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Dossier – Geschichten von der Freiheit

Geschichten von der Freiheit

| Philip Cheah |

Garin Nugroho, dessen Film „Opera Jawa“ 2006 Teil des Mozart-Projekts New Crowned Hope war, gilt als Pionier des New Indonesian Cinema, das seit einigen Jahren versucht, dem schnellen Glück an der Kinokassa substanzielle Inhalte und formale Innovation entgegenzustellen. Ein Porträt.

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Als Garin Nugroho 1996 bei der Berlinale seinen dritten Spielfilm Bulan tertusuk Ilalang (And the Moon Dances) präsentierte, konnte er damit nicht nur die internationale Filmkritik (FIPRESCI), sondern auch ihr asiatisches Pendant (NETPAC) überzeugen. Nugroho hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Filme vorgelegt, die mehrere Auszeichnungen erhalten hatten, und war gerade im Begriff, in den Augen der Welt Indonesiens führender unabhängiger Filmemacher zu werden. Für sein Debüt Cinta dalam sepotong roti (Love on a Slice of Bread, 1991) wurde er immerhin beim National Film Festival von Jakarta für den Besten Film und beim Asia Pacific Film Festival als Bester Jungregisseur ausgezeichnet, sein zweiter Film Surat untuk bidadari (A Letter to an Angel, 1993) verdankte seine Prämierungen bei den Festivals von Tokyo und Taormina keinen Geringeren als Quentin Tarantino und Roger Corman. Nach Erhalt der beiden Preise in Berlin schwebte Nugroho also tagelang auf Wolken – bis er auf den Boden der Realität zurückgeholt wurde: A Letter to an Angel war in seiner Heimat Indonesien wider Erwarten nicht in die Kinos gekommen. Für den aufstrebenden Regisseur eine riesige Enttäuschung. Und zudem hatten die Kritiker der Massenblätter seinen Film als „undurchsichtig“ verrissen und Nugroho angeraten, zurück auf die Filmhochschule zu gehen.

Leben und Tod

Diese Kritiker hatten natürlich Unrecht. Garin Nugrohos Filme sind visionär. Als Verfechter eines kulturellen Pluralismus hat er vom ersten Spielfilm an all seine Filme in verschiedenen indonesischen Sprachen gedreht. Bemerkenswerterweise arbeitet er bei jedem Film mit einer anderen Crew und hat auf diese Weise bislang fünf Kameraleute entdeckt, die sich bei ihm ihre ersten Sporen verdient und in der Folge Karriere gemacht haben. Nugroho spielt auf lange Sicht, denn: „Wir müssen diesen Moment nutzen, es hat lange gedauert, diese Gruppe junger Filmemacher aufzubauen. Ich möchte eine breite Basis an Talenten für ein neues indonesisches Kino schaffen, weil ich überzeugt bin, dass neue Leute die Energie einbringen, neue Themen frisch anzupacken. Meine Filmcrew, bei vergangenen und neuen Projekten, ist immer eine Gemeinschaft. Alle steuern Mittel bei und arbeiten im Großen und Ganzen unentgeltlich. Wenn ich einen Film mache, habe ich drei Ziele vor Augen – ich will mich, meine Kultur und meine Träume zum Ausdruck bringen.“

