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Fussball Fieber Österreich – Infektionskrankengeschichte

Infektionskrankengeschichte

| Mario Sonnberger |

Im Vorfeld der EM mag das Fieber, lodernd und unbezähmbar, wie frisch ausgebrochen erscheinen; tatsächlich ist es – gerade in Wien – ein altes, chronisches Leiden. Spätestens 1894, als mit der Vienna der erste Fußballverein Österreichs gegründet wurde, hatte sich die Stadt damit infiziert. Seither lässt es sie nicht mehr los – zum Glück, denn dadurch kann ihre Krankengeschichte fast lückenlos nacherzählt werden.

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Nicht zu Unrecht steckt das Fieber im Titel der DVD-Box, die das Filmarchiv Austria anlässlich der EURO 08 zusammen mit den Fußballhistorikern Roman Horak, Wolfgang Maderthaner und Helmut Pflügl produziert hat. Fussball Fieber Österreich bringt zum Vorschein, was jahrzehntelang, auf unzählige Filmrollen gebannt, in Regalen verstaut war: die Geschichte des heimischen Fußballs in bewegten Bildern. Die Ausstellung Wo die Wuchtel fliegt, die derzeit im Wien Museum am Karlsplatz von den G’stättn und Stadien der Stadt erzählt, beschreibt die Orte, an denen sich vor mehr als hundert Jahren das Fußballfieber ausgebreitet hat. Fussball Fieber Österreich zeigt die Momente, als die Massen an diesen Orten angesteckt werden. Der Prater, die Hohe Warte, selbst das Stadion Stamford Bridge werden zu Heizkesseln, wenn Sindelar, Ocwirk oder „Bimbo“ Binder ihre Hakerln und Scheiberln vollführen.

Dabei erfolgt die filmische Aufarbeitung der hiesigen Fußballgeschichte keineswegs überhitzt, im Gegenteil. Der Verzicht auf Audiokommentare oder Zusammenschnitte lässt den Fußball über den Bildschirm flimmern, wie man ihn seinerzeit im Lichtspielhaus oder später am Schwarzweißfernseher erlebt hat. Das wirkt aufs Erste mühsam, doch schon nach kurzer Zeit beginnt der Reiz des Originalmaterials den Betrachter in seinen Bann zu ziehen. Stück für Stück wühlt er sich durch Wochenschau-Berichte, Ausschnitte diverser Spielszenen und „Länderwettkämpfe“. Das älteste Dokument, ein ziemlich eindeutig an Charlie Chaplin angelehnter Stummfilm, stammt aus 1922 und ist somit neun Jahre älter als das Wiener Praterstadion, dessen Errichtung eines der ersten filmischen Highlights der DVD ist. Doch auch das Gewusel auf der Hohen Warte, wo sich 100.000 Menschen zu einem Länderspiel versammelt haben, verfehlt seine beeindruckende Wirkung nicht, ebenso wenig wie das „Verbrüderungsspiel“ zwischen Deutschland und Österreich 1938. Amüsant dagegen der Beitrag über die Kicker privat, der Ernst Ocwirk, Alfred Körner und Ernst Stojaspal in ihren Zivilberufen als Tankwart, Museumsbeamter und Sportartikelhändler über die Schulter schaut.

Schmankerl-Kommentare

„Eine Kulturgeschichte des österreichischen Fußballs“ lautet der Untertitel der sorgfältig gestalteten Doppel-DVD-Box. Thematisch sind die Scheiben als Dokumentation des „Rundherum“ beziehungsweise als Länderspielchronik konzipiert, jeweils am Ende gestatten sich die Autoren einen Exkurs. Besonders sehenswert ist das Gespräch mit Otto Pammer, dem ehemaligen Kameramann der „Fox tönenden Wochenschau“ und Gründer der Otto Pammer Filmstudios, der seit jungen Jahren das Fußballgeschehen in Österreich hinter dem Objektiv verfolgt. Denn entsprechend reichhaltig sind die Erinnerungen des 1926 geborenen Filmers. So berichtet er etwa davon, wie ihm einst für ein ganzes Spiel lediglich acht Minuten Band zur Verfügung standen, und welche – heute unvorstellbare – Mühe das Auswechseln der Bänder bedeutete. Gleichzeitig wirft er auch einen Blick zurück auf das Stadion selbst, auf Publikum und Atmosphäre. Bereits 1951 hatte der junge Pammer ein 0:2 der Nationalmannschaft gegen Deutschland zum Anlass genommen, dem Länderspielgeschehen von der Ankunft der Teams über deren Vorbereitung bis hin zum Schlusspfiff ein authentisches Denkmal zu setzen.

