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Dossier – Das große Unbekannte

Das große Unbekannte

| Andreas Ungerböck |

Der indonesische Film boomt, zumindest in der Heimat. Billige Horror- und formelhafte Teenie-Filme machen auch hier das meiste Geld an den Kinokassen. Das war nicht immer so, und die Hoffnung lebt, dass auch ein „anderes“ indonesisches Kino zunehmend Gehör findet.

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Was weiß man eigentlich von Indonesien? Als ich vor vielen Jahren auf dem Flughafen Frankfurt mit einem netten Mitwartenden sprach, dem ich gesagt hatte, ich würde nach Indonesien fliegen, meinte dieser: „Ich nicht, ich fliege nach Bali.“ Es bedurfte erst der „Bali Bombings“ einer der Al-Kaida nahe stehenden islamistischen Gruppe im Oktober 2002 und des Tsunami, der weite Teile der nördlichen Provinz Aceh im Dezember 2004 in Trümmer legte und rund 180.000 Indonesier das Leben kostete, um das Land in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit zu rücken. Dabei ist Indonesien der größte Inselstaat der Erde, besteht aus mehr als 17.000 Inseln und wird von 225 Millionen Menschen (Tendenz: stark steigend) bewohnt. Das ist immerhin die viertgrößte Bevölkerung der Erde, und 88% davon bekennen sich zu einem mehr oder weniger gemäßigten Islam. Man kann Indonesien daher mit Recht als das größte islamische Land der Welt bezeichnen. Der Großraum Jakarta gehört mit rund 19 Millionen Menschen zu den größten städtischen Ballungszentren weltweit, auch hier ist, wenn die Landflucht weiter anhält wie bisher, der Plafond noch lange nicht erreicht.

Filmen im Verborgenen

Gemessen an diesen brisanten geopolitischen Tatsachen, ist von Indonesien im Westen bzw. Norden tatsächlich wenig bekannt. Der Film, üblicherweise ein ideales Transportmittel, um solche Defizite zu beheben, leistet hierbei – vor allem in Anbetracht der Größe des Landes – erstaunlich wenig. Praktisch alle südostasiatischen (Nachbar-)Staaten, sieht man von Myanmar, Laos und Kambodscha ab, die weiß Gott andere Sorgen haben, sind ungleich präsenter im Weltkino als das gigantische Indonesien; seit einer „Informationsschau“ im Februar 1982 (!) bei der Berlinale gab es keine nennenswerte Retrospektive bei einem bedeutenden Filmfestival; indonesische Filmschaffende – mit der Ausnahme von Garin Nugroho (siehe das Porträt auf den nächsten Seiten) – sind so gut wie unbekannt. Die Freunde des Trash, denen wir so wichtige Entdeckungen wie die des philippinischen Horrorfilms der Siebziger Jahre oder der thailändischen Transgender-Komödie der späten Neunziger verdanken, können offensichtlich mit Indonesien nichts anfangen. Das Far East Film Festival in Udine, das verdienstvollerweise erkannt hat, dass in Asien beileibe nicht nur fein gedrechselte Arthouse-Filme für den Westgeschmack produziert werden, schweigt. Es gibt einen einzigen relevanten internationalen Film, der Indonesien als Schauplatz hatte: Peter Weirs The Year of Living Dangerously (1982), mit Mel Gibson, Sigourney Weaver und Linda Hunt, die für ihre Rolle als männlicher Kleinwüchsiger immerhin mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Weir schildert eine konventionelle Liebesgeschichte zwischen einem australischen Journalisten und einer britischen Botschaftsangehörigen vor dem brisanten Hintergrund des (vom Militär behaupteten) kommunistischen Putsches gegen das Soekarno-Regime am 30. September 1965. Gedreht wurde der Film, dessen Aufführung in Indonesien bis 1999 verboten war – auf den Philippinen.