Nugrohos Filme sind im Grunde persönlich. In And the Moon Dances spiegelt sich seine javanische Kultur wider. In diesem Film geht der junge Komponist Ilalang zu Waluyo, einem Meister in den klassischen javanischen Künsten, um von ihm zu lernen. Er verliebt sich in Bulan, die Tanz studiert. Doch sie können einander ihre Liebe nicht gestehen – Ilalang wegen seiner ödipalen Kindheit und Bulan, weil sie in der traditionellen Kunst einen Ausweg aus ihrem Yuppie-Leben sucht. In einer Schlüsselszene, die ihre unterdrückte Liebe veranschaulicht, legt Ilalang seinen Finger unter die Nadel von Bulans Nähmaschine, dreht an der Kurbel und durchbohrt ihn. Sie ergreift seine Hand und beschmiert ihren Mund mit seinem Blut. In einer späteren Szene wird Bulans Niedergedrücktheit dadurch offenbar, dass sie geistesabwesend ihre Finger zusammennäht, ohne dabei Schmerz zu empfinden. Diese Szenen entstanden ohne Spezialeffekte. „Bei der Geburt fließt Blut“, sagt Nugroho. „Es fließt Blut bei der Menstruation. Blut ist ein starkes Symbol für unser Leben und es kann auf vielfache Art und Weise interpretiert werden. Es bedeutet Leben und es bedeutet auch Tod. Es ist wie die traditionellen javanischen Tänze, bei denen die Tanzenden eine Waffe tragen. Es ist Schönheit und Gefahr zugleich. Den Bedoyo Ketawang Tanz dürfen die Tänzerinnen nicht tanzen, wenn sie ihre Monatsblutung haben. Die Metaphorik des Blutes weckt Assoziationen mit Sinnlichkeit und Gewalt. Für mich symbolisiert die Getragenheit der Tänze lauernde Gefahr. Doch Gewalt ist nur ein Aspekt, Blut spielt bei vielen religiösen Ritualen eine Rolle als einendes Element.“ Wie A Letter to an Angel beinhaltet auch And The Moon Dances Dokumentarfilmmaterial. Die Tänze sind echt. Auch Meister Waluyo spielt nicht. „Er hatte keine geschriebenen Dialoge“, erzählt Nugroho. „Die poetischen Worte strömten einfach aus seinem Mund, während die Kamera lief.“ And The Moon Dances lässt einen nicht los, weil Nugroho das Spiel der Gegensätze meisterhaft beherrscht. Weil er die Welt in ihrer Dualität wahrnimmt. Zwischen Dokumentation und Fiktion, zwischen Ruhe und Gewalt, zwischen Anmut und Gefahr. Deshalb scheint der Film auch kein Ende zu haben. Die Liebe zwischen den beiden wird nicht vollzogen. Ilalang hat seine Studien nicht abgeschlossen. Er zieht weiter. „Ilalangs Reise symbolisiert, dass er sein Trauma noch nicht überwunden hat“, so Nugroho. „Wir alle haben Verletzungen, über die wir nicht leicht hinwegkommen.“

Vielleicht geht es um Nugrohos eigene permanente Reise. Obwohl er ausgebildeter Rechtsanwalt ist („Ich habe aufgehört zu praktizieren, weil die Arbeit nichts mit dem Gesetz zu tun hatte.“), wurde er Filmemacher, um Kultur vermitteln zu können. Als Vize-Dekan des Jakarta Institute of the Arts findet Nugroho seine Mitarbeiter häufig unter seinen Studenten. Bis dato hat er 20 Dokumentarfilme – darunter eine beißende Kritik an Jakartas verschmutztem Flusssystem in Air dan romi (Water and Romi, 1991), mit der er sich Schikanen der Polizei einhandelte – und zahlreiche Musikvideos gedreht. In einer unsicheren Filmindustrie überlebt Nugroho dank lukrativer Werbeaufträge, mit denen er seine unabhängigen Filme finanziert. Aber sein Optimismus ist ungebrochen. Das spürt man in seinen Filmen. Seine Bulan aus And the Moon Dances ist interessanterweise eine Karrierefrau, die versucht, einen Teil von sich in der Rückbesinnung auf die traditionelle Kunst wieder zu finden. Nugroho erklärt es so: „Sie verkörpert die Hoffnung, dass eine neue Kultur entstehen wird.“

Realität und Fiktion

Seinen Platz in der Geschichte hat Nugroho als Bindeglied zwischen dem Mainstream Kino der repressiven Suharto-Ära und dem New Indonesian Cinema, das mit dem Niedergang des korrupten Suharto-Regimes aufkam. Nach Jahren allein an dieser Front gesellte sich 1998 mit dem Episodenfilm Kuldesak endlich eine Gruppe von vier jungen Filmemachern, Nan T. Achnas, Mira Lesmana, Rizal Mantovani und Riri Riza, zu ihm. Riri Riza war Nugrohos Regieassistent gewesen, und Nugroho hatte maßgeblichen Anteil an der Realisierung des Projekts.

