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Funny Games U.S.

Funny Games U.S.

Spiel, Satz und Unentschieden

| Roman Scheiber |

Elf Jahre nach „Funny Games“ legt Michael Haneke die gleiche Falle noch einmal großflächiger aus – und zur gefesselten Hauptfigur wird abermals der Zuschauer. Doch wer hat diesen Schocker wirklich „nötig“? Kann man das doppelbödige Spiel mit Genrekonventionen und deren kalkulierter Brechung überhaupt gewinnen? Funny Games U.S., the next marketing level: ein subjektiver Spielbericht.

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Helle Aufregung herrschte damals in Cannes, 1997, als zum ersten Mal seit 35 Jahren ein Beitrag aus Österreich im Wettbewerb der Filmfestspiele lief. Preise und damit weltweites Ansehen gewann Michael Haneke erst später mit Die Klavierspielerin und mit Caché, doch eine heftige Debatte entfachte der mit seiner Kälte-Trilogie konsequent in Cannes aufgebaute Film-Auteur mit dem als Thriller gehandelten Funny Games schon damals. Zwischen Bewunderung und, etwas häufiger, Polemik schien es in den Reaktionen der Festivalbesucher und Kritiker auf diesen Film nicht viel zu geben. Überdurchschnittlich viele Besucher hatten den Saal schon vor dem Ende verlassen. Diesen, wie auch allen weiteren Zuschauern, die es ihnen später gleich tun sollten, attestierte Haneke, dass sie „den Film offenbar nicht nötig hatten“.

Ob umgekehrt alle, die sitzen geblieben waren, den Film nötig hatten, konnte natürlich nie geklärt werden. Dass die Neuverfilmung durch des Meisters eigene Hand (vergangenen März in ausgesuchten Lichtspielhäusern des nordamerikanischen Marktes verbreitet und zwei Monate später in den deutschen Sprachraum quasi „zurückgeschickt“) die Sache klarer gemacht hat, bleibt anzuzweifeln – unter anderem deshalb, weil Funny Games U.S. einem Shot-by-Shot-Remake sehr nahe kommt: fast die gleichen Einstellungen, nur leicht reduzierte Dialoge, ähnliche Ausleuchtung, selbe Musik. Die Unterschiede sind eher vermarktungstechnischer Natur: Die Ausstattung wurde amerikanisiert, die Stars der Spielmechanik sprechen Englisch. Es interpretieren: Naomi Watts (statt Susanne Lothar) und Tim Roth (statt Ulrich Mühe) das gepeinigte Ehepaar, Michael Pitt (statt Arno Frisch) und Brady Corbet (statt Frank Giering) die Eindringlinge, Devon Gearhart (statt Stefan Clapczynski) den Knaben mit dem Sack über dem Kopf. Es ist eine Kopie der ursprünglichen Erzählung, aber eine offensivere Strategie des inzwischen weltbekannten Filmemachers und der neuen Produzenten: Viel Vergnügen beim torture watch mit Naomi Watts! Das suggerierte die Werbung zum Amerika-Start, und dennoch spielte das Remake auf dem US-Markt von den auf 15 Millionen Dollar geschätzten Produktionskosten nur magere 1,3 Millionen wieder ein. Aus der Sicht des Regisseurs ist das nur ein relativer Misserfolg: Immerhin lockte Funny Games U.S. schon bislang ein Vielfaches mehr Zuschauer in die Kinos als damals Funny Games AUT. Und wenn sein Film diesmal statt der Cannes-Jury die US-Kritik auf die Palme gebracht hat, konnte das kaum einen Branchenkenner überraschen – auch nicht Haneke selbst, der die heftigen persönlichen Attacken einzelner Kritiker durchaus antizipieren durfte.

Wettspiel

Funny Games. Lustige Spiele. Seltsame Spiele. Mann, Frau, kleines Kind, goldiger Hund auf Urlaub im schicken lakeside summer home. Und zwei ungebetene Gäste in weißen Handschuhen, die der Familie unter Vorspielung ausgesuchter Höflichkeit die Hölle heiß machen. Weil die ebenso wohlerzogenen wie mörderischen Rotzbengel Peter & Paul, Tom & Jerry, Beavis & Butthead oder wie auch immer sie einander gerade nennen, in etwa so lustig sind wie ein Anton Chigurh mit seinen Münzwurfspielchen (in No Country for Old Men), kann man vom ironisch gemeinten zum ernsten Wortsinn des Titels übergehen und repetieren: Es handelt sich um ein seltsames Planspiel, simpel aufgefächert in kleinere Einzelspiele. Zuerst dominiert ein Sprachspiel mit bürgerlichen Höflichkeitsfloskeln, unterbrochen von ein paar folgenreichen Golfschlägen und einem Kalt/Warm-Suchspiel (mit einem deutlich beklemmenderen Fund als beim anderen österreichischen Spiel- und Ritenforscher Ulrich Seidl). Bald darauf geht es um eine (scheinbare) Wette samt einseitig auferlegtem Einsatz des Lebens. Ein erzwungener Striptease darf nicht fehlen, und irgendwann bleibt nur noch das besonders grausame Spiel mit der Hoffnung der Opfer übrig. Der Rest ist zynische Lakonie.