Es ist, um es klar zu sagen, ein Rätsel. Denn indonesische Filme sind natürlich nicht schlechter als vergleichbare Produkte aus Vietnam, den Philippinen oder Malaysia (das allerdings ein ähnliches Schicksal teilt). Indonesische Schauspielerinnen und Schauspieler spielen nicht anders und nicht schlechter als ihre Kolleginnen und Kollegen anderswo in Asien. Die Filmausbildung, zumeist am Jakarta Institute of Arts, in dem in den letzten Jahren nicht weniger als 300 (!) Filmemacher ihr Studium abschlossen, kann sich mindestens genauso sehen lassen wie die in, sagen wir, Bangkok.

Diktatur und Blütezeit

Nach der Befreiung von den Japanern, die im Zweiten Weltkrieg eingefallen waren, und der endgültigen Unabhängigkeit von den Holländern, die in Indonesien eine Schreckensherrschaft errichtet hatten, übernahm Achmed Soekarno 1949 das Präsidentenamt, das er – zunehmend diktatorisch – bis 1967 ausübte. Ihm folgte der skrupellose General Soeharto, der bis 1998, als das Land buchstäblich ausgeblutet war, an der Macht war. Beide regierten Indonesien mit eiserner Faust und erzwangen einen Zusammenhalt, der weder ethnisch, noch religiös, noch politisch gegeben war. Soeharto ließ hunderttausende Kommunisten und des Kommunismus „verdächtige“ Chinesen abschlachten. Unter seiner Politik der so genannten „New Order“ litten, wenig verwunderlich, Presse- und Redefreiheit. Trotz – oder wegen? – dieser beiden üblen Diktatoren gelten die Fünfziger und die Achtziger Jahre als „Blütezeit“ des indonesischen Kinos. Die Filme der Fünfziger befassten sich vornehmlich mit den Jahren des Unabhängigkeitskampfes, soDarah dan doa (Blood and Prayer, 1950) oder Enam jam di yogya (Six Hours in Jogja, 1951), beide von Usmar Ismail. Politische Turbulenzen sorgten immer wieder für Beunruhigung, so nach den Wahlen 1955. Die Filmproduktion sank binnen eines Jahres von 65 Filmen jährlich auf bloße 14, während 400 Filme aus Indien und mehr als 250 aus Hollywood importiert wurden.

In den Siebziger und Achtziger Jahren beeindruckten die Filme von Teguh Karya, der, wie viele andere indonesische Filmschaffende, vom Theater kam. Karya setzte sich immer wieder auch, im Rahmen der Möglichkeiten, mit ethnischen Spannungen und Fragen der Identität auseinander, so inDoea tanda mata (Mementos, 1984) und Ibunda (Mother, 1986). Ein anderer wichtiger Regisseur der Zeit war Sjumandjaya, der schon mit seinem Debütfilm Lewar jam malam (After Midnight, 1971) soziale Fragen anschnitt. Kerikil-kerikil Tajam (Sharp Pebbles, 1984), der heuer in einer restaurierten Fassung (eine Rarität in der noch jungen Archivarbeit in Indonesien) beim Festival in Singapore zu sehen war, kritisiert in recht poppigem Gewande den zunehmend negativen Einfluss von Geld und wirtschaftlicher Spekulation auf die „intakten“ Dörfer; im Gegenzug erleben zwei junge Frauen aus dem Dorf (eine davon dargestellt von Indonesiens späterer Starschauspielerin Christine Hakim), die in die Großstadt Jakarta abwandern, den dortigen brutalen Überlebenskampf und den dumpfen Sexismus ausbeuterischer Arbeitgeber. Ähnlich drastisch formulierte Sjumandjaya (ein Künstlername, gebildet aus Vor- und Nachname) in seinem letzten Film, Opera Jakarta (1986), auf dessen Titel Garin Nugroho in seiner Mozart-ParaphraseOpera Jawa (2006) Bezug nimmt.