Während sich das New Indonesian Cinema etablierte, verfolgte Nugroho mit seinen Filmen weiterhin den sozial orientierten, multikulturellen Weg, den er sich gesteckt hatte. Die Semi-Doku Daun di atas bantal (Leaf on a Pillow, 1997) über die Straßenkinder von Jogjakarta entstand als Fortsetzung der Dokumentation Dongeng kancil untuk kemerdekaan (Kancil‘s Tale of Freedom, 1995), die den Alltag einer Bande von Straßenkindern zeigt – wie sie Klebstoff schnüffelt, in Hungerzeiten füreinander sorgt und damit fertig wird, dass ihre Familien sie im Stich gelassen hat. Kancil‘s Tale of Freedom ist Nugrohos bester Dokumentarfilm und lässt dank der Nähe zwischen dem Regisseur und den Kindern ungeschönt mitten ins Herz indonesischer Armut blicken. Leaf on a Pillow holt einige dieser Kinder wieder vor die Kamera, erzählt jedoch eine fiktionalisierte Geschichte ihres Lebens.

Puisi tak terkuburkan (The Poet, 1999) ist ebenfalls eine Doku-Fiktion, allerdings ist hier das dokumentarische Element stärker als die Fiktion. Basierend auf den Lebenserinnerungen des Didong-Dichters Ibrahim Kadir, der sich im Film selbst spielt, konzentriert sich die Geschichte auf ein Gefängnis, in dem über eine halbe Million Achinesen während der Kommunistenverfolgung hingerichtet wurden, die Präsident Suharto nach seiner Machtübernahme im Jahr 1965 anzettelte. Da Cast und Crew zum Großteil aus Aceh stammten, war der Dreh eine extreme Erfahrung für das gesamte Team, das schmerzliche Erinnerungen neu durchlebte. Mit Aku ingin menciummu sekali saja (Bird Man Tale, 2002), dem ersten indonesischen Film, der in Irian Jaya (West Papua), einer Provinz, die seit 1963 unter indonesische Herrschaft steht, gedreht wurde, kehrte Nugroho zum kulturellen Pluralismus zurück: Gefilmt im Jahr 2001, um die Massendemonstrationen für Papuas Unabhängigkeit von Indonesien zu dokumentieren, hat der Film schon dadurch starken Symbolcharakter, dass nur ein einziger seiner Schauspieler Indonesier ist. Zum ersten Mal wird hier die Mehrheit zur Minderheit in der Vielfalt der Stimmen für die Unabhängigkeit reduziert.

Mitten im Klima von 9/11 und dem Bombenanschlag von Bali im Jahr 2002 offenbart Nugroho mit Rindu kami padamu (Of Love and Eggs, 2004) das menschliche Gesicht des Islam. Erzählt aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen zeigt der Film mit leisem Humor, wie Indonesier gegen ihre eigene Religion aufbegehren und religiöse Toleranz leben. Angesichts der Stereotypisierung des Islam durch den Krieg gegen den Terrorismus will Nugroho uns mit diesem Film sagen, dass diese Religion nicht so monolithisch ist, wie man uns gerne weismacht – die Kinder wissen das. Opera Jawa (2006), in Auftrag gegeben von den Organisatoren des Mozartjahrs in Wien, bedeutete einen großen stilistischen Aufbruch für Nugroho. Unter Einsatz von Hunderten von Künstlern und Darstellern ist der Film eine Interpretation im Geiste Mozarts, die lose auf dem Ramayana Epos basiert und die Dreiecksbeziehung zwischen Setio, seiner schönen Frau Siti und ihrem lüsternen Verehrer Ludiro zu seiner zentralen Geschichte macht. Neben beeindruckenden höfischen Tänzen und zarter Gamelan- Musik besticht Opera Jawa durch die fantastische innovative Verwendung moderner Installationskunst. Zuschauer, die mit den traditionellen indonesischen Formen von Musik und Tanz nicht vertraut sind, mögen den Film vielleicht langatmig finden, doch Opera Jawa ist unbestritten Garin Nugrohos bester Film seit The Poet. Der Film feierte nicht nur Mozarts 250. Geburtstag, sondern auch den von Nugrohos Geburtsstadt Jogjakarta. Kein Wunder also, dass die gesamte künstlerische Community der Stadt an diesem Film mitarbeitete und Opera Jawa als Weltpremiere das erste Jogjakarta NETPAC (Network for the Promotion of Asian Cinema) Asian Film Festivals eröffnete. Ein starkes Signal dafür, dass asiatische Filme, die für Asiaten gemacht werden, auch zuerst in Asien gezeigt werden sollten. Da im Film die alte Sprache Javas gesprochen wird, war Opera Jawa für das Publikum vor Ort in Bahasa [die indonesische Einheitssprache, Anm.] untertitelt worden. Nugrohos neuester Film, Under the Tree, wird noch im Laufe dieses Jahres in die Kinos kommen.