Funny Games ist eine Versuchsanordnung, in der dem Zuschauer die Rolle der Laborratte zugewiesen wird, ein Spiel mit den Spannungs-Konventionen des Thrillers und deren je nach Sichtweise radikaler oder plumper Brechung, ein Spiel, bei dem auch elf Jahre später und mit Starbesetzung besonders eine Größe schwer bestimmbar bleibt: Die Differenz von gewünschter und tatsächlicher Wirkung auf das p.t. Publikum.

Neuaustragung

Funny Games U.S., wiederum in blutroten Lettern: Zu Beginn wird in überaus -drastischer Voraus-Symbolik ein Musikstück G.F. Händels von einem Noise-Metal-Thema John Zorns „vergewaltigt“. Im nächsten Morgengrauen steuern die beiden stets blutspritzerfreien Schablonen nihilistischer Poltergeister bereits das Grundstück der nächsten Seebewohner an, von denen sie Eier borgen und Schneid zum Spottpreis abkaufen können. Mittendrin halten die Wohlstandsflegel ihre Zuschauer in aller Überdeutlichkeit dazu an, nicht nach Motiven für die Morde zu suchen: Wir hatten keine schwere Kindheit, wendet sich das eloquente Alphatier Paul direkt zum Publikum, wir nehmen keine Drogen! Er könnte auch sagen: Wir töten, um euch zu unterhalten! Unser Gewissen ist euer Gewissen! Zwischenrufe in die Kamera sind als längst auch im Mainstream angekommene Volten nicht mehr so gewöhnungsbedürftig wie vor zehn Jahren, doch Hanekes Horror ist auch im Wiederholungsspiel als horror vacui gemeint: Diffuse Angst vor der Leere in den Herzen der Täter, die als Platzhalter für die Herzen jener Zuschauer dienen, die den Film „nötig“ haben.

Hanekes „Parodie auf das Thriller-Genre“, wie er selbst Funny Games nannte, könnte man auch mit dem Begriff Anti-Genrefilm versehen. Er trägt das Gewand eines Folterspielfilms mit kalkuliertem Schockwert. Besonders kalkuliert: das Grauen auf der Tonspur, abseits der Kamera. In seinen eigenen Worten verfährt Haneke wie folgt mit dem Kinobesucher: „Ich mache den Zuschauer erst zum Komplizen der Täter und werfe ihm das dann vor, damit der fühlt, wie manipulierbar er ist, aus welchem bezahlten Selbstbetrug er sein voyeuristisches Vergnügen zieht.“ (Zitat aus: Michael Haneke und seine Filme. Eine Pathologie der Konsumgesellschaft, Schüren Verlag.) Wer da der Betrüger ist, könnte man fragen, aber auch eine ganze Menge anderer Fragen stellen: Lassen sich überhaupt irgendwelche Zuschauer mit Gewalt dazu erziehen, Thriller mit unrealistischen, seriellen, „konsumierbaren“ Gewaltdarstellungen in Hinkunft abzulehnen? Und wenn ja, wer sind eigentlich die Eleven dieser imaginären Schule?

Fragespiel

Sind es wir Medienkonsumenten, die wir zum Beispiel in dem von vielen Medien als „Inzest-Drama“ verharmlosten Fall von Amstetten nur zu gern die psychotische Abweichung eines Einzelnen erkennen möchen? Sind es jene, die sich mehr um das Image Österreichs als um die Zukunft der Opfer sorgen? Wer hingegen brav darüber nachdenkt, ob hier ein Familienvater die grausamste Form einer Leibeigenschaft exerzierte, deren Grundstruktur womöglich auch in „normalen“ Segmenten der Gesellschaft auffindbar wäre: Darf der abends zur Entspannung zum x-ten Mal Arnie schauen?