Ein Grund für die Hochblüte der Achtziger mag in der seinerzeitigen Beschränkung von Filmimporten gelegen haben – sowohl indische, vor allem aber US-Filme hatte man ab 1972 einer Quote unterworfen. Als um 1988 die Amerikaner, wie in anderen asiatischen Ländern auch, auf die Beendigung der protektionistischen Maßnahmen drängten, musste die Regierung nachgeben, nicht zuletzt, weil sie Einfuhrbeschränkungen für indonesische Waren, darunter Rattan, in die USA zu befürchten hatte. Das Resultat war niederschmetternd: Das Interesse des Publikums wandte sich, wie nach langer Dürre, abrupt den Hollywood-Erzeugnissen zu; die nationale Produktion geriet ins Hintertreffen; sie fiel von 73 (1975) auf 62 (1985), um 1995 mit 30 Filmen einen vorläufigen Tiefpunkt zu erreichen. Die Neunziger gelten (siehe auch weiter hinten) als die „bleierne Zeit“ des indonesischen Kinos, auch wenn zu Beginn des Jahrzehnts mit Garin Nugroho jener Mann auftrat, dem man zu Recht die Rolle des Pioniers des „New Indonesian Cinema“ zuerkennt. Wachsende politische Spannungen, der vermehrte Widerstand gegen die umfassende Korruption und die Unterdrückung durch das Soeharto-Regime, die allgegenwärtige Zensur durch die BSF (Board of Film Censorshop), deren Richtlinien 1977 und 1980 nochmals verschärft worden waren, machten der Filmproduktion zusätzlich zu schaffen.

Neubeginn und Horrorfilm

Die Neunziger Jahre brachten letztlich aber auch das Ende der schrecklichen Soeharto-Ära; im Zuge seiner erzwungenen Abdankung im Mai 1998 kam es erneut zu heftigen politischen Unruhen. Das, was seither unter dem Begriff „Reformasi“, das Zeitalter der Reformen, geschehen ist, gilt kritischen Beobachtern als pures Chaos. Im Bemühen um internationale Anerkennung hat die Regierung jedenfalls viele politische und soziale Fesseln gelockert, das berüchtigte Ministry of Information wurde aufgelöst, und auch die Zensur gibt sich deutlich milder. Zugleich veränderte sich mit dem massiven Eindringen moderner Technologien (Kabel- und Satelliten-TV, Internet) gerade auf dem Mediensektor viel zum Positiven. Auch zahlreiche neue Printmedien entstanden. Der Kinostruktur hat die bunte Vielfalt, wie anderswo auch, eher geschadet als genützt; in dem ganzen riesigen Land gibt es nur noch 600 Kinos, von denen 400 unter dem Dach der 21 Cineplex Group firmieren. Die Dorfkinos sind so gut wie ausgestorben; allenfalls versammelt man sich in sehr einfachen Hütten zum gemeinsamen Anschauen von (raubkopierten) DVDs und VCDs.

Die Filmindustrie hat eine Weile gebraucht, um auf die stürmischen Veränderungen zu reagieren. 2002 wurden nur noch 17 Filme produziert, 2003 gar nur 12. Vornehmlich junge Filmemacher aber erkannten die Chancen, die sich durch den einfacheren Zugang zu den Produktionsmitteln und zu schnellem Kapital von risikobereiten Investoren sowie durch die internationale Vernetzbarkeit ergeben. Heute boomt das indonesische Kino wie in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts, wenn auch ohne dessen soziale und politische Relevanz. Aktuell werden, so beklagen indonesische Experten, darunter der Filmjournalist und UNESCO-Beauftragte in Jakarta, Arya Gunawan, nach denkbar einfachsten Strickmuster Horrorfilme, Teenie- und andere Komödien am Fließband hergestellt – mit knackigen Titeln wie The Crawling Nurse (Sister Ngesot), Ghost With a Hole (Legenda Sundel Bolong), Casablanca Tunnel (Terowongan Casblanca), und, besonders hübsch, Sorry, I Made Your Wife Pregnant (Maaf, Saya Menghamili Istri Anda). Erfolge wie The Chanting (Kuntilanak) ziehen, erwartbar, mehrere Fortsetzungen nach sich, aber auch Kassenschlager der Vergangenheit, wie die Komödie Nagabonar (Regie: MT Risyaf, 1987), erfahren späte Sequels: „Die Entwicklung des indonesischen Films ist 2007 immer noch enttäuschend“, schreibt Gunawan in seinem Jahres-Resümee, „es gibt keinen Fortschritt im künstlerischen Ausdruck, in der Erzählweise, bei den Genres und Themen. Besonders in diesen beiden Bereichen ist die Veränderung eher eine zum Schlechten. Zehn Jahre sind seit dem Beginn der Reform-Ära vergangen, aber die Entwicklung der Themen ist zum Stillstand gekommen. Horror dominiert noch immer (rund 40% der indonesischen Filme 2007 sind Horrorfilme), neben Teenie- und romantischen Komödien.“

