefühle zu zeigen und miteinander zu kommunizieren, stehen im krassen Gegensatz zur warmen, von Licht durchfluteten Atmosphäre des Films, der größtenteils an Schauplätzen in und um Barcelona gedreht wurde. Kameramann Juanmi Azpiroz erschuf Bilder von mediterraner Leichtigkeit und Schönheit, die indes die Grausamkeit der Geschichte noch verstärken.

Julianne Moore beweist in der Rolle der Barbara einmal mehr, dass sie zu den führenden Schauspielerinnen unserer Zeit zählt. Sie zeigt eine charismatische Frau, die – wie im Originaltitel angedeutet – von „wilder ungezähmter Anmut“, aber auch verletzlich, zutiefst verunsichert und unendlich einsam ist. Sie ist starr vor Angst: vor Angst, verlassen zu werden, Angst, nicht geliebt zu werden. Man könnte Barbara Baekeland fast bemitleiden, würde sie sich nicht auf so ungeheuerliche Weise an ihrem Sohn vergehen.