Und wer den Fernsehbildfabriken nicht mehr traut, deren unaufhörlicher, oberflächlicher, zeitraubender Amok-, Terror- und Katastrophen-Flow bloß von Werbe-Inserts und Show-Streaming unterbrochen wird: Ist das ein Musterschüler der Class of Funny Games ’97? Oder gehören dazu nur Zuschauer, die allerorten strukturelle Gewalt auszumachen in der Lage sind, weil sie, geschult von Professor Haneke, genauer hinschauen können? Haben wir die Prüfung erst summa cum laude bestanden, wenn wir uns etwa im jüngsten Fall einer Familien-„Selbst“-Auslöschung keineswegs mit einem vom Täter selbst formulierten und nicht einmal semiplausiblen Motiv beruhigen, nämlich, dass dieser seiner Familie die Schmach des durch seine Börsenglücksspiele verursachten Privatbankrotts ersparen wollte? Und welche Muster gelinderer Konfliktscheue, psychosozialer Problemlagen und Kommunikationsmissstände in abertausenden anderen Familien oder auch Firmen sollten wir auf gar keinen Fall ausblenden, um den nicht geringen moralischen Ansprüchen des Kassandrarufers mit dem breiten Dialekt zu genügen?

Spielverständnis

Michael Haneke, das muss man ihm zu Gute halten, beschäftigt sich in vielen seiner Kinofilme (insbesondere Der siebente Kontinent, Bennys Video, 71 Fragmente, Wolfzeit) mit dem Humanitären solcher Situationen. Was Massenmedien als Ausnahmezustand verkaufen, darin sucht er das Gewöhnliche, sieht er Elemente des Regelfalls. Von der anderen, von der User-Seite her gesehen, weiß Haneke selbst: Wie moralisch verkommen ein Mensch ist, lässt sich an seinem Fernseh- und Gewaltkonsumverhalten allein nicht festmachen. Welche Bilder ihm schaden, welche ihm nützen, was ihm bloß Zeitvertreib ist, hängt auch von individuellen Dispositionen ab, so vorgewärmt, vorgekaut, vorgefühlt und vorgedacht die meisten Fernsehbilder auch sind.

Zum Thema TV-Zerstreuung sagte Haneke im jüngsten ray-Interview (Ausgabe 12/05): „Ein schwer arbeitender Mensch, der abends sein beschissenes Leben vergessen will, hat das Recht auf Abschalten durch Einschalten, keine Frage.“ Wie nötig aber hat so einer Funny Games? Wenn Haneke recht hat mit der Theorie, dass man nicht wissen kann, was man nicht selbst unmittelbar physisch und psychisch erfahren hat, dann schrumpft der Unterschied zwischen seinen „wahren“ und den Gaukelbildern aus der Flimmerkiste gehörig. Und wenn er recht hat, dann ist folgende Einschätzung von Thomas Assheuer in der Zeit so glasklar wie unsinnig: „Wer der langsamen Hinrichtung einer Urlauberfamilie durch zwei bestialische Killer beigewohnt hat, ist von Gewaltfilmen aller Art geheilt. Genau darin bestand die Absicht des Films. Funny Games wollte die Gewaltlust des Kinogängers, seine libidinöse Identifikation mit dem Grauen, denunzieren. Es ist gelungen.“

Regelbruch

Dem Willen Hanekes entspricht dieses Urteil, in seiner Allgemeinheit ist es jedoch ebenso fragwürdig wie die gegenteilige Behauptung, Hanekes Kino sei selbst ein sadistisches (bloß weil es fähig ist, weh zu tun). Der Rezensent wendet seine Deutung auf „den Kinogänger“ schlechthin an. Ob der Kinogänger ein Trash-Junk-Fan ist, der haufenweise torture porn konsumiert (etwa die Saw– und Hostel-Reihe oder Entlegeneres wie Captivity), ob die Kinogängerin Clockwerk Orange verstanden hat oder nicht (Haneke: „Sogar Kubrick, und das war einer der Großen, ist sich mit Clockwerk Orange selbst in die Falle gegangen“); ob einer bar jeder Vernunft die lässige Abfolge kühl inszenierter Gewaltnummern trotz zwischendurch erhobenem Zeigefinger funny oder gar geil findet (das insinuieren einige der Horror-Entertainment-geschulten US-Kritiker); ob der eine die Gewalt kaum erträgt und die andere nicht mit der Nase auf etwas gestupst werden will, was sie längst begriffen hat: Das alles soll keinen Unterschied machen?

Macht es doch: Wer die selbstreferenziell manipulierte Wahrheit eines Spielfilms „nötig“ hat und diesen daher aussitzen soll, kann nicht vom Regiesessel aus beurteilt werden. Dass alle Zuschauer durch einen Gewaltfilm „von Gewaltfilmen aller Art geheilt“ werden, also quasi gewinnen, kann nur ein Prophet behaupten. Die Deutungsmacht der Schiedsrichter überdehnt sich in der Auseinandersetzung mit Hanekes Provokationslust bis zu den Polkappen. Doch so unbefriedigend das sein kann: Manche Spiele enden einfach unentschieden.