Das Publikum ist überwiegend sehr jung (wie die Darsteller der Filme, die sie sich ansehen) und urban; abends will man sich, wie im Nordwesten auch, vor allem amüsieren und/oder wohlig gruseln. Es teilt die Enttäuschung Gunawans nicht und bescherte den 53 indonesischen Filmen des Jahres 2007 einen satten Marktanteil von rund 55%. Schon zu Beginn des Jahres 2008 waren 78 neue Titel angekündigt, davon nicht weniger als 37 Horrorfilme.

New Indonesian Cinema

Gegen Ende der Soeharto-Ära bekam Garin Nugroho endlich Unterstützung. Sein Regieassistent Riri Riza drehte gemeinsam mit Rizal Mantovani und den beiden Frauen Nan T. Achnas und Mira Lesmana den Episodenfilm Kuldesak(nicht zufällig nach dem Polanski-Film benannt, nicht zufällig auch hieß die Produktionsfirma Day for Night nach dem englischen Titel von Truffauts La Nuit americaine). Gearbeitet wurde an Kuldesak schon vor Soehartos Sturz, präsentiert wurde er aber erst 1999. Er ist nicht rundum gelungen, aber er zeigt das Leben, Lieben, die Parties, aber auch die Selbstzweifel einer privilegierten Schicht von jungen Leuten in Jakarta. Er gilt nicht zu Unrecht als Motor des „New Indonesian Cinema“, dem zumindest Riza, Achnas und Lesmana treu geblieben sind. Mantovani ist heute Regisseur der Blockbuster-Horror-Serie Kuntilanak (siehe oben), aber die anderen drei behaupten sich nun schon seit Jahren als Regisseure/Produzenten von respektablen, gelegentlich etwas schwerfälligen Filmen wie hhhhh und The Photograph(Achnas) bzw. Eliana, Eliana, Gie und Three Days to Forever(Riza). Mira Lesmana hat sich auf die Produktion (vornehmlich von Rizas Filmen) verlegt.

Und ihr Engagement ermutigt auch andere: Mit Mereka bilang, saya monyet! (They Say I’m a Monkey) legte die bekannte Autorin Djenar Maesa Ayu Ende 2007 die bemerkenswerte Verfilmung zweier autobiografischer Kurzgeschichten vor, in denen sie mit ihrer dominanten Mutter bzw. deren Liebhabern, die sie als Kind missbraucht und verängstigt haben, abrechnet. Der Film, angesiedelt in der gebildeten, westlich orientierten Upper Class von Jakarta, wirbelte einigen Staub auf, zumal Djenars Mutter eine bekannte Sängerin ist (ihr Vater war übrigens der bereits erwähnte prominente Regisseur Sjumandjaya, der starb, als sie sieben Jahre alt war).

Auch drei Veteranen schöpften neuen Mut: Eros Djarot, Gotot Prakosa und Slamet Rahardjo, allesamt seit vielen Jahren im Filmbusiness tätig, überarbeiteten ihren Film Kantata Takwa(1992) in einer Art Remix zu einer visuell und intellektuell überwältigenden Anklage gegen das korrupte Soeharto-Regime. Zu psychedelisch anmutenden Sequenzen von Polizeigewalt und Unterdrückung mischen sie Szenen von einer Art „Woodstock“ im Jahre 1991 im größten Stadion Jakartas, bei dem populäre Rocksänger und Dichter wie Iwan Fals oder W. S. Rendra den Diktator und seine Filzokratie vehement attackierten. Gezeigt werden konnte das Material vorher nie. Mit dem Abstand der Jahre entstand ein einzigartiges Zeitdokument mit visionärer Kraft – letztlich der ultimative Beweis dafür, dass das indonesische Kino seiner Entdeckung harrt.