Was die Authentizität betrifft, sorgen die Radio- und Fernsehkommentatoren in den Beiträgen für einige Schmankerln. Schon in der Fußball-Steinzeit sind sie unzertrennlich mit dem Geschehen auf dem Platz verbunden, gilt es doch seit jeher, der Zuhörerschaft jenes möglichst bunt und lebhaft zu übermitteln. Von Willy Schmieger, zu Beginn des 20. Jahrhunderts selbst Nationalspieler, der in den 1930er Jahren in bourgeois-ironischer Manier die Spiele des Wunderteams und (in einer Zusammenfassung) sogar sich selbst kommentiert, über Heribert Meisel, der uns durch die Hitzeschlacht von Lausanne begleitet, bis hin zu Edi Finger Sr. sind sie Garanten für leibhaftige Sportberichterstattung. Mit einem Schmunzeln registriert man, dass der gebürtige Kärntner Finger in jungen Jahren, lange bevor er narrisch wurde, insbesondere bei Worten wie „gemächlich“ den südösterreichischen Zungenschlag doch nicht ganz verleugnen konnte.

Abruptes Ende

Edi Fingers Emotionsausbruch und die Bilder von Córdoba markieren auch das chronologische Ende der Kompilation. Der 3:2-Sieg gegen Deutschland ist das letzte Länderspiel, dessen Fernseh- und Radiobericht in die Sammlung aufgenommen wurde, und auf den ersten Blick ein logischer Schlusspunkt. Andererseits vermisst man einen Übergang zur „Zeit danach“, zeigt die Edition doch, dass die österreichische Fußballgeschichte sich gerade durch die Zeit zwischen ihren – vermeintlich oder tatsächlich – größten Erfolgen besonders gut erzählen lässt. Gerade Spiele wie das 9:1 gegen Portugal 1953 oder das 2:2 gegen Ungarn in der WM-Qualifikation 1972 sind das Salz in der Suppe. Mit dem Erfolg in Argentinien zu enden, dessen 30-Jahr-Jubiläum spätestens seit der EM-Gruppenauslosung ohnehin bis zum Überdruss gefeiert wird, wirkt dagegen etwas abrupt.

Gleichzeitig kommt der österreichische Vereinsfußball im Bildmaterial etwas zu kurz. Die Siege der Wiener Austria und Rapids im Mitropa-Cup der 1930er Jahre finden ebenso wie der Finaleinzug der „Veilchen“ im Cupsiegerbewerb 1978 keine Erwähnung. Freilich hätte die Abdeckung des Klubfußballs über mehr als zwei, drei ausgesuchte Wiener Derbys in den 1930ern hinweg den Rahmen der Box wohl gesprengt.

Profunder Blick

Weil man solche Perlen von Dokumenten nicht unkommentiert lassen kann, wartet die Edition mit zwei ausführlichen Booklets auf; zum einen mit allen zur Länderspielchronik gehörenden Details wie Aufstellungen, Torschützen und Einleitungen jeder Nationalteam-Epoche, zum anderen mit einer 30-seitigen Zusammenfassung der kulturellen Historie, vom Kaffeehaus-Kick der frühen Jahre bis hinein in die 1970er-Jahre, in denen Österreich gesellschaftlich enorme Aufholprozesse hinter sich brachte. Dazu kommen Inhaltsangaben und Kommentare zu sämtlichen filmischen Einzelstücken. Fussball Fieber Österreich bietet somit einen profunden Blick auf 90 Jahre Sport- und Filmgeschehen. Mit knapp sechs Stunden Spielzeit nicht das Schlechteste, um die Spannung am Leben zu erhalten, sollten nach der EM alle Fieberträume ausgeträumt sein.

Fussball Fieber Österreich

DVD 1 Roman Horak, Wolfgang Maderthaner (Red.) Eine Kulturgeschichte des österreichischen Fußballs Filmdokumente zur Fußball-/Zeitgeschichte 1922-1965, Gespräch mit dem Wochenschau-Kameramann Otto Pammer, Live-Radioreportagen, Booklet
Laufzeit 148 Minuten (Video), 192 Minuten (Radioton)

DVD 2 Helmut Pflügl (Red.) Vom Wunderteam bis Cordoba – Länderspielchronik
die großen Erfolge der österreichischen Nationalmannschaft von 1923 bis 1978 in historischen Filmdokumenten, kuriose Fußballgeschichten abseits des Spielfeldes, Booklet
Laufzeit 206 Minuten

Verlag Filmarchiv Austria