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John Cassavetes – Der menschliche Faktor

Der menschliche Faktor

| Jörg Schiffauer |

Das Filmmuseum widmet John Cassavetes, einem der wichtigsten Erneuerer des US-amerikanischen Kinos, eine Retrospektive.

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Am Ende von The Killing of a Chinese Bookie (1976) steht der Nachtclub-Besitzer Cosmo Vitelli einfach nur ein wenig verloren auf der Straße vor seinem Club. In der vergangenen Nacht hat er den Auftragsmord, den ihm das Syndikat des organisierten Verbrechens wegen seiner Spielschulden aufgezwungen hat, erledigt, dabei selbst eine Schussverletzung davongetragen, um schließlich der Liquidierung durch seine Auftraggeber nur knapp zu entgehen. Ob Cosmo seine Verletzung überlebt, doch noch den Gangstern in die Hände fällt oder ob er seinen geliebten Club behalten kann, bleibt weitgehend offen. Ein derartiger Schluss steht im krassen Gegensatz zu den Regeln, die das von Hollywoods erzählerischer Tradition geprägte amerikanische Kino dominieren – für das Werk von John Cassavetes jedoch ist eine derartige (Nicht)-Auflösung geradezu prototypisch, hat sich Cassavetes in seinen Regiearbeiten doch gängigen Produktions- und Rezeptionsmustern stets mit Vehemenz widersetzt.

Konsequenter Umbruch

Cassavetes, 1929 in New York geboren, begann seine Karriere als von Anfang an gut beschäftigter Schauspieler, und diese Wurzeln sollten die Arbeitsweise seiner Inszenierungen nachhaltig beeinflussen. Während eines Schauspiel-Workshops entstand die Grundidee zu seinem Regiedebüt Shadows (1959). Das lose Handlungsgerüst mit streckenweise improvisierten Dialogen und fast ausschließlich mit der Handkamera gefilmt, folgt drei afroamerikanischen Geschwistern durch die Beatnik- und Jazzszene New Yorks und beobachtet ihre ganz alltäglichen Erlebnisse. Mit seiner impressionistischen, episodenhaften Erzählweise widersprach Shadows auf fast allen Ebenen den Gepflogenheiten des klassischen Hollywoodkinos und verhalf Cassavetes sehr rasch zu seinem Status als einem der führenden Köpfe des New American Cinema. Nachdem der Versuch, innerhalb des Hollywood-Systems als Regisseur zu arbeiten, in einem nicht mehr als respektablen Scheitern in Form von Too Late Blues (1961) und A Child is Waiting (1963) endete, kehrte Cassavetes mit Faces (1968) zu der von ihm bevorzugten Independent-Produktion zurück. Faces erzählt von dem langsamen, aber unaufhaltsamen Auseinanderbrechen einer langjährigen Ehe, mit seiner mosaikartigen Struktur und einer visuellen Auflösung, die in die Nähe von Cinéma Verité gerückt wurde, entwickelte Cassavetes den formalen Stil von Shadows auf konsequente Art und Weise weiter. Wobei formale Gestaltung für Cassavetes (worauf er auch selbst immer wieder hinzuweisen pflegte) stets eine untergeordnete Rolle spielte, Priorität hatte die Präsentation der Charaktere sowie Zeit und Raum, den seine Schauspieler für die Entwicklung dieser Figuren benötigten. Wenn man es als eine Eigenschaft der klassischen Hollywood-Erzählung ansieht, dass innere Entwicklungen durch äußere, aktionsorientierte Ereignisse bloßgelegt werden, so steht das Kino von Cassavetes diesem Konzept diametral gegenüber: Immer ist der Fokus auf die handelnden Menschen selbst, auf ihre Hoffnungen, Ängste und Träume gerichtet, der Plot, in den die Akteure verwickelt werden, wirkt da zeitweilig wie eine Unterbrechung bei ihren Versuchen, zu sich selbst zu finden.

Cassavetes’ Inszenierungen folgen auch nicht der aus dem Mainstream-Kino gewohnten, meist geradlinig verlaufenden Dramaturgie, sie sind vielmehr Beobachtungen der Charaktere, dramatische, aber oft auch nur kleine, unspektakuläre Episoden, die sich erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammenfügen, das jedoch zumeist auch am Schluss ein wenig diffus bleibt. Cassavetes Auffassung von Wahrhaftigkeit erschließt sich in erster Linie aus der emotionalen Beschaffenheit seiner Charaktere, mit allen Ambivalenzen, die daraus resultieren. So unterschiedlich diese Charaktere an der Oberfläche zunächst auch sein mögen, ob es sich um Gangster, Versicherungsmakler, Bauarbeiter oder Hausfrauen handelt, gemeinsam ist allen die intensive, fast verzweifelte Suche nach Anerkennung, Liebe und Geborgenheit. Diese Suche nach dem ganz persönlichen Stück Glück, einem Platz der individuellen Freiheit und Verwirklichung mit all ihren Schwierigkeiten ist ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch die Filme Cassavetes’ zieht. Filme wie Husbands (1970), Minnie and Moskowitz (1971) oder Love Streams (1984) haben diese Suche formal nicht mehr ganz so radikal wie Faces erzählt, doch selbst solche Arbeiten repräsentieren den Cassavetes so eigenen Stil deutlich genug, um sich immer noch entscheidend von konventionellen Sehgewohnheiten abzugrenzen.

Leicht hatte es Cassavetes mit seinen Filmen nie. In der Filmkritik wechselten sich Lobeshymnen und grimmige Verrisse mit schöner Regelmäßigkeit ab (nicht selten waren die Reaktionen sogar zu den einzelnen Filmen selbst völlig konträr), ebenso unregelmäßig verlief der Zuspruch des Publikums. In Europa bereits weit früher als Filmemacher respektiert, gelang ihm sein größter kommerzieller Erfolg in den Vereinigten Staaten mit A Woman Under the Influence (1974), der schauspielerischen Tour de Force seiner Gattin Gena Rowlands in der Rolle einer psychisch labilen Frau, die nach einem Nervenzusammenbruch versucht, wieder zu ihrer Familie zurückzufinden. Zumeist musste Cassavetes jedoch um Finanzierung und den Verleih seiner Filme erbittert ringen, was in manchen Fällen zu jahrelangen Produktionszeiten führte. Glücklicherweise zählte der Regisseur aber zu den gefragtesten Schauspielern Hollywoods, der neben Engagements in qualitätsvollen Filmen wie Aldrichs The Dirty Dozen oder Polanskis Rosemary’s Baby auch Auftritte in Durchschnittsware (Two-Minute Warning) absolvierte, um mit diesen Gagen seine Regiearbeiten finanzieren zu können. Cassavetes machte nie ein Hehl daraus, dass er seine Hollywood-Karriere als Schauspieler in erster Linie als Finanzierungsmodell für seine eigenen Projekte ansah.

Erst spät wurde dem 1989 verstorbenen Cassavetes auch in den USA jene Anerkennung zuteil, die einem der wichtigsten Vertreter des US-amerikanischen Independent Kinos schon lange gebührt hätte. Auch wenn er sich selbst nie wirklich den Gruppierungen New Hollywoods mit deren Auteur-Theorie zugerechnet hat, weist sein Gesamtwerk genau die dort oft
postulierte Qualität auf: die individuelle Vision eines Regisseurs, der diese gegen alle Widerstände konsequent durchzusetzen